Die neuen alten Frauen

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Die neuen alten Frauen
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Die neuen alten Frauen

Das Alter gestalten – Erfahrungen teilen – Sichtbar werden

Herausgegeben von Marie-Louise Ries und Kathrin Arioli

Mit Texten von Marianne Haussmann, Helga Hofmann, Andrea Kippe, Marie-Louise Ries, Usch Vollenwyder, Marianne Waldvogel-Schläpfer, Christine Wieland und Heidi Witzig

Limmat Verlag

Zürich

Reiche Ernte. Emanzipierte Frauen reflektieren ihr Altwerden

Herbstbuntes Alter – farbige Stühle

«An unserer Strasse in einem Einfamilienhausquartier sind nun alle Frauen verwitwet», erzählt eine Frau im Frühjahr 2014. «Wir nennen sie daher die Witwenstrasse. Wir befassen uns gemeinsam mit unserer Situation, wir organisieren uns, helfen einander, reisen auch ab und zu gemeinsam. Ein wichtiges Resultat aus unseren Gesprächen ist: Alle haben einen Stuhl farbig ­bemalt. Wenn eine Frau den Stuhl vor die Türe stellt, sehen die andern: Sie möchte nicht allein sein, jemanden zum Gespräch einladen. Und es klappt – und vermittelt uns das Gefühl, wahrgenommen, eingebettet, mitgetragen zu sein.» (vgl. Literaturliste S. 137–139)

Die heute sechzig- bis neunzigjährigen Frauen waren in den frauenbewegten Siebzigerjahren jung. Keine Frauengeneration zuvor hat in ihrem Leben eine so intensive emanzipatorische Wegstrecke und so einschneidende Veränderungen der Frauenrolle miterlebt.

Heute wird das Alter länger. Es wird weiblicher, weil Frauen älter werden als Männer. Und die alleinlebenden Frauen werden mehr: Von der gesamten Bevölkerungsgruppe der 65- bis 74-Jährigen leben in der Schweiz 15 Prozent der Männer und 45 Prozent der Frauen allein; ab achtzig leben schon zwei von drei Frauen allein. Es sind die Frauen, die die «Kultur des langen Lebens» (Pro Senectute) prägen. Und sie sind daran, neue, zukunftsgerichtete Drehbücher für ein gutes Alter zu entwerfen und mit Leben zu füllen.

Wie aber zeigen sich Beitrag und Bedeutung dieser älteren Frauen in der heutigen Gesellschaft? Wir haben in einem Frauennetzwerk über diese Frage in verschiedenen Gruppen nachgedacht, nachgefragt und geforscht. Ja natürlich, wir kümmern uns um unsere Enkel, um pflegebedürftige Partner oder alte ­Eltern. Wir engagieren uns in sozialen Projekten, Nachbarschaftsnetzen, Parteien und Non-Profit-Organisationen. Kaum aufsehenerregend. Aber alte Frauen sind auch Pionierinnen im Initiieren und Erproben von zukunftsweisenden Wohn- und Gemeinschaftsformen, sie schaffen neue Netzwerke und Beziehungsmuster.

Frauentypisch: Eigene Erfahrungen ernst nehmen, erkunden, formulieren

Eine unabhängige Gruppe organisiert seit bald zwanzig Jahren im Herbst jeweils eine grosse «Impulstagung» in Zürich zu Themen des Älterwerdens als Frau. Daraus haben sich zahlreiche soziale, kulturelle und politische Aktivitäten entwickelt.

Aus diesem Frauennetzwerk fanden sich im Herbst 2010 interessierte Frauen zusammen zu einer Arbeitstagung. In der Diskussion wurde klar: Wir können uns nicht mehr an den Lebensmustern unserer Mütter orientieren. Und wir wollen der Fremddefinition, wie Frauen altern, etwas Eigenes entgegensetzen – auch wenn wir dankbar sind für die Forschungsarbeiten von Pasqualina Perrig-Chiello und François Höpflinger oder die Age Reports zum Neuen Wohnen, die für uns einen guten Boden gelegt und Fragen nach dem eigenen Erlebten wachgeru­fen haben. Wir wollen – wie es uns die Frauenbewegung gelehrt hat – ganz von unseren eigenen Erfahrungen ausgehen. Und diese Erfahrungen und das, was uns geprägt hat und antreibt, ernst nehmen.

