FILM-KONZEPTE 65 - Christian Petzold

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Aus der Reihe: FILM-KONZEPTE #65
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FILM-KONZEPTE 65 - Christian Petzold
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FILM-KONZEPTE

Begründet von Thomas Koebner

Herausgegeben von Kristina Köhler, Fabienne Liptay und Jörg Schweinitz

Heft 65 · Januar 2022

Christian Petzold

Herausgeber: Andreas Becker

Print ISBN 978-3-96707-641-7

E-ISBN 978-3-96707-644-8

Umschlaggestaltung: Thomas Scheer

Umschlagabbildung: © Christian Petzold: UNDINE (2020)

Soweit nicht anders angegeben, handelt es sich bei den Abbildungen aus den Filmen um Screenshots.

E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlages. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2022

Levelingstraße 6a, 81673 München

www.etk-muenchen.de

Inhalt

Andreas Becker Fragen, rätselhafte Ellipsen und filmische Enigmen. Zur Einführung

Iakovos Steinhauer Die Hörbarkeit des Transzendenten in den Filmen Christian Petzolds

Andreas Becker Schuld in Christian Petzolds WOLFSBURG

Jaimey Fisher Der geschlechtsspezifische Raumsinn bei Christian Petzold. UNDINE, CLEO DE 5 À 7 und Doreen Masseys Macht-Geometrien des relationalen Raums

Tetsuya Shibutani Die Untote in der Nachkriegslandschaft. Bemerkungen zu Christian Petzolds PHOENIX

Kayo Adachi-Rabe Film als Resonanzraum. JERICHOW und OSSESSIONE

Felix Lenz Männliche Melodramen. Christian Petzolds Beiträge zur POLIZEIRUF-110-Reihe: KREISE, WÖLFE und TATORTE

Biografie

Filmografie

Autor*innen

Andreas Becker

Fragen, rätselhafte Ellipsen und filmische Enigmen

Zur Einführung

Christian Petzolds Filme geben Fragen auf, sind diskursiv und bleiben auch nach wiederholter Betrachtung rätselhaft. Sie sind voller widerständiger Reste, motivierter Zufälle, Andeutungen, Absencen und Lücken. Die Ellipsen sind so umkreist, dass es scheint, man könne sie auflösen. Aber selbst globale Kontextualisierungsversuche,1 narratologische Ansätze,2 höchst elaborierte filmwissenschaftliche Interpretationen3 und komparative Studien machen die Signatur seiner Filme nur auf höherer Ebene enigmatisch. Der Regisseur nimmt in Form von zahlreichen, teilweise ganztägigen Interviews4 sogar selbst an diesem Deutungsprozess des eigenen Werks teil, erweitert so seine filmischen »Resonanzräume«5 in den Diskursraum hinein und »gibt Einblicke in einen offenkundig nie abgeschlossenen Prozess der Reflexion über das Filmemachen«6. Die gut ausgestatteten Pressehefte zu Petzolds Filmen fügen sich dem ein. Und so ist auch der vorliegende Band nur ein weiterer Versuch, die Rätselhaftigkeit näher zu bestimmen, sie anders zu fassen, ihr eine Perspektive zu verleihen und Fragen an dieses faszinierende Werk neu zu stellen.

Von Malern, Musikern und Literaten

In einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung sagte Petzold: »Alexander Horwath hat einmal die Filmemacher eingeteilt in Maler, Musiker und Literaten, und ich hatte gehofft, ich sei ein Musiker, aber er sagte: ›Nein, du bist ein Literat.‹ Und es stimmt, für mich ist die Erzählung wichtig, auch wenn sie nur noch in Bruchstücken vorhanden ist. Ich glaube, man braucht eine Erzählung als mögliche Ordnung, die für einen Moment Schutz bieten kann.«7

Dass Petzold ein literarischer Filmemacher ist, lässt sich leicht belegen. Das detailliert ausgearbeitete Drehbuch, oft von der Literatur inspiriert oder adaptiert, steht am Beginn seiner Arbeiten. Hieraus erweitert sich das Ausdrucksspektrum dann über das Filmteam und die Dreharbeit hin. Eine verbale Signatur und das Wort tragen immer die Petzold’sche Erzählordnung, so wenig auch gesprochen werden mag, selbst im Schweigen.8 Immer wieder zeigt Petzold Menschen, die einen Moment still sitzen, äußerlich nichts sprechen. Dann aber enträtseln wir Zuschauer, was die Figuren wohl denken mögen. Sprache ist überall, ob innen oder außen.

