Empörung, Revolte, Emotion

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Aus der Reihe: edition lendemains #50
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Empörung, Revolte, Emotion
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Oliver Baisez / Pierre-Yves Modicom / Bénédicte Terrisse

Empörung, Revolte, Emotion

Emotionsforschung aus der Perspektive der German Studies

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Umschlagabbildung: Käthe Kollwitz, Losbruch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

DOI: 10.24053/9783823394921

© 2022 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

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E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

ISSN 1861-3934

ISBN 978-3-8233-9492-1 (Print)

ISBN 978-3-8233-0298-8 (ePub)

Inhaltsverzeichnis

 Revolte, Empörung, Emotion. Emotionsforschung aus der Perspektive der German StudiesEinführung1 Revolte, Empörung und Emotion in der neueren geisteswissenschaftlichen Forschung2 Emotionen und Empörung als Gegenstand der Sprachwissenschaft3 Emotionen und Geschichte4 Literaturwissenschaft: Empörung, Revolte, Emotion5 Literaturangaben

 1. Emotionen und Empörung als Gegenstand der SprachwissenschaftEmotionen in expressiven Sprechakten: Das Beispiel des Dankens1 Einleitung2 Was drücken expressive Sprechakte aus?3 Expressive Sprechakte im Spannungsfeld zwischen Intention und Konvention4 Konventionalisierte Emotionen: Der Fall der Dankbarkeit5 Fazit6 BibliographieAufforderung und Emotion im DaF-Unterricht aus pragmatischer und didaktischer Sicht1 Einleitung2 Aufforderung und Emotion3 Einblick in einige Aufforderungsvarianten4 Überlegungen zu einer Didaktik der Aufforderung5 Emotionen, (Auf-)Forderungen und Studierende in der Corona-Krise6 Fazit und Ausblick7 Quellen„Das ist doch alles Bullshit, du Troll!“1 Einleitung2 Unwahre Sprechakte3 Emotionalisierung durch Unwahrheiten4 Zusammenfassung: Sprechakttheoretische Definitionen5 BibliographieEinschränkende Faktoren zum Emotionsausdruck in offiziellen KorrespondenzenEinleitung1 Begriffsbestimmung2 Emotionen im Sprachgebrauch3 Zwingende Faktoren bei Emotionsausdruck in öffentlichen Korrespondenzen4 Positionierung in der Korrespondenz5 Beispielfall zweier emotions- und positionierungsgeprägter offizieller Korrespondenzen6 Schluss7 LiteraturWarum Superstaus nicht super und Biowaffen nicht bio sind: Empirische Untersuchungen zum Wandel vom gebundenen Morphem zum freien, expressiven Wort1 Einleitung2 Hintergrund3 Morphologischer Wandel – Ja oder Nein?4 Semantischer Wandel5 Fazit und Ausblick6 Bibliografie