Nach der Starttagung 2010 arbeiteten 38 Frauen (zwischen 62 und 83 Jahre alt) während zwei Jahren in sechs thematischen Arbeitsgruppen an den von ihnen selbst ausgehandelten Fragestellungen. Wir nannten das Projekt «Neue Frauen-Alterskultur» (NFAK). Dazu entstand eine offene, basisdemokratische Projektstruktur, mit Verbindlichkeit bezüglich Einsatz an Zeit und Präsentation der Zwischen- und Endresultate, aber mit viel Freiheit in der gewählten Methodik. Ein Koordinationsteam erarbeitete gemeinsam mit den Teilnehmerinnen während und zwischen den Vollversammlungen rollend die nächste Arbeitsetappe. Immer war klar, der Weg und das Erlebnis der Zusammenarbeit waren ebenso wichtig wie die Ergebnisse. – Wir erlebten die gemeinsame Arbeit als anspruchsvoll und lustvoll!

Das Projekt «Neue Frauen-Alterskultur» machte Schulterschluss mit der «GrossmütterRevolution» des Migros Kulturprozent und erhielt von dort auch finanzielle Unterstützung. Der zusammenfassende Schlussbericht ist in der Literaturliste am Schluss des Buches aufgeführt.

Die alten alleinlebenden Frauen – eine gesellschaftliche Kraft

Zwei der sechs Arbeitsgruppen befassten sich mit den im Alter alleinlebenden Frauen. Obwohl zahlenmässig gross, führt diese Gruppe eher ein Schattendasein und zeigt sich kaum sichtbar als gesellschaftliche Kraft. Die mediale Präsenz im Alter gehört weitgehend dem Paar.

In den Beiträgen dieses Buches steht daher diese Gruppe mit ihren Lebensfragen und Erfahrungen im Zentrum. Es geht zum Beispiel um Fragen zum Umgang mit dem Verlust des Partners, um das Talent des «Dazugehörens» und um die im Alter immer wichtiger werdenden, umsichtig gestalteten Freundschaften. In anderen Texten beschreiben Autorinnen, wie wir mit immer wieder erlebter Abwertung umgehen, wie wir aus eigenen Lebenserfahrungen Kraft schöpfen oder wie wir das spirituelle Innehalten als Quelle für ein gutes Leben nutzen.

Die neuen alten Frauen – Pionierinnen auf vielen Gebieten

Die Autorinnen der Texte gehören einer Generation von Frauen an, die in der Zeit um den Zweiten Weltkrieg herum geboren sind, in den Fünfzigerjahren erwachsen wurden, 1971 als erwachsene Frauen das Stimm- und Wahlrecht erhielten und zehn Jahre später miterlebten, dass der Grundsatz der Gleichberechtigung von Frau und Mann in die Bundesverfassung aufgenommen wurde. Diese Generation von Frauen, die sich nun selbstbewusst «neue alte Frauen» nennen, hat viel gekämpft, sich vieles erstritten und vieles erreicht.

Die Welt hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg grundlegend verändert. Die bürgerliche Kleinfamilie als dominierende Familienform gibt es nicht mehr, die Beziehung der Geschlechter hat neue Formen angenommen, die Gleichstellung von Frau und Mann wurde rechtlich verankert. Viele Schritte auf dem Weg zur tatsächlichen Gleichstellung wurden erreicht – und dennoch bleibt vieles zu tun.

Männer wie Frauen erfahren Diskriminierung, wenn sie ­äl­­ter werden, aber ältere Frauen erleben das Altern anders. Die Auswirkungen der Ungleichstellung der Geschlechter, die sie ein Leben lang erfahren haben, verschärfen sich im Alter. So führen die fehlende Lohngleichheit und die Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen bei der bezahlten und unbezahlten Arbeit dazu, dass die finanziellen Ressourcen der Frauen durchschnittlich deutlich schlechter sind als jene von Männern.

Die Frauen dieser Generation waren Pionierinnen in Politik, Erwerbswelt und Familie. Die ersten Politikerinnen, die in Parlamenten und Exekutiven die Geschicke der Schweiz mitlenkten, gehören dieser Generation an. Sie haben die Eman­zipation der Frau geprägt, haben sich in der Frauenbewegung engagiert. Und heute sind sie Pionierinnen in der Gestaltung des Lebens als alleinlebende Frauen im Alter, sie erproben neue Lebensformen, für die es kaum Vorbilder gibt.

Mit dem vorliegenden Buch wollen wir die gesellschaftliche Diskussion zu den angesprochenen Themen anstossen. Wir möchten Leserinnen motivieren, die eigene Lebenssituation unter verschiedensten Aspekten zu überdenken, diese Altersphase mit lebensfreudiger Intensität zu füllen und ihr auch selbstbewusst gesellschaftliche Ausstrahlung zu geben.

Marie-Louise Ries und Kathrin Arioli

Frühjahr 2015

Alleinlebende Frauen im Alter. Ein historischer
Blick zurück
Heidi Witzig

Alleinleben galt im 19. Jahrhundert generell als Existenz ausserhalb der Norm: als Zeichen von grossem Reichtum oder äusserster Armut. Bei alleinlebenden reichen Frauen und Männern blieben die Verbindungen zum eigenen Familien- und Verwandtennetz möglichst eng, räumlich wie materiell. Ein Leben in totaler Isolation galt als schweres Schicksal, das in der Regel die Ärmsten traf. Die prekäre materielle Situation wirkte sich im Alter unmittelbar aus, existierte in der Schweiz doch bis nach dem Zweiten Weltkrieg keine allgemeine Altersversicherung. Altersrenten blieben Privatsache für den gut verdienenden Mittelstand.

Zusammenleben im Familienverband als Bollwerk gegen Armut

In breiten Kreisen der Bevölkerung, die mehrheitlich in der Landwirtschaft, im Gewerbe oder in der Industrie arbeitete, galt die Familie als Gruppe, die zusammenarbeiten und zusammenhalten musste, um den Lebensbedarf aus eigenen Kräften beschaffen zu können. Der Ehemann als Alleinernährer war im 19. Jahrhundert zwar ein Ideal, in diesen Kreisen jedoch nicht Realität. Tüchtige und zuverlässige Mütter und Väter, Töchter und Söhne und weitere Verwandte, die sich aufeinander verlassen konnten, galten als einziges Bollwerk gegen das Absinken in Armut und in die gefürchtete Armengenössigkeit. Auch die Pflege der Beziehungen mit Verwandten war in erster Linie auf den Austausch materieller Güter und Hilfestellungen ausgerichtet. Im besten Fall kam man gemeinsam vorwärts; die erfolgreich zusammenarbeitende Familie verstand sich auch als eine harmonische Familie. Der Wunsch nach individueller Lebensgestaltung, auch nach einer Heirat, galt als zweitrangig.

 

Eine Heirat war an zahlreiche materielle Bedingungen gebunden. Bis zur revidierten Bundesverfassung von 1874 konnten die lokalen Armenbehörden Einspruch gegen eine Eheschliessung armer Leute erheben. Und sie machten von diesem Recht häufig Gebrauch. Ledige Mütter mussten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ihre Kinder an Pflegeplätze abgeben und als Dienstmädchen, Mägde, manchmal auch als Gelegenheitsprostituierte zu ihrem Unterhalt beitragen. Auch in Bauernfamilien war die Heirat häufig Privileg des erbenden Sohnes. Von den Geschwistern wurde erwartet, dass sie ledig blieben und als Mägde oder Knechte auf dem Hof mithalfen. Allenfalls hatte eine Schwester die Chance, sich mit einem erbenden Bauernsohn zu verheiraten. Auch in Gewerbe- oder Arbeiterfamilien war Heirat lediglich eine Option. Hatten die Töchter die Chance, eine Berufslehre beispielsweise als Schneiderin oder Glätterin zu machen, oder fanden sie Verdienst in der Heimarbeit, blieben sie oft ledig. Sie lebten mit unverheirateten Geschwistern oder Verwandten zusammen und empfanden sich im Vergleich zu ihren verheirateten, oft kräftemässig und psychisch überlasteten Schwestern als privilegiert. Dies waren sie insbesondere in Bezug auf ihre wirtschaftlichen Rechte: Sie konnten selbständig Betriebe gründen, Personal anstellen und so weiter, während verheiratete Frauen bis 1989 diesbezüglich einer Art Vormundschaft ihrer Ehemänner unterstanden. Aus diesen Gründen war die Schweiz europaweit eines der Länder mit den höchsten Ledigenzahlen. 1860 standen 40 Prozent ledigen Frau­en rund 45 Prozent verheiratete und knapp 16 Prozent verwitwete Frauen gegenüber (alle Frauen über 18 Jahre = 100 Prozent).

Allein wohnen: Resultat des wirtschaftlichen Erfolgs oder des ehelichen Scheiterns

In den 1920er-Jahren eröffneten sich ledigen Frauen mit den neuen Dienstleistungsberufen, besonders den Büroberufen, neue interessante Arbeitsbereiche, und der Traumberuf Lehrerin bot ihnen eine echte Wahl zwischen Ehe und erfüllender, materiell abgesicherter Berufstätigkeit. Lehrerinnen und «Fräuleins» in Büroberufen waren die Ersten, die sich aus dem eigenen Verdienst eine Wohnung leisten konnten. Auch begüterte verwitwete und geschiedene Frauen genossen wirtschaftliche und zivilrechtliche Freiheiten: Wie die Ledigen konnten sie Verträge abschliessen, Firmen gründen und so weiter, und zudem verfügten sie frei über ihr Vermögen. Mit dem Schreck­gespenst der «Lustigen Witwe» wurden die Gefahren beschworen, die von materiell und erotisch autonomen Frauen für die Männerwelt ausgehen würde.

Bei Scheidungen wurde generell über «schuldiges» oder «un­schuldiges» Verhalten entschieden. Arme geschiedene Frauen wurden je nach ihrem «Verschulden» behandelt. Hatte ihr Ehemann sie verlassen oder war er «nichtsnutzig», galten sie für die Armenbehörden als «würdige», von Schicksalsschlägen getroffene Arme, und nur solche wurden unterstützt. Die Unterscheidung zwischen «würdig» und «unwürdig» war auch für die Un­terstützung von Witwen massgebend. Je nach Umständen übernahm die Gemeinde einen Teil der Miet- und Lebenshaltungskosten und ermöglichte ihnen die Selbständigkeit.

Altern im Familienverband: möglichst nützlich bleiben

Bis um 1900 galt es in breiten Kreisen der Bevölkerung als selbstverständlich, dass alte Menschen auch in familialen Ar­beitsgemeinschaften möglichst bis zu ihrem Tod für sich selbst zu sorgen hatten. 1880 lag die statistische Lebenserwartung von Menschen, die das erste Lebensjahr überstanden hatten, bei ungefähr fünfzig Jahren. Das heisst, dass die grosse Mehrheit alter Leute bis zum Tod in einem gewissen Mass arbeitete, auch wenn sich der Radius auf die Stube begrenzen mochte, wo eine alte Grossmutter noch die kleinen Kinder hütete. Am besten war die Lage für diejenigen, die etwas zu vererben hatten, sei es als Eltern oder als ledige Tante. Aus der zukünftigen Erbschaft bezahlten sie Kostgeld, sobald sie nicht mehr arbeiten konnten; oder sie gewährten sogar Darlehen oder leisteten Bürgschaften. Diese Regelungen führten zu zahlreichen Familienkonflikten, wobei etwa die Höhe der zu erwartenden Erbschaft gegen die Unterhaltskosten aufgerechnet wurde. Es sind Fälle belegt, wo sich Familien um alte alleinstehende Tanten mit Erbgut regelrecht stritten. Schwierig war die Lage von Frauen jedoch, wenn sie im gebrechlichen Alter keinerlei Ersparnisse hatten. Das «Gnadenbrot» wurde ihnen gewährt, aber je nach materieller Lage einer Arbeitsgemeinschaft war dies ein hartes Brot. Gemildert wurde das karge Leben allenfalls durch die Anerkennung, welche alte Frauen in frommen Familien genossen, wo sie als fürbittende Alte geschätzt wurden. Durch religiöse Rituale fühlten sie sich mit den Angehörigen verbunden und emotional gestützt.

Arm, alt und allein

Wichtigstes Kriterium für alleinlebende alte Frauen war ihre materielle Situation. Im 19. Jahrhundert und bis nach dem Zweiten Weltkrieg existierte wie erwähnt noch keine allgemeine Alters- oder Krankenversicherung. Auch Angehörigen intakter Arbeitsgemeinschaften drohte im Alter unter Umständen Armut und Isolation. So beispielsweise den Witwen, deren Kinder in nahe oder ferne Gebiete wegzogen – das heisst, wenn die junge Generation mobil wurde, aus wirtschaftlichen Gründen werden musste. Das ärmliche, einsame Leben und Arbeiten dieser Frauen wurde oft gemildert durch den brieflichen Austausch. Wie viele Briefe aus Zürich oder Amerika schilderten der alten Mutter das neue, ungewohnte Leben ihres Sohnes, ihrer Tochter! Und die Mutter konnte ihrerseits in Briefen ihr Leiden oder ihre Einsamkeit beklagen. Durch diese Kontakte blieb das familiale Netz wenigstens auf der emotionalen Ebene intakt. Erfolgreiche Ausgewanderte unterstützten zudem ihre armen daheim gebliebenen Verwandten auch materiell.

Alte arme Frauen ohne Familienverband hatten kaum solche Perspektiven. Gerade Verdingkinder, die ihren Familienanschluss verloren hatten, blieben in der Regel als Mägde und Knechte in Bauernbetrieben oder arbeiteten als Dienstmädchen in bürgerlichen Haushalten. Sie wurden in der Regel weggeschickt, sobald sie gebrechlich wurden. Dass sie am Dienstort bleiben konnten bis zum Tod, war seltene Ausnahme. Sie hatten grossmehrheitlich schon immer an der Armutsgrenze in wechselnden Arbeitsgemeinschaften gelebt, waren körperlich verbraucht und konnten sich nicht selbst durchbringen. Ihre Endstation als Pflegebedürftige war das Verdingtwerden durch die Gemeinde, oder, falls vorhanden, das Armenhaus.

In den Städten erhielten alte alleinstehende Frauen unter Umständen eine gewisse materielle Unterstützung von gemeinnützigen Frauenvereinen oder Kirchgemeinden; so war für sie eine kärgliche Existenz in Mansarden oder Hinterzimmern möglich. Viele dieser Frauen galten als Einzelgängerinnen am Rande der Gesellschaft. Als «schrullige Alte» mit einem «bösen Blick» wurden sie von ihrer Nachbarschaft häufig ausgegrenzt.

Allein in der Villa: Grossmütter und Erbtanten

In wohlhabenden Kreisen war – wie in Arbeitsgemeinschaften – das Zusammenwohnen von zwei oder drei Generationen bis zur Zeit des Zweiten Weltkriegs üblich. Allerdings bot eine Villa ausreichend Platz für mehrere separat geführte Haushalte. In vielen grossbürgerlichen Häusern lebten im einen Stockwerk die alte Mutter oder Tante mit ihrem Dienstmädchen, im anderen der Sohn oder die Tochter mit Familie und Dienstpersonal. Erinnern wir uns an Ida Bindschedlers Roman «Tur­nachkinder»: Die dort geschilderte Grossmama residierte alleine – natürlich mit Personal – in einem grossen Stadthaus und versammelte regelmässig an Sonntagnachmittagen und hohen Festtagen ihre gesamte Familie im Salon um sich herum. In der Regel blieben diese Patriarchinnen Besitzerinnen ihres Vermögens; erst nach ihrem Tod wurde das Erbe geteilt. Diese Frauen blieben in der