Dazu kommt dann Stefan Wills reduziertes und dem Geräusch angenähertes musikalisches Hintergrundgewebe, Bettina Böhlers sperrige Montage mit kleinsten Anschlusssprüngen, die das Architektonische fortsetzende und an Yasujirō Ozus Filme und dessen Kameramann Yūharu Atsuta erinnernde Kamera Hans Fromms und natürlich das Schauspiel Paula Beers, Franz Rogowskis und vieler anderer, das mit seinen Gesten häufig den Worten widerstreitet oder sie zumindest in die Schwebe bringt. Dieses ästhetische Ensemble schmiegt sich mal an die verbale Schicht an, entfernt sich aber auch von ihr, auf andere Weise erzählend. Manchmal wird in den Erzählordnungen eine elementare Wahrheit behauptet, die dann aber auf der gestisch-schauspielerischen Ebene revidiert wird. Als Lösung motiviert Petzold, wie schon Alfred Hitchcock und Ingmar Bergman, einen angedeuteten, seelischen Innenraum. Aber gerade dieses Changieren ist es, das uns eine regelrechte Deutungshandlung erzeugen lässt, selbst wenn oberflächlich kaum etwas geschieht. In dieser Hinsicht steigert Petzold, der Kriminalliteratur sehr mag, dieses kriminalistische Moment auf den Alltag hin, verabsolutiert es. Bei Petzold geht es nicht mehr darum, wer der Täter ist, sondern darum, was passiert ist. Das vermeintlich Faktische steht in Frage.

Das filmische Medium bei Petzold hat etwas ›Laokoonhaftes‹, ganz im Sinne Lessings. In ihm können sich die diversen Ästhetiken und Traditionen der Malerei, der Architektur, des Theaters, der Belletristik, Musik und Lyrik wechselseitig medial bespiegeln und einander vertreten. Petzold deutet diese ästhetischen Traditionen aber nur an und setzt sie andeutend voraus. Er erkundet sie als ein Moderner, distanziert, zitierend. Wenn BARBARA (2012) mit dem Fahrrad in das Wäldchen fährt, ist im Wehen des Laubes gleichsam Michelangelo Antonionis BLOW UP (1966) wie die romantische Malerei und Siegfried Kracauers Bild »der im Winde sich regenden Blätter«9 mit assoziiert. Die Erzählhandlung also spiegelt sich regelrecht in der filmisch-visuell-akustischen Ordnung mit ihren angedeuteten Synästhesien und liefert ihre Referenzen mit. Auch wer diese Bezüge nicht kennt, kann Petzolds Filme genießen.

Petzold dreht nur wenige Takes, das entlastet die Schauspieler, führt zur Planbarkeit der Dreharbeiten. Seine Aufnahmen wirken dadurch aber auch viel frischer, behalten ein dokumentarisches Surplus, die Schauspieler werden nicht ›verbraucht‹.

Man erkennt einen Film von Christian Petzold auf den ersten Blick an seiner Sachlichkeit. Es gibt keine der von den Streaming-Serien gewohnten suggestiven kinematografischen Effekte, wie etwa spektakuläre Kamerafahrten, keine bombastischen Sounds, keine überpointierte Lichtsetzung und auch nur eine sehr begrenzte und oftmals semiotisch gesetzte Spannungsdramaturgie. Alles ist sehr zurückgenommen, am Alltag entlang, meistens chronologisch erzählt (mit experimentellen Flashbacks als Ausnahmen), und dadurch werden die Zuschauenden ernst genommen. Karl Prümm bringt das sehr pointiert auf die Formel, dass Petzold von Innen schaue und von Außen blicke.10 Dabei weisen seine Arbeiten, nicht nur durch das Team, sondern auch inhaltlich und erzählerisch, einen Ensemble-Charakter auf. Wie bei Ozu schlüpfen die Charaktere von Film zu Film, wiederholen und variieren sich Motive, so dass man von einem Petzold-Film sprechen könnte, der nur viele Titel hat, ein Lebenswerk. Folgen wir zunächst den Motiven Petzolds und kommen dann auf narratologische Eigenarten und Besonderheiten zu sprechen.