 2. Emotionen und GeschichteEmotionen in der Techno-SzeneEinführungDas Berghain als emotionale GemeinschaftResist-danceRebellion der RaverLiteraturFehlende oder verdächtige Emotionen?„Emotionen“ bei den SPD-Bundestagsabgeordneten. BegrifflichkeitenEmotionen in der Bundesrepublik: die Karriere eines negativ konnotierten BegriffesEmotionen und GenerationalitätSPD-Bundestagsabgeordnete und die „Emotionen“ der Studenten: eine homogene Gesinnungsgemeinschaft?Emotionen und Technokratisierung des parlamentarischen Betriebs in der SPD-BundestagsfraktionKurzfristige Emotionen und langfristige ParlamentsarbeitWie repräsentativ war die SPD-Bundestagsfraktion im Parlament?SchlussBibliografie„Camarade déporté, revêts ta tenue de bagnard et parcours le pays!“Der Kampf für den Frieden (1949–1953)Der Kampf gegen die „deutsche Wiederbewaffnung“ (1950–1955)Der Kampf gegen Hans Speidel (1957)Der Kampf gegen Manöver der Bundeswehr in Frankreich (1960–1961)FazitBibliografie„Sieg der Frechheit“: der Eingang von Affekten in die Sozialwissenschaften als empörte Abwehr gegen die Hegemonie der instrumentellen Vernunft1 Einleitung2 Zum historischen Hintergrund der Opposition der deutschen Rechtsphilosophie zu einem als westlich empfundenen Rationalismus: der Moment Savigny3 “Der Zweck im Recht.” Die Widerlegung des Utilitarismus Rudolf von Jherings als Ausgangspunkt von Tönnies’ Rechtsphilosophie4 Die Beleuchtung der Spannung zwischen aufgeklärtem Individualismus und stillschweigenden kollektiven Normen aus den Lebenserfahrungen von TönniesBibliografieZorn im mittelalterlichen deutschsprachigen Sündendiskurs des 14. und 15. Jahrhunderts1 Einführung: Zugriffe auf ‚Zorn im Mittelalter‘2 ‚Zorn‘ im mittelhochdeutschen Bihte buoch3 ‚Zorn‘ in den rheinfränkisch-lothringischen Übersetzungsfassungen der Pilgerfahrt des träumenden Mönchs4 Fazit5 Bibliografie

 3. Empörung, Revolte, Emotion in der LiteraturwissenschaftEnites Emotionen in Hartmanns Roman ErecEinleitung1 Enites Emotionen2. Die Leidenschaft als AskeseLiteratur„Aber der Zorn stellt die Welt bloß.“Ein „gesteigertes Realitätsbewusstsein“?Zwischen Ohnmacht und entfesselten KräftenPolemisches/politisches Denken?SchlussbemerkungenBibliografie„Weil ich so ganz vorzüglich blitze / Glaubt ihr, daß ich nicht donnern könnt!“1 Der verbissene Zorn der Ausgebeuteten2 Gewaltphantasien gegen die Restauration in Deutschland. Ein Wintermärchen3 Heines Selbstdarstellungen als zorniger politischer Dichter in den „Zeitgedichten“BibliografieTrauer, Wut, Empörung, Hass: zu deutschen Afrika-Reisebüchern der ZwischenkriegszeitWehmut und Nostalgie – Die verlorene SpracheTrauer und Hoffnungslosigkeit – Das sterbende AfrikaLiebe und Treue – ‚Unserer Neger‘Hass und Schande – Die koloniale ‚Schuldlüge‘Ehre und Leidenschaft – Handlungsmotor EmotionBibliografie

Revolte, Empörung, Emotion. Emotionsforschung aus der Perspektive der German Studies
Einführung1

Olivier Baisez, Pierre-Yves Modicom, Bénédicte Terrisse

1 Revolte, Empörung und Emotion in der neueren geisteswissenschaftlichen Forschung

Seit einigen Jahren kommt die geisteswissenschaftliche Emotionsforschung wieder in Schwung: Neben den traditionellen, immer noch aktuellen Herangehensweisen der Kulturgeschichte, der Anthropologie, der praktischen Philosophie, der Psychologie, der literarischen Rezeptionstheorie und der Rhetorik haben sich neue Herangehensweisen entwickelt, die einerseits das Erbe der poststrukturalistischen Kulturforschung antreten, und sich andererseits auf die neuen Erkenntnisse der kognitiven Psychologie berufen, die unser Verständnis von Emotionen verändern. Für Brian Massumi (1995) ist Affektforschung die Chiffre zu einer neuen allgemeinen Theorie der Semiotik und der gesellschaftlichen Kommunikation überhaupt. Wie umstritten die Parole der „emotionalen Wende“ der Geisteswissenschaften auch ist (s. Leys 2011 für eine grundlegende Kritik), sie hat dennoch zur Entstehung einer neuen Reihe von Forschungen über Gefühle und Emotionen wesentlich beigetragen (für einen Überblick, s. etwa Greco & Stenner 2008 oder Lemmings & Brooks 2014). Ob in der Sprachwissenschaft, in der Literaturwissenschaft oder auch in der kulturellen, intellektuellen, politischen und sozialen Geschichte: Das erneute Interesse für Emotionen stellt die Forschung vor die Wahl, die neuen Ansätze mit traditionellen Paradigmen des Einzelfachs zu kombinieren, oder sich von diesen traditionellen disziplinären Mustern abzugrenzen.

Die intrinsisch interdisziplinäre Herangehensweise der Emotion Studies stößt zudem auf die bestehende disziplinäre Vielfalt der kulturwissenschaftlichen und neuphilologischen Ansätze im Bereich der Germanistik – ob man diese als Einzelbereich der Areal Studies betrachtet, oder auf dem Fokus auf diskursives bzw. philologisches Material besteht. Die mutmaßliche „emotionale Wende“ gestaltet sich also unterschiedlich in der Germanistik, als in einem Einzelfach wie etwa Ethik oder der vergleichenden Literaturwissenschaft. Dies gilt insbesondere für die nationalen Traditionen der Germanistik, die sich seit Längerem mit geschichtlichen, soziologischen und anthropologischen Fragestellungen auseinandersetzen. Dazu zählt die französische Germanistik.

 

Auf Betreiben des französischen Verbandes für Hochschulgermanistik (Association des Germanistes de l’Enseignement Supérieur, AGES) wurden 2019 die Germanistinnen und Germanisten weltweit dazu eingeladen, sich mit den Herausforderungen der Emotionsforschung auseinanderzusetzen. In freundlicher internationaler Zusammenarbeit mit der Universität des Saarlandes und besonders mit Prof. Dr. Nine Miedema war ursprünglich eine internationale und interdisziplinäre Tagung für 2020 in Saarbrücken geplant. Die – emotionsreichen – coronabedingten Wechselfälle der folgenden Monate haben es anders entschieden. Es wurde dennoch beschlossen, die Weichen für weitere Gespräche und Forschungen zu stellen, indem eine Auswahl aus den geplanten Beiträgen herausgebracht und veröffentlicht werden sollten.

Um trotz der Vielfalt der untersuchten Emotionen einen Leitfaden zu behalten, wird ein bestimmter Emotionskomplex besonders berücksichtigt: Zorn und Empörung. Empörung wird hier als individueller und als kollektiver Affekt definiert. Diese Emotion ist nicht nur ein Gefühl, sondern auch ein Ereignis, das im Phänomen der individuellen und kollektiven Revolte gipfeln kann. Empörung und Revolte wurden schon von den traditionellen Herangehensweisen der Emotionsforschung gründlich behandelt und eignen sich daher für den gewünschten Dialog gut. Das Spannungsverhältnis zwischen Behauptung und Zerstörung (bzw. Positivität und Negativität) bei Empörung und Revolte gibt zumindest Anlass zur Besprechung von zwei Grundthemen der Affekttheorie Massumi’scher Prägung: den komplexen Verbindungen zwischen persönlichen Werturteilen und emotionaler Intensität, und dem Verhältnis zwischen Emotionen und der „Virtualität“, d.h. der Menge aufkeimender, emergierender und unvollkommener Entwicklungen, durch welche die „Futurität“ in der Gegenwart verankert aber auch teilweise gefangen ist.

Gesammelt werden Beiträge aus historischer, geistesgeschichtlicher, literarischer und linguistischer Perspektive zu den Phänomenen Revolte – Empörung – Emotion im deutschsprachigen Raum. Zu den rekurrierenden Motiven der Beiträge gehören die Sozialgeschichte der Empörung, die kulturellen und diskursiven Aspekte von Revolte, die literarische Behandlung von Revolte, Empörung und benachbarten Emotionen sowie die Rhetorik der Empörung und die Rolle von Empörung und Emotionen in der Sprachtätigkeit selber.

2 Emotionen und Empörung als Gegenstand der Sprachwissenschaft

Diskursiv lassen sich Emotionen, und vor allem Empörung, als Haltungen der Sprecher:innen bezüglich vorgestellter Sachverhalte fassen. In diesem Sammelband wird aber auch Empörung als Ereignis begriffen, das über eine auszudrückende innerliche Haltung hinausgeht: Empörung kann auch dieser Ausdruck selbst sein, oder die Reaktion darauf. Emotionen sind daher ein wichtiger theoretischer Gegenstand für die Sprechakttheorie. Welche Regelmäßigkeiten treten in diesen Interaktionen zutage, die die Grice’schen Kooperationsmaximen (vor allem die „Modalitätsmaxime“) oft missachten? Was ist das Zusammenspiel zwischen Emotionalität und illokutiver Kraft? Die Grundsprechakte, die von Searle (1969) definiert worden sind, beinhalten entweder keine intrinsischen emotionalen Komponenten (Aussage, Frage, Befehl), oder werden sehr allgemein als emotional definiert (Exklamation, in vielen Hinsichten ein Stiefkind der klassischen Sprechakttheorie, s. Danon-Boileau & Morel 1995, Krause & Ruge 2004, d’Avis 2016, Larrory-Wunder 2016). Die neuere Sprechaktforschung liefert aber ein differenzierteres Bild, die auf eine feinkörnigere Beschreibung der emotionalen Merkmale verschiedener Illokutionssorten hoffen lässt, auch in formaler Hinsicht: Mehrere formale Ansätze versuchen jetzt, die Semantik und Pragmatik der Empörung und der Emotion modellieren (Potts 2007, Gutzmann 2015). Wahrheits- und gebrauchskonditionale Semantik werden miteinander artikuliert, um die Glückensbedingungen (felicity conditions) emotionaler und insbesondere empörerischer Sprechakte zu bestimmen. Eine wichtige Frage dabei ist, wie sich die emotionalen, empörerischen Illokutionen in die Landschaft der Sprechakte verorten lassen. Gibt es eigene emotionale Sprechakte, oder soll man eher Emotion, etwa Empörung, als eine zusätzliche illokutionäre bzw. expressive Verfärbung basaler Sprechaktsorten verstehen? Oder soll der Expressivitätsbegriff kritischer betrachtet werden (Blakemore 2015)?

Diese Frage wird in den ersten zwei Beiträgen des Bandes erörtert. In ihrem Beitrag „Emotionen in expressiven Sprechakten. Das Beispiel des Dankens“ nimmt Urszula Topczewska diese Frage nach dem Platz der Expressivität in der Sprechakttheorie zum Ausgangspunkt. Die Vermittlung von Emotionen durch Sprechakte lässt sich nicht auf eine pauschale Ausdrucksfunktion reduzieren und inkludiert immer eine teilweise diskursive Herausbildung der Emotion durch den Sprechakt selbst. Sie unterliegt somit den sozialen Konventionen, die dem Rückgriff auf spezialisierte Untertypen von Sprechakten entsprechen. Diese theoretischen Stellungnahmen werden anschließend am Beispiel der emotionalen Bestimmungen des Sprechaktes „Danken“ veranschaulicht. Auch der Beitrag von Anne-Kathrin Minn und Nathalie Schnitzer, „Aufforderung und Emotion im DaF-Unterricht aus pragmatischer und didaktischer Sicht“, befasst sich mit diesem Themenbereich der Emotionsvermittlung innerhalb von konventionalisierten Illokutionen. Diesmal geht es um die Aufforderung als Illokution (eher als um den Imperativsatz als Satzmodus). Berücksichtigt wird das Spannungsfeld von Emotionalität und (Auf)forderung am Beispiel von Äußerungen aus dem Umfeld der Corona-Pandemie. Dieser Beitrag kennzeichnet sich auch durch eine didaktische Perspektive aus der Sicht des Deutschen als Fremdsprache: Veranschaulicht wird die Aneignung pragmatischer Strategien durch fortgeschrittene Sprachlernende anhand von fünf praktischen Aufgaben.

Nach dieser Standortbestimmung rückt Empörung durch den Beitrag von Daniel Gutzmann und Katharina Turgay in den Vordergrund. Unter dem Titel „Das ist doch alles Bullshit, du Troll! Eine sprechakttheoretische Betrachtung von Unwahrheit und Emotionalisierung in den sozialen Medien“ befassen sie sich mit unwahren Assertionen, die auf Empörung abzielen („Trolling“, „Bullshit“, s. Stefanowitsch 2020). Unter Berücksichtigung der neueren theoretischen Forschung zur Lüge (s. u.a. Meibauer 2015) versuchen Sie, solche Wortmeldungen sprechakttheoretisch zu verorten, und von anderen konventionalisierten Illokutionstypen abzugrenzen.

Sprechakttheorie erschöpft aber das Feld der pragmatischen Emotionsforschung nicht. Auch die interaktive Dimension emotionaler Diskurse soll auch in Betracht gezogen worden, sowohl in mündlichen als auch in schriftlichen Interaktionen: Wie laufen footing- und face-taking-Strategien in emotionbeladenen Kontexten (Brown & Levinson 1987)? Welche sprachlichen Phänomene kann die korpusbasierte Erforschung emotionaler Diskurse an den Tag legen? Werden Emotionen vermittelt oder verheimlicht, je nach den Requisiten einer bestimmten Tradition? Und wie? Erste Angaben sind aus den neueren Studien zum Ausdruck der expressiven Funktion der Sprache (Bühler 1934, Jakobson 1960) zu erwarten (s. schon Traverso, Plantin & Doury 2000 sowie Schwarz-Friesel 2007 oder Micheli et al. 2013, und die Sammelbände von Paulin 2007, Gautier & Monneret 2011, Chauvin & Kauffer 2013, Gutzmann & Gärtner 2013, d’Avis & Finkbeiner 2019, Mackenzie & Alba-Juez 2019). Erste Ansätze haben sich erfolgreich mit mündlichen und multimodalen Korpora beschäftigt (s. u.a. Mondada 2016, Pfänder & Gülich 2013, Quignard et al. 2016, sowie aus germanistischer Sicht König 2017), wie auch mit den Eigenschaften der Emotionsvermittlung in neuen Medien (Bucher 2020, Fladrich & Imo 2020). Im Geiste der Unterschung von Nähe- und Distanzsprache (Koch & Oesterreicher 1985) ließe sich fragen, inwieweit der Ausdruck von Emotionen genremäßig mit konzeptioneller Mündlichkeit verbunden ist (über Emotionen in schriftlichen Texten, s. dennoch Fries 2009). Der Beitrag von Roland Lakyim „Einseitigkeit und institutioneller Rahmen (Öffentlichkeit) als einschränkende Faktoren zum Emotionsausdruck in offiziellen Korrespondenzen“ widmet sich diesem Methodenbereich der interaktionalen korpusbasierten Emotionsforschung und nimmt bewusst schriftliche Diskurse zum Ausgangspunkt. Ausgehend von den konventionalisierten diskursiven Eigenschaften eines konzeptionell und medial schriftlichen Genres, der offiziellen Korrespondenz, erforscht Roland Lakyim die Art und Weise, wie pragmatisch-kontextuelle Regelmäßigkeiten den Ausdruck von Emotionen erschweren können. Dabei zeigt er auch, dass Emotionalität sich trotzdem an den Tag legen lässt, und isoliert er erste Formen und Strategien der schriftlichen, öffentlichen Emotionsvermittlung.

Insgesamt lässt sich Emotionalität nicht als ein getrenntes Feld der Sprachwissenschaft absondern. Ob man sie als allgegenwärtige Belebungskraft gegen die Grammatik hervorhebt, oder sie umgekehrt als Quelle von Irregularitäten bzw. Performanzunfällen abtut: Emotionen liegen genausowie Illokutionen zumindest teilweise im Lexikon und in der Grammatik. Emotionalität unterliegt somit dem Prinzip der sprachlichen Arbitrarität und muss mit den Instrumenten der Morphologie, der Phraseologie (Schmale 2013) und der Syntax erfasst werden können. Auf lexikalisch-semantischer Ebene dürfte hier der Begriff der Intensivierung in den Vordergrund rücken. Wie lassen sich morphologische Intensivierungsmarker rekrutieren? Sind sie Fälle von Grammatikaliserung (Traugott 1995)? Von Pragmatikalisierung? Inwieweit kann man von einem Kontinuum zwischen intensivierenden und nicht-intensivierenden Lesarten sprechen? Im vorliegenden Sammelband wird diese Frage im Hinblick auf intensivierende Wortbildung gestellt. In seinem Beitrag „Warum Superstaus nicht super und Biowaffen nicht bio sind – Empirische Untersuchungen zum Wandel vom gebundenen Morphem zum freien, expressiven Wort“ nimmt Fabian Ehrmantraut die beiden Präfixoide super- und bio- unter die Lupe. Das erste hat eine konventionelle affektive und eine intensivierende Bedeutung entwickelt. Emotionalität und Werturteil schwingen sehr oft im Gebrauch des zweiten mit. Der Beitrag befasst sich mit den verschiedenen Gebrauchsweisen der beiden Formen und weist nach, inwieweit der morphologische Wandel mit einer Bedeutungsänderung und einer Konkretisierung einhergeht.

3 Emotionen und Geschichte

Die Geschichtswissenschaft hat schon relativ früh die sogenannte emotionale Wende (emotional turn) zur Kenntnis genommen und integriert. Die Erkenntnis, dass der Ausdruck und das Empfinden von Emotionen und Gefühle nicht ewig naturgegeben, sondern dem Wandel der Zeit unterworfen sind, ist nicht zuletzt der Historiker*innen zu verdanken. Sie sind den Fragen „Haben Emotionen eine Geschichte?“ und „Machen Emotionen Geschichte?“ nachgegangen und stellten mit Lucien Febvre, der bereits 1941 zur Beschäftigung mit dem „Affektleben von einst“ aufrief, erneut fest, dass sozial und kulturell konstruierte Emotionen ein ertragreicher Forschungsgegenstand der Gesellschaftsgeschichte darstellen können. Seit dem Ende der 2000er Jahre bildet die Emotionsgeschichte bzw. die Geschichte der Gefühle ein expandierendes Forschungsfeld, dem zum Beispiel das Max-Planck-Institut in Berlin ab 2008 ein eigenes Forschungsbereich widmete. Sowohl in Deutschland als auch Frankreich wurden in den letzten Jahren Standardwerke zur Geschichte der Emotionen veröffentlicht (Frevert 2011 und 2016, Plamper 2012; Corbin, Courtine, Vigarello 2017), die sich unter anderem mit der Frage auseinandersetzen, welche Emotionen angestrebt und kultiviert, welche Vorstellungen vermittelt, welche Anforderungen gestellt, welche emotionalen Reaktionen in verschiedenen Sinn- und Kulturhorizonten erwartet wurden (Stalfort 2013). Besonders in der Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts lassen sich Emotionen häufig mit Empörung bzw. Revolte verbinden – man denke nur an das weltweit gelesene und rezipierte Pamphlet von Stéphane Hessel: „Empört Euch!“ (2010). Im Kontext der Historisierung der deutschen Geschichte artikulierten sich Tagungen und Werke um die DDR-Geschichte oder die 68er Revolution sowie linke Bewegungen oder auch um Krisenzeiten, Kalten Krieg, Kapitalismus (Illouz, Benger 2017) und Kampf um Umweltschutz (Radkau 2011). Unterschiedliche Herangehensweisen wurden bevorzugt: Diskursgeschichte, Geschichtspolitik, Didaktisierung in Museen oder an Schulen (Brauer 2016). Wesentliche Impulse kamen auch aus der Politikwissenschaft, so konnte der Einfluss von Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts thematisiert werden (Aschmann 2005) oder auch durch Medienwissenschaftler mit der doppelten Funktion der Medien, Kaptation und Beeinflussung (Bösch, Borutta 2006).

 

In seinem Beitrag veranschaulicht Guillaume Robin am Beispiel der Kundschaft des Berghain-Clubs auch aus der soziologischen Perspektive die Schlüsselrolle der Beherrschung von Emotionen und deren Somatisierung bzw. Nicht-Somatisierung als Stütze des Zugehörigkeitsgefühls in einer Subkultur. Die Emotionen, die diese „emotionale Gemeinschaft“ (in Anlehnung an den von Barbara Rosenwein eingeführten Begriff der emotional communities) der Techno-Szene zusammenhalten, können auch für politische Zwecke mobilisiert werden, nämlich im Kampf um die Nutzung des urbanen Raums.

Auch Nicolas Batteux orientiert sich an Rosenwein und führt eine Umkehrung gewöhnlicher emotionsgeschichtlicher Untersuchungen durch, indem er in der 68er Bewegung nicht die protestierenden Studenten, sondern Parlamentarier der SPD-Bundestagsfraktion unter die Lupe nimmt. Er zeigt im Besonderen, wie der Begriff „Emotionen“ von den Abgeordneten in Abgrenzung zum Begriff „Gefühle“ verwendet wurde, um das als negativ empfundene Verhalten der demonstrierenden Jugend als übermäßig affektbetont anzuprangern.

Henning Fauser kehrt den Blick nach Frankreich und beleuchtet in seinem Beitrag ebenfalls das Verhalten einer Gruppe sowie die Signalfunktion, die bestimmte Handlungen beim Ausdruck von Emotionen haben können, und zwar am Beispiel des öffentlichen Tragens der gestreiften Häftlingskleidung durch französische KZ-Überlebende im Zeitraum 1945–1961. In diesem Fall sollte ein gestreiftes Stück Stoff, das auf Demonstrationen am Leib getragen wurde, auf vergangenes Leid verweisen, beim Betrachter Emotionen wecken und eine Stigma-Umkehr von negativer Ausgrenzung zu positiver Abhebung vollziehen. Gezeigt wird außerdem, dass nur kommunistisch gesinnte ehemalige Häftlinge ihre KZ-Kleidung auf diese Art und Weise als visuelles Mittel politischer Kommunikation einsetzen.

Viel weiter zurück in der Zeit geht Niall Bond bei seiner Untersuchung der Rolle von Emotionen und Empörung in der formativen Phase der Rechts- und Sozialwissenschaften in Deutschland. In der Auseinandersetzung zwischen der romantischen Rechtsauffassung eines Savignys und dem von Rudolf von Jhering vertretenen Utilitarismus wurde dem Vorwurf der übertriebenen Rationalität (Gefühlsleere, Emotionslosigkeit, zweckorientiertes Kalkül) bzw. Irrationalität (Sentimentalität bis zur Gefühlsduselei) vorgeworfen. Bei Ferdinand Tönnies und in der frühen deutschen Soziologie finden sich Spuren beider Richtungen, die sich im Begriffspaar Gemeinschaft-Gesellschaft niederschlagen. Dahinter sieht Bond den strukturellen Gegensatz zwischen Normen der Bewusstheit und Normen der Unbewusstheit.

Dem Beitrag von Matthias Rein über Zorn im geistlichen Sündendiskurs des Mittelalters kommt nicht nur in chronologischer Hinsicht ein besonderer Platz zu, handelt es sich doch um den einzigen Text zur vorneuzeitlichen Geschichte in diesem historischen Teil. Er steht auf Grund seines metasprachlichen Ansatzes auch an der Nahtstelle zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft und bemüht sich um eine differenzierte Thematisierung der Grundemotion Zorn. Über die narrative Ebene hinaus werden auch die psychischen, physischen und sozialen Auswirkungen von Zorn berücksichtigt und anhand von drei Beispieltexten eingehend untersucht.