"Ein Wort, ein Satz…"

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»Ein Wort,

ein Satz …«

Literarische Werkstattgedanken

Herausgegeben von Thedel v. Wallmoden

Wallstein Verlag

Für Thorsten Ahrendzum 27. 7. 2020

Inhalt

ANNA BAAR Ah, wie gut brennt Papier!

LUKAS BÄRFUSS Der Marktwagen

THOMAS BRUSSIG Eine kurze Anleitung zur Unsterblichkeit

SAFIYE CAN Werkbegriff und Werkberufung

DANIELA DANZ Das Geschriebene / das zu Schreibende

HEINRICH DETERING Im Spiegel

RALPH DUTLI Kleine rosige Herde!

LEANDER FISCHER Warum mich das Futur II immer traurig macht

SUSANNE FRITZ Ein Buch ist ein Text, der deinen Kopf verlässt

MATTHIAS GÖRITZ Von der schwierigen Freundschaft mit Lektoren

DOROTHEA GRÜNZWEIG ohrenarten

MAJA HADERLAP doppelgängerin

VOLKER HAGE Ein unbekannter Brief von Arthur Schnitzler

HARALD HARTUNG Die Silbe macht das Werk – Erfahrungen mit Kurzgedichten

WOLFGANG HEGEWALD Raabe, Lettau, Kraus und ich – Wohin denken wir, wenn wir an unser Schreiben denken

CHRISTOPH HEIN Emphase und Empathie

MANFRED PETER HEIN

JANA HENSEL

DANIEL KEHLMANN Über die Treue zu Verlagen – Ein Gespräch im alten Stil

HANJO KESTING Leben und Schreiben – Zerstreute Gedanken

ULRIKE KOLB Neugier wecken

EMANUEL MAEß Ins Unbetretene, nicht zu Betretende

FRIEDERIKE MAYRÖCKER Motto für die Trostlosen : mich, nämlich Ballade vom gläsernen Thorsten A.

STEFFEN MENSCHING

SABINE PETERS Bunte Wälder, Stoppelfelder, Blätter fallen, Nebel, kühler Wind – Ein Mäander

TERESA PRÄAUER Einen Strauß binden – Gedanken zum literarischen Werk

HENDRIK ROST Psalmodieren

PATRICK ROTH Die Schöne und das Biest

DORIS RUNGE Sie haben einen neuen Verlag

GREGOR SANDER Literaturwerftarbeiter

JOHANN P. TAMMEN Einige Muthmassungen über Aufbrüche ins Helle oder Tief im Eis von Nukuhiwa. Eine Verklärung aus gegebenem Anlass

KAI WEYAND Autor bleiben und nicht Schriftsteller werden

MATTHIAS ZSCHOKKE Was bleibt

THEDEL V. WALLMODEN Nachwort

ANNA BAAR
Ah, wie gut brennt Papier!

Das Fertigbringen, Besiegeln und Endlich-gut-sein-Lassen – Worte der Unmöglichkeit! Hab ich je etwas fertiggebracht, etwas zu Ende geschrieben oder was gut sein lassen? Manchmal fürchte ich mich, am Ende einer Geschichte, fände ich überhaupt eines, selbst zu Ende zu gehen. Nichts ist je gut noch fertig erzählt, der Schlusspunkt für sich ein Witz. Was mir heute so passt, kann morgen lächerlich sein. Der Leser aber nimmt mich noch morgen beim heutigen Wort. Und alles bleibt auto und bio oder grafisch; da – memoirenhaft, nostalgisch – aus dem Leben gegriffen, dort – pathetisch, prophetisch – mitten ins Leben hinein: Nach und nach enthüllt man mehr, als man eigentlich wollte. Nach und nach erfüllt sich mehr, als sich erfüllen sollte. Der Schreiber wird, was er schreibt: Liebender, Narr und Mörder hinter verschlossener Tür. Ist es also nicht Unfug, das Flüchtige anzuhalten, festzuschreiben auf toter Substanz, zwischen Buchdeckel zu binden? Liegt nicht im Akt der Vernichtung das reine Wesen der Dichtung?

Über zwei Jahrzehnte habe ich alles verbrannt – und heute noch keinerlei Werkbegriff, keine Idee von Wirkung, keinen Anspruch auf Dauer. Schreiben ist ein Zustand, ein höchsteinsamer Ritus, meditative Versenkung – ich beame mich irgendwohin und melke entrückt das All. Was dann zu fließen beginnt, ist viel größer als ich. Es als Kunst auszugeben, als ureigenes Werk, ist Anmaßung, Überhebung, ein Schauspiel im freien Fall. Dann aber, kurz vor dem Aufprall, tritt ein Zweiter hinzu, breitet das Sprungtuch aus, kümmert sich um den Bestand. Was also weiter vom Schreiben erzählen ohne den miteinzubeziehen, der es letztlich bewahrt? Bin ich bereit zum Streich, tritt er mir freundlich entgegen, lässt sich das Zündholz geben – ob rechtzeitig oder nicht, liegt nicht in meinem Ermessen. Wie er es fertigbringt, mich, um es so zu sagen, aus betrieblicher Sicht halbwegs gefügig zu machen? Es liegt wohl an seiner Art, sich in der Welt umzusehen, an seinem Staunen, Erkennen. Unvergesslich ist mir, wie er seinen Blick schweifen ließ über Mandarinenplantagen und sanfte Hügel, hundertjährige Olivenbäume und tausendjährige Steinmauern, damals auf der Terrasse des Kaštil Gospodnetić auf der Insel Brač, wo er mich im Sommer 2016 für ein paar Tage besuchte. Dabei nicht ein Wort des Gefallens, nicht die übliche Geschwätzigkeit mancher Erstbesucher, die alles übertönt – das Zirpen, Summen und Rascheln winziger Lebewesen, die Dorfgeräusche von weit, das Bimmeln von Maultierschellen –, sondern in stiller Andacht, dass ich ihm zurufen wollte: Hey, du verdirbst dir die Augen! Das Land lockt dich schnell ins Garn. Aber natürlich sagte ich nichts, sah ihm nur zu beim Schauen, in der diebischen Freude, ihn mir verbündet zu haben.

Und ja, den Verbündeten braucht’s, als Mitwisser und Komplizen und als Bewährungshelfer – einen zum Pferdestehlen, der mich zugleich vorm Absturz ins eigene Selbst bewahrt. Nichts kann tiefer fallen als was geschrieben steht – schon mit dem nächsten Satz. Während unserer Arbeit an meinem ersten Buch kannten wir einander nur vom Hörensagen, Hin-und-her-Mailen und stundenlangen Telefonieren. Gegen seinen Vorschlag, uns via Skype zu verbinden, hatte ich mich gesträubt. Auch gegen manchen Einwand. So meinte er zum Beispiel, es sei zu dick aufgetragen, vom Zigaretten-Austöten zu schreiben, wenn da einer bloß eine Kippe ausdrückt. Dann fragte er allen Ernstes, was das Wort Einschauen bedeute. Und ich begann zu erzählen von den Versteckspielen, die ich als Kind so mochte – Wie sagt man denn sonst, wenn einer, ehe er mit der Suche beginnt, abgewandt von den andern, die Hände überm Gesicht, laut und langsam bis zehn zählt? Oder gibt es das Einschauen in deiner Sprache nicht? Komm, sei mein Sparringspartner im Kampf um das letzte Wort! Was habe ich gebockt! Überhaupt meine Sturheit, die Launen und Kapriolen! Er nimmt sie erstaunlich gelassen, sieht mir den Überschwang nach, nicht nur in den Geschichten. Wie oft ist er zugestiegen, ohne das Ziel zu kennen – Komm, lass uns losziehen! Hauptsache raus! Gerne denke ich an unsere Autofahrten. Einmal der Stau auf der Rückfahrt von Brač, der flimmerndheiße Asphalt. Und einmal das Kehrtmachenmüssen, als wir nach einer Lesung in Hannover einen Ausflug nach Hamburg machen wollten und es auf der Autobahn heftig zu schneien begann. Hatten wir Sommerreifen? Von anderen Expeditionen schreckte er trotz mangelhafter Ausrüstung nicht zurück. Ich erinnere mich, wie wir bei Wind und Nieselregen auf den rutschigen Steilhängen eines Kärntner Bergs herumhirschten, weil ich mir in den Kopf gesetzt hatte, justament an diesem Tag in die Pilze zu gehen. Er hatte gleich eingewilligt, schien mir nicht überrumpelt, trotz seiner Schönwetterkleidung – helle Hose, sehr helles Hemd, die Schuhe, glaub ich, aus Leinen. So stach er hell aus dem Dunkel des Walds, ein sehr deutscher Sucher, nein Forscher, im properen Schutzanzug. Später, als wir uns wieder bei meinem Wagen trafen, war er völlig durchnässt, dabei aber fündig-heiter.

Nie vergesse ich ihm, wie er im September 2015, da man die Züge an der deutsch-österreichischen Grenze stundenlang anhielt, um der Flüchtenden Herr zu werden, auf abenteuerlichen Wegen zu Fuß über die Grenze kam, um am Salzburger Literaturhaus meine erste Österreich-Lesung zu moderieren! Über die Jahre ist mir mein Lektor ganz schön ans Herz gewachsen mit seinen Redensarten, der geheimschriftartigen Handschrift, den lakonischen Randnotizen – und der ehrenden Annahme, ich verstünde ihn, wenn er von Interjektionen spricht oder Konjunktiven, Modalverben, all dem Partizip- und Plusquamperfektzeug – oder Frikadellen und Stullen … Und wie er die Contenance wahrt, wenn die Pferde mit mir durchgehen, und wie er mich vornehm zurückpfeift, weil er mir offenbar zutraut, sie irgendwie zu bezähmen. Ja, ich weiß, ich weiß … Ein Raunen in Moll kann ihn nerven, ein durchgehend hoher Ton, oder ein Schachtelsatz, bei dem er, wie er es nennt, schnell aus der Kurve fliegt. Je schärfer der Einspruch ausfällt, desto größer die Gunst, die er mir damit erweist: »Ich hoffe, du denkst jetzt nicht, dass ich dich zum literarischen Spaßbolzen umerziehen will, Bachmann und Celan und viele andere haben auch einen Grundton, und es wäre schlicht blöd zu verlangen: He, Celan, mach uns doch mal ’n Gassenhauer!« Möglich, ich könnte auch anders. Aber das will ich nicht. Stattdessen sage ich trotzig: Ah, wie gut brennt Papier! Und hoffe insgeheim wieder auf meinen lieben Retter.

 

Na sto!

LUKAS BÄRFUSS
Der Marktwagen

Ob ich über die Dauer und die langfristige Wirkung meiner Werke nachdenke, fragen Sie mich? Nun, das tue ich gewiss, sogar sehr gerne und bei jeder Gelegenheit, auch wenn ich so wenig wie irgendjemand sonst die geringste Ahnung habe, was die gemeinsame Eigenschaft langlebiger Texte sein könnte. Abgesehen natürlich vom physischen Überdauern des Mediums, auf dem sie festgehalten werden. Auch deshalb schreibe ich zuerst auf Papier. Es gibt keinen elektronischen oder digitalen Speicher. Keine dort abgelegte Information wird die nächsten Jahrzehnte überleben. Festplatten sind Mülldeponien, man sollte ihnen nichts Kostbares anvertrauen.

Apropos überleben: Die erste Aufgabe, bevor er überhaupt vom Ruhm in der Nachwelt träumen kann, besteht für den Schriftsteller darin, an seinem Gewerbe nicht zugrunde zu gehen. Das ist keine leichte Sache. Obwohl man oft das Gegenteil hört und Scheitern fast mythisch überhöht wird: In der Literatur sind Niederlagen in der Regel tödlich. Die Tätigkeit eines Schriftstellers ähnelt jener von Bergsteigern, die ohne Seil und Sicherung in eine Wand steigen. Wer findet, der Vergleich sei prahlerisch und unangemessen, da diese Alpinisten bei einem Fehlgriff unweigerlich den Tod fänden, ich jedoch höchstens einen schlechten Text riskiere, der möge bedenken, dass es neben der physischen auch die psychische Vernichtung gibt und diese in meinem Gewerbe täglich droht. Um dies festzustellen, braucht man weder Gabe noch Vorliebe zur Selbststilisierung. Ein Blick in die Literaturgeschichte genügt, um das Berufsrisiko der Schriftsteller zu ermessen. Wer braucht Kenntnisse in Statistik, um als Schriftsteller mit Alkoholismus, der Irrenanstalt oder mit Selbstmord zu rechnen – und zwar häufig in dieser Reihenfolge? Man mag sich fragen, was hier Ursache und was Folge sei, ob die Literatur besonders häufig Menschen interessiere, die eine bestimmte Prädisposition mitbringen, oder ob die Literatur diese Disposition erst verursache. Sicher ist: Dieses Gewerbe zieht Naturen an, die nicht dafür geeignet sind und daran Schaden nehmen. Umgekehrt werden auch gesunde Geister von den Anstrengungen und Entbehrungen der Literatur aufgerieben und zerrüttet. Jeder Kochlehrling wird in Gesundheitsvorsorge unterrichtet, und man lässt niemanden in die Küche, der die Sicherheitsvorschriften nicht befolgt. In die Literatur jedoch schickt man die zerbrechlichsten Gemüter, man wähnt sie durch ihre Sensibilität geeignet und entsendet sie in die gefährlichsten Zonen ohne Schutz und Ratschlag.

Worin die Gefahr liege, fragen Sie mich? Das ist einfach zu beantworten. Das Universum erscheint dem menschlichen Geist als undurchschaubares Chaos. Schreiben bedeutet, sich in dieses Chaos zu stellen und in einem sehr beschränkten Bezirk eine Ordnung zu erzwingen. Das ist nicht schwierig. Jeder ist dazu in der Lage. Für ein paar Seiten mag es immer gelingen. Die Herausforderung besteht darin, es Tag für Tag zu unternehmen, was so gefährlich wie notwendig ist. Denn wie bei jeder Tätigkeit nimmt auch bei dieser die Fähigkeit mit der Zahl der Wiederholungen zu. Übung macht nur einen Meister, sofern sie den Lehrling vorher nicht umbringt, und mit jedem Versuch steigt das Risiko, ihn seelisch und geistig nicht zu überstehen. Bereits der erste Schritt ist eine aufreibende Aufgabe: diesen Bezirk zu definieren, jenen Raum, den man für eine gewisse Zeit vom restlichen Universum abkoppeln muss, um ihn überhaupt beschreiben zu können. Zur Veranschaulichung mag die Analogie mit der Tätigkeit eines Chirurgen dienen. Um das Organ operieren zu können, muss er es von der Blutversorgung trennen. Und gegenüber dem Schriftsteller besitzt er einen Vorteil: Er hat sich in Pathologie und Anatomie geübt, hat am toten Material gelernt, und er kennt deshalb die Physiologie des Organismus, er versteht die Form und die Funktion der verschiedenen Gewebeformen, weiß, welchen Strukturen er sich mit welchen Instrumenten nähern darf, wo er also welchen Schnitt anbringen kann, damit er das System mit seinem Eingriff nicht zerstört. Der Schriftsteller hingegen weiß nie, was die Störung verursacht, er sieht nur, es gibt eine Differenz, eine Unruhe, denn andernfalls gäbe es keine Aufmerksamkeit. Harmonie bleibt immer unbemerkt. Bescheidenere Naturen beschränken sich deshalb auf Operationen an toten Modellen und ergehen sich in den Schemata der bekannten Genres. Dort ist nichts zu riskieren, aber leider auch nichts zu gewinnen.

Vielleicht lässt sich dies an einem kleinen Beispiel erläutern. In diesem Augenblick sitze ich in einem Straßencafé im 20e Arrondissement in Paris, unweit der Place Gambetta. Vor wenigen Minuten erregten zwei Männer am Nebentisch meine Aufmerksamkeit. Falls ich die Herren beschreiben will, muss ich klären, worin genau die Störung liegt, die sie in meinem Bewusstsein verursacht haben, denn die Beschreibung dieser Störung fällt zusammen mit der Beschreibung ihrer selbst. In der Wirklichkeit ist diese Klärung nicht notwendig. Sie ergibt sich alleine durch die Gleichzeitigkeit der Ereignisse, die leider bis heute in der Literatur nicht dargestellt werden kann. In diesem Beispiel mag die Klärung ungefähr so aussehen: Die beiden sind offensichtlich Trinker, das heißt, sie leiden an einer Alkoholkrankheit. Ich erkenne dies an der Farbe ihrer Haut und an den glänzenden Augen. Aber alleine aus diesem Grund wären sie mir nicht aufgefallen. Säufer sind keine Seltenheit.

Die Männer sind asiatischer Herkunft, vermutlich Chinesen, wie ich ihrem Aussehen und ihrer Sprache nach urteile. Allerdings könnte ich Chinesisch von Koreanisch kaum unterscheiden. Woher also meine Vermutung? Es muss an der Garderobe liegen. Sie wirkt ärmlich, eine Eigenschaft, die ich weniger mit Südkorea in Verbindung bringe, und dass sich zwei Nordkoreaner in diesen Teil von Paris verirrt haben, halte ich zwar für möglich, doch eher für unwahrscheinlich.

Jeder pflegt auf seine Weise einen besonderen Umgang mit seiner Gesichtsmaske. Der ältere, von der Alkoholkrankheit schon deutlich gezeichnete Mann hat seine, ein buntes Einwegmodell, unter das Kinn geschoben; der andere aber, der sich für das klassische blau-weiße Modell entschieden hat, trägt die Maske am Unterarm – wie eine Manschette, die beiden Gummibänder halten das Papier quer der Elle fest. Dies habe ich noch nie beobachtet, doch glaube ich nicht, dass er persönlich diese Technik erfunden hat. Wahrscheinlich ist sie in Teilen Chinas, wo man mit diesem Hygieneutensil längere Erfahrung hat als in Europa, gang und gäbe.

Ferner: Zur Zeit begegnet man in Paris wenig Asiaten. Durch die Reisebeschränkungen bleiben die Besucher aus. Allerdings sind die beiden gewiss keine Touristen. Sie werden zur chinesischen Diaspora gehören, die sich in den letzten Jahren in der nahen Belleville angesiedelt hat.

Auf diesen Umstand werde ich gleich näher eingehen, aber nun bringt der Kellner den beiden zwei frische Gläser Bier, und gleich nach dem ersten Schluck verliert der Alte die Kontrolle. Wie man es bei Trinkern kennt, ist er von einer Sekunde auf die andere betrunken. Er gestikuliert unkontrolliert. Seine Stimme ist laut. Zwischen den Sätzen sackt er zusammen, um gleich darauf wie ein Springteufel wieder hochzuschrecken und seinen Saufkumpan anzuschreien. Der nimmt das mit Gleichmut hin.

Es ist fünf Uhr nachmittags.

Ich kannte die Belleville noch, als man das Viertel »Petite Afrique« nannte. Das war vor dreißig Jahren. Mein erster Besuch in Paris hatte mich auf den Butte de Belleville geführt. Liegt die Störung also nicht im Phänomen vor meinen Augen? Stehen diese beiden Chinesen nur für eine Reminiszenz an meine vergangene Jugend? Und in welchem Zusammenhang steht diese augenblickliche Erfahrung mit der Erfahrung von vor dreißig Jahren? Man kann darauf keine Antwort finden. Die Wirklichkeit kümmert sich nicht um Erzählbarkeit. Jeder Zusammenhang muss gefunden und erläutert werden, und in ungefähr neunhundertneunundneunzig von tausend Fällen gibt es zwischen den Erscheinungen keine Verbindung. Und wer sich immer nur stören lässt und niemals die Gründe für diese Störung findet, der wird unweigerlich den Halt verlieren und abstürzen. Wehe dem, der den Marktwagen nicht findet, der damals, vor dreißig Jahren, an der steilsten Stelle der Rue de Belleville stand, beladen mit frischer Minze und einem Haufen blutiger Schafsköpfe, bewacht von einem Ivoirien, wehe dem, der die Verbindung zu den beiden Chinesen nicht findet, sich verwirren lässt vom Grün und vom Rot, vom Surren der Fliegen, aber den Geruch nach Blut und Pfeffer nicht erkennt, der gleich aus der Erinnerung, vom Leiterwagen wie vom Nebentisch aus ihren Mündern, in die Nase steigt. Hier! Für einen Augenblick ist im chaotischen Universum ein Geviert gezogen, eine Freistatt, wo die Gravitation einer dreißigjährigen Sonne die Existenz dreier Menschen in einem ephemeren Gleichgewicht hält. Gleich wird es in sich zusammenstürzen, wieder Teil der allgemeinen und ewigen Kontingenz werden, und man tut besser, sich vor den fallenden Trümmern zurück ins Leben zu retten.

THOMAS BRUSSIG
Eine kurze Anleitung zur Unsterblichkeit

Wir machen Bücher. Das sind die Dinger, die, wenn du zum Beispiel durch Goethes Geburtshaus geführt wirst, im Bibliothekszimmer siehst, und bei deren Anblick du dann denkst: ›Ah, das könnte im Kopf des künftigen Dichterfürsten gewesen sein. Auch wenn er wohl kaum all diese Bücher gelesen haben dürfte, so wird er zumindest in manchen von ihnen geblättert haben.‹ Doch wer liest heute noch in diesen Büchern? Selbst der Autor einer Doktorarbeit, die sich mit der Bibliothek in Goethes Geburtshaus befasst, wird kaum eines dieser Bücher zur Gänze gelesen haben.

Auch als ich in der Bibliothek des Dubliner Trinity College stand, die als eine der schönsten der Welt gilt, kam mir unwillkürlich der Gedanke, dass, seitdem ich lebe, wohl die Mehrheit der dort stehenden Bücher von keinem einzigen Menschen mehr gelesen wurde.

Das soll weder anklagend noch kulturpessimistisch klingen. Mir selbst fiel mal ein Gedichtband von etwa 1850 in die Hände, wo neben einer Unzahl mir völlig unbekannter Dichter auch Heinrich Heine mit einem Gedicht vertreten war, und dieses stach heraus: Neben allerlei schwülstig-schwurbeliger Natur- und Mythologiepoesie war das Heine-Gedicht (ich weiß nicht mehr, welches) von kristallener Klarheit. Diese Leseerfahrung lehrte mich eines: Unsere Klassiker sind nicht zufällig unsere Klassiker; sie waren zu ihrer Zeit etwas Besonderes (auch wenn das damals nicht unbedingt von allen gesehen wurde, denken wir nur an Georg Büchner oder Franz Kafka). Und neben dem wenigen, was überdauert, gibt es vieles, das zu Recht vergessen wurde und in Frankfurt, Dublin oder sonstwo nur noch einstaubt.

Damit provoziere ich natürlich die Frage, ob ich mich auch für einen Autor halte, der eines Tages vergessen sein wird, weil er Bücher schreibt, die es nicht anders verdienen. Und wenn ja, wozu die Mühe? Warum Bücher schreiben, die ohnehin vergessen werden?

Als ich im Jahr 1991 mein literarisches Debüt hatte, den Entwicklungs- und Adoleszenzroman Wasserfarben, sagte ich in einem Radiointerview kurz vor der Veröffentlichung, dass man diesen Roman auch in zwanzig Jahren noch lesen kann – und als ich das aussprach, wurde mir schwindelig. Zwanzig Jahre sind eine sehr lange Zeit, und wenn ich als damals Sechsundzwanzigjähriger derartige Prognosen abgab – war ich da nicht ein Hochstapler? Heute lässt sich sagen, dass mein Buch zwar schon damals kaum gelesen wurde, aber meine Schwindel auslösende Vermutung bewahrheitete sich dennoch; in den vergangenen Jahren gab es immer mal Nachauflagen der Wasserfarben. Und dass die »zwanzig Jahre« eine gängige Maßeinheit für literarische Dauerhaftigkeit sind, wurde mir 2007 in einem Interview bewusst, anlässlich des Todes von Ulrich Plenzdorf, ebenfalls fürs Radio und obendrein live. Ob denn seine Bücher auch in zwanzig Jahren gelesen werden, wurde ich gefragt, und aus der Frage ließ sich die Hoffnung heraushören, dass ich den Büchern des kürzlich Verstorbenen nicht nur ein zwanzig-, sondern gleich hundertjähriges Nachleben prophezeien würde. Doch ich antwortete: »Wenn Sie mich so fragen, sage ich Nein. Vor zwanzig Jahren ist Heinrich Böll gestorben, als Nobelpreisträger. Werden seine Bücher heute noch gelesen? Aber Ulrich Plenzdorf hatte eine riesige Leserschaft, eine wahre Fangemeinde, zu seinen Lebzeiten. Ist das etwa nichts? Die wenigsten Schriftsteller können das von sich behaupten, und wer dieses Glück hatte, den müssen wir nicht als gescheitert betrachten, nur weil seinem Werk Dauerhaftigkeit abgeht.«

 

Und das ist meine Überzeugung: Wenn ein Buch heute und in zwanzig Jahren wirkt, dann ist viel erreicht, sehr viel. Aber auf Unsterblichkeit zu setzen? Das erinnert unwillkürlich an jene Menschen, die Parzellen auf Mond und Mars kaufen, für echtes Geld.

Wenige Wochen vor der Jahrtausendwende rief die New York Times (oder war’s ein anderer New Yorker medialer Flugzeugträger?) die weltweit wichtigsten Schriftsteller des 21. Jahrhunderts aus. Eine Deutsche war auch dabei. Weder hatte ich damals je von ihr gehört, noch hörte ich später von ihr (zumindest haben wir keine großartig bekannte Autorin, von der wir alle wissen, dass sie bereits 1999 zu den »wichtigsten Schriftstellern des 21. Jahrhunderts« gezählt wurde). Wer auch immer die Auswahl traf, eine Ausrede der Art, »dass sie nicht groß bekannt ist, widerlegt nicht den Umstand, dass sie wichtig ist«, lasse ich nicht gelten.

In den USA wird immer mal das Stück gezeigt, bei dessen Aufführung Abraham Lincoln erschossen wurde. Es war kein Shakespeare, und neunzig Prozent der heutigen Zuschauer werden wohl denken: Den Theaterbesuch hätte Lincoln sich schenken können. Wegen so was haben wir unseren besten Präsidenten verloren. Das ist einfach nicht fair. Das Stück, dessen Autor und Titel ich im Moment zu faul bin zu googeln, überdauert nicht wegen seines Inhalts, sondern aus Gründen, die nichts mit dem Stück zu tun haben.

»Bücher sind so wichtig für den Einzelnen, aber so ohnmächtig gegenüber dem Ganzen«, schrieb ich mal, und auch, dass es kein Buch gebe, das eine Revolution entfacht hat. Denn es geht um etwas anderes. Es geht nicht um Unsterblichkeit und auch nicht darum, durch ein Buch die Welt zu verändern. Sondern darum: »Du klappst das Buch zu, hebst den Blick und schaust anders in die Welt.« Das verdanken wir den Büchern, und ich wüsste nicht, wieso mir die künftigen, noch ungeborenen Leser wertvoller sein sollen als die jetzt lebenden.

Wer dennoch etwas schreiben möchte, das noch in fünfhundert Jahren gelesen wird, dem will ich gern verraten, wie es geht: Nimm eine fünf- bis sechsstellige Summe und kaufe ein Stück Wald, mindestens fünf Hektar. (Zwanzig oder gar hundert Hektar wären besser.) Gehe zu einem Notar und lass ein Schriftstück aufsetzen, wonach der Besitz dieses Waldes an die unabwendbare Verpflichtung geknüpft ist, die Hälfte der Fläche unberührt zu lassen, und nur auf der anderen Hälfte wirtschaftliche Verwertungshandlungen (wie Bautätigkeit, Nutzholzgewinnung etc.) gestattet sind, und dass der Besitz nur als Einheit vererbt, verkauft oder sonst wie übertragen, aber nicht parzelliert, geteilt oder zerstückelt werden darf. Wer dagegen verstößt, verliert sein Eigentumsrecht sofort an den Ersten, der in die ursprüngliche Verpflichtung einzutreten gedenkt. Kurzum: Du schaffst ein Waldstück, das total verwildert, zu einem Urwald renaturiert. Dies ist eine Provokation, ein Steinchen im Schuh, und alle Jahre wieder wird die Frage erörtert, wieso dieses Waldstück so nutzlos vor sich hin wächst – und dann kommt dein Schriftstück ins Spiel: Menschen werden es sich vornehmen und lesen, um ein Schlupfloch zu finden (und dass die Hälfte der Fläche profitabel sein darf, hat damit zu tun, dass es rational und lohnend sein muss, das Ganze zu besitzen, sonst will niemand deinen Wald). Und je ausführlicher du über deine natur- und klimaschützerischen sowie kapitalismus- und zivilisationskritischen Motive schreibst, desto mehr wird von dir gelesen. (»Desto mehr« meint: Dreitausend Wörter Vertrag und Pamphlet sind mehr als tausend Wörter Vertrag.) Du solltest weiterhin deinen Text mit Gendersternchen und sonstigem modischen Krimskrams verzieren, für die garantiert gestrige Wirkung in späteren Zeiten. Überhaupt, je heutiger, je zeitgenössischer dein Sprachgebrauch ist, desto schneller altert dein Text und desto leichter wird er als etwas längst Vergangenes einsortiert.

Natürlich kann es passieren, dass dein Text durch Enteignung obsolet wird, oder weil es einem künftigen Waldbesitzer gelingt, das notarielle Konstrukt zu knacken. Aber bis das geschieht, wird man deinen Text öfter gelesen haben als die meisten Bücher, die in der Bibliothek des Trinity College stehen.