Motive und Narrative
Liebe in Zeiten der Umbrüche

Das leitende Motiv, man möchte eher sagen Narrativ, in allen Filmen Petzolds ist das der Liebe und ihrer Gestalten. In CUBA LIBRE (1996) und BEISCHLAFDIEBIN (1998) ist es eine vorgetäuschte, ökonomisch verzerrte oder instrumentalisierte Liebe. Das Terroristenpärchen in DIE INNERE SICHERHEIT (2000) ist konservativ in der Beziehung zueinander, bei allen angedeuteten, vermeintlich revolutionären Ausbruchsversuchen. In TOTER MANN (2001) wird Liebe wiederum simuliert, um Rache zu nehmen am Peiniger, wobei Leyla (Nina Hoss) von diesem Spiel und ihren Leidenschaften infiziert wird, was sie sympathisch macht. Und Blum (Sven Pippig) trinkt das Gift ganz bewusst aus.11 GESPENSTER (2005) und YELLA (2007) handeln von einer Sehnsucht nach Liebe und deren Komplizenhaftigkeit. Auch in Petzolds Folge von DREILEBEN – ETWAS BESSERES ALS DEN TOD (2011) steht die Liebe zwischen Johannes (Jacob Matschenz) und Ana (Luna Mijović) im Vordergrund – und deren Scheitern an den Klassen, ganz ähnlich in JERICHOW (2008). In BARBARA, PHOENIX (2014) und TRANSIT (2018) interferiert die Staatlichkeit mit dem einfachsten Anspruch der Liebe. In den drei POLIZEIRUF-110-Filmen (2015–2018) doppelt sich die gebrochene Zuneigung von Kommissar Meuffels (Matthias Brandt) und Constanze Herrmann (Barbara Auer) mit der triebhaften und destruktiv gewendeten Liebe der Täter. Das mythologische Wesen der UNDINE (2020) durchwirkt den Alltagsraum und macht aus diesem eine mythopoetische Kippfigur.12 Immer bricht Petzold das Spiel der Liebe, indem er Konkurrenzfiguren und (meistens männliche) (Ex-) Partner einflicht, so die Figur des Ben (Hinnerk Schönemann) in YELLA und des Thomas (Benno Fürmann) in JERICHOW. Die innere Loslösung scheint viel schwieriger und mehr Katastrophenpotenzial zu bergen als manch äußerer Konflikt. Es sind kopernikanische Planetensysteme der Liebe mit je eigenen Melodien.

 

DREILEBEN. Intimität, die sich physiognomisch zeigt: Johannes und Ana sind ineinander verliebt

Filme wie WOLFSBURG (2003) und PHOENIX lassen die Liebe unter Vorzeichen des Nicht-Erkennens sich wie in einer Versuchsanordnung neu erleben. Es ist, als ob die Realität die Prämissen neu mische und sich der Alltag in einem narrativen Spin neu ausrichte. Es mag unrealistisch sein, dass Johnny Lenz (Ronald Zehrfeld) in PHOENIX seine Ex-Frau nicht erkennt, und genauso unrealistisch mag es sein, dass Laura (Nina Hoss) in WOLFSBURG so lange braucht, um den flüchtenden Fahrer zu identifizieren. Aber in diesen Peripetien liegt eine antike Erzählhaltung, eine Orakelhaftigkeit und in ihrer Wiederholung eine eigentümlich beschwörende Dimension, die wir von Sophokles’ Ödipus her kennen und die nun (manchmal spielerisch) auf den Alltag angewandt wird. Durch diese Art von Durchgeistigung führt uns Petzold weg von dem, was passiert, hin zu dem Potenzial der Realität, zu probabilistischen Schachtelungen, Gedankenspielen, die sich manifestieren könnten. Dadurch wird auf eine feinsinnige Weise neu austariert, was für sicher geglaubt wurde. Dass wir zu wissen vermeinen, was einer über den anderen denkt und fühlt, steht plötzlich in Frage. Das Bild lernt bei Petzold so den Konjunktiv. Es entstehen Alltagsreben, Vorahnungen, Indizien, die uns die Physiognomien und Handlungen neu lesen lassen.

Gespensterhaftigkeit

»Gespenster und Halbwesen bevölkern alle Filme von Christian Petzold«13, heißt es bei Prümm, das »Reale gewinnt phantastische, das Phantastische reale Konturen«14. Petzold spricht auch selbst über seine ›Gespensterfilme‹, so etwa im Bonusmaterial der TRANSIT-DVD: »Und dieser Kampf von Menschen, die auf der Kippe sind, die im Begriff sind, Gespenster zu werden und sich dagegen zur Wehr setzen, das ist das, was ich ›Gespensterfilme‹ nenne. Ich will nicht arbeitslos werden, ich will nicht von der Frau oder von dem Mann verlassen werden, ich kämpfe um meine Liebe, ich kämpfe um das Geld, um meinen Status, um meine Identität, weil wenn ich das nicht bekomme, dann bin ich tot. Dann löse ich mich auf. Deshalb hat das Kino immer etwas mit Werden und Kämpfen und Arbeit zu tun und nicht mit Zuständen.«15

Es fiele sehr leicht, C. G. Jungs Konzept der Synchronizität16 bei Petzold zu finden, ebenso die Weise, wie der Realraum spirituell aufgeladen wird, durch einfachste Techniken, Geräusche, unvorhersehbare Handlungen etc. Wir kennen dieses Kippen aus Ingmar Bergmans späten Filmen, in denen ebenso Traum und Wachwelt ununterscheidbar werden. Tetsuya Shibutani hat dieses faszinierende Feld in seinem Beitrag »Die Untote in der Nachkriegslandschaft. Bemerkungen zu Christian Petzolds PHOENIX« in den Blick genommen und in dem vorliegenden Band mit Rainer Werner Fassbinders Filmen in Bezug gesetzt.

Gespensterhaftigkeit bei Petzold meint weniger die Welt der Toten als die mediale Welt der Überwachungskameras und Suchbilder, die in den Realraum driften und diesen nachhaltig verändern. Die Menschen in der Gegenwart werden gespenstisch, wollen aber physisch bleiben. Wo andere, etwa der späte Ozu oder Kiyoshi Kurosawa, die Gespenster vom Jenseitigen her fassen, als Wiedergänger der Toten, wie sie überhaupt in der japanischen Kultur zum Alltag gehören, deutet Petzold diese aus dem Hier-und-Jetzt kommend an. Nina (Julia Hummer) in GESPENSTER wird zu demselben, weil sie das nicht hat, was der Staat als Identität definiert, ein Bild ihrer Herkunft. Oftmals tauchen die Figuren regelrecht aus dem Nichts auf, etwa Thomas in JERICHOW, oder sie scheinen, wie UNDINE, über übersinnliche Fähigkeiten zu verfügen, die von den Bild- und Vorstellungsräumen ausgehend mit der Realität interferieren. Petzold projiziert hier einen Diskurs, der dem Kino, dem ›Geisterbild‹, von Beginn an mitläuft, intradiegetisch. Der Zivildienstleistende Johannes erwacht zu Beginn von DREILEBEN – ETWAS BESSERES ALS DEN TOD vor den Überwachungsmonitoren des Provinzkrankenhauses, wie YELLA, in eine alptraumhafte Realität mit einem »gespenstischen Klanggefüge«17 hinein. Außer durch die schemenhaften Bilder Angst zu erzeugen, scheint die Kontrollstation im Krankenhaus ihre eigentliche Aufgabe gerade zu verfehlen, denn der Sexualstraftäter entflieht ungesehen. Johannes lässt Molesch (Stefan Kurt) aus dem Trauerraum des Krankenhauses entkommen, aus Unachtsamkeit, ohne es zu bemerken (und auch ohne zu bereuen, was er da tat, vielleicht erklärt das das irritierende Ende). An der Schaltstelle der visuellen Kontrolle verfolgt er lieber seine Ex-Freundin Sarah (Vijessna Ferkic) per Video. Petzold löst das hier angedeutete Voyeur-Motiv aber zugleich auf. Weniger sieht als fantasiert Johannes sie im groben Raster der Bildpunkte – wie wir als Zuschauer. Und diese Deutung weiterführend zeigt Kameramann Hans Fromm die nächsten Ansichten des Krankenhauses wie zuvor die Monitor-Schaltung. Überwachung scheint mehr als ein Reflex, eine Weise, die Realität konform aufzufassen, sich ihren Hierarchien vorauseilend zu ergeben, denn als ein Weg, Sicherheit zu verleihen. Gespensterhaftigkeit wird bei Petzold zu einer Wahrnehmungsform des Selbst. Ein observativer Imperativ, handle stets so, als würdest du technisch beobachtet, scheint dem parallel zu laufen. Kontrolle und Gespensterhaftigkeit gehen bei Petzold Hand in Hand. Die Fehler, die da geschehen, machen bei aller Tragik Hoffnung.

Geschundene Körper. Sexualität und Scham. Frau und Mann

Wenn diese ungewollte Ablösung vom Leib in der Gespensterhaftigkeit nicht geschieht, kein Zwischenraum entsteht, so wird der Körper geschunden, meistens aus Preis des Eigensinns, aufgrund der Unangepasstheit malträtiert, oftmals auch autoaggressiv, vor allem die Körper der Frauenfiguren. Besonders deutlich wird dies bei YELLA. Hier ist die Last der Arbeitssuche in Form von Augenringen Nina Hoss bereits ins Gesicht geschminkt. Ihr Name wird regelrecht zum Fluch, weil er nur vom Stalker Ben aufgerufen werden muss, um Angst auszulösen. YELLA hat die Dramaturgie eines in die Realität hineinwuchernden Jump-and-Run-Videospiels, das der Protagonistin zusetzt, weil sie es als leiblichmaterielles Wesen nicht bestehen kann. Sie hat kein psychisches Problem, sondern die gestörte Wahrnehmung gehört zum Alltag einer Buchhalterin in Zeiten der Private-Equity-Unternehmen. Großartig ist die Szene, in der der frühere Chef ihr hinter einem Busch, aus dem Versteck, hervorwinkt, weil er sie bitten muss, Geld aus dem gepfändeten Büro zu entwenden. Ist es bei den Frauen der krankhaft werdende, zerfallende, operierte und sich nicht fügende Körper, so bei den Männern das Stigma. Es kann, wie in TOTER MANN, das Stigma der Fettleibigkeit sein, wie in JERICHOW das des sichtbaren Fremden, bei POLIZEIRUF 110: WÖLFE (2016) das der Lippen-Kiefer-Gaumenspalte oder des lädierten Körpers in UNDINE. Wer aufrichtig ist und ohne Makel, wie Dr. Gunthen (Burghart Klaußner) in YELLA, nimmt sich das Leben.

In vielen deutschen Filmen, gerade in Fernsehfilmen, überspielen die Figuren ihre Misere. Sie lächeln, weil man es von ihnen verlangt, ungeachtet der Situation, in der sie stehen. Die dargestellten Figuren sind insofern schon Schauspieler ihrer selbst, bis der Konflikt ausbricht. Bei Petzold ist das anders. Nina Hoss lächelt auch zu Beginn von BARBARA nicht aus Höflichkeit. Dass sie sich nicht anpassen will, ist gesetzt und macht ihre Gestik zu einer Gratwanderung. Ihre Unangepasstheit zeigt sich nicht in den großen Gesten oder dem Protest, sondern in habituellen Miniaturen und Mikrogesten, in ihrer Intellektualität, die alles kontrolliert. Dadurch stockt auch die Erzähldynamik. Denn jeder gestische Ausdruck intendiert wie bei einem versierten Schachspiel einen Gegenzug bereits als Potenzial. Petzold setzt da an, wo andere aufhören, und inszeniert dieses Spiel der libidinösen Kontrolle achtungsvoll.

Ausgiebig widmen sich seine Filme auch der Frage, wie wenig die weibliche Emanzipation in die unteren Schichten diffundiert. Dass sie dort, bei dem Zulieferer für Döner-Buden und der Servicekraft im Supermarkt, bei dem Waisenmädchen, das im Heim lebt, und dem Zimmermädchen im Hotel sich ganz anders (nämlich gar nicht) äußert und von anderen ökonomischen wie gesellschaftlichen Machtfaktoren überlagert wird, zeigt Petzold ganz direkt. Eine Untersuchung der Gender-Perspektiven bei Petzold wäre so lohnenswert wie aufwendig. Klar ist, dass in diesen Filmen die Mainstream-Blickformen weder übernommen noch provokative Gegenbilder dazu geschaffen werden. Petzold verschiebt männliche und weibliche Perspektiven, verkehrt sie manchmal, doppelt und bricht sie. In einem Interview heißt es: »Die Wünsche von Frauen sind andere als meine, und das war für mich interessant. Sie reden anders miteinander, mit einer anderen Sinnlichkeit. Ich kann mich nicht komplett hineinversetzen. Ich kann zuhören, empathisch sein, aber ich kann nicht identifikatorisch sein.«18 Vielleicht ist es aber genau diese Emphase, beide Geschlechter verstehen zu wollen, die Petzolds Filme so attraktiv macht.19

In vielen Beispielen sind es die feinen Unterschiede, die sich in der Schicht-Zugehörigkeit äußern und die einer Liebe im Weg stehen. Johannes und das bosnische Zimmermädchen Ana leben ihre Lust aus. Sie haben aber gegenüber dem listigen Dr. Dreier (Rainer Bock), der ihn wieder mit der Ex-Freundin Sarah verkuppeln will, keine Chance. Es genügt eine Einladung zur Geburtstagsparty im Golf-Club, damit es zu einem Streit zwischen Ana und Johannes kommt.

Ana: Komm, wir müssen da hin!

Johannes: Nein, das ist doch peinlich.

Ana: Was ist peinlich?

Johannes: Na, alles. Die mit ihren blöden Gönnerposen, das kotzt mich an.

Ana: Bin ich peinlich?

Johannes: Wie kommst du denn jetzt darauf?

Ana: Dann lass’ uns dahin gehen. Wir machen uns schön und wir werden Spaß haben.

Johannes: Nein!

Ana: Bin ich dir peinlich?

Johannes: Nein.

Ana: Johannes, bin ich dir peinlich?

Johannes: Nein!

Ana: Doch!

Später auf der Party wird der Streit tatsächlich eskalieren, aber bereits hier zeigt Petzold, dass aus einer Vorahnung ein Konflikt entsteht. Letztlich ist die Scham davor, den Ansprüchen und Erwartungen der gesellschaftlichen Schicht nicht zu entsprechen, der Auslöser des Konflikts wie das Band, das Johannes und Sarah zusammenschweißt.20 Ana weiß nicht, wovor sich Johannes fremdschämt oder welches erwartete Verhalten sie nicht aufführen kann. Was Petzold hier zeigt, ist Responsivität bzw. sind responsive Konfliktfelder. Wie immer lässt sich Scham schwerlich diskursivieren. Die Romeo-und-Julia-Geschichte wirkt so glaubhaft, weil Petzold sich Zeit nimmt und den jungen Schauspielern vertraut. Die Körperlichkeit und das sinnliche Ausleben der Sexualität mit Ana (das vor allem in Hochhäuslers DREILEBEN-Folge kurz angedeutet wird) ist durch den Konflikt gegenüber der bürgerlichen Mittelschicht, aus der Johannes kommt, belegt. Die Montage deutet das in den Kussszenen an, indem sie den Bildraum spiegelbildlich zweiteilt, anstatt die identifikatorische Sicht einzunehmen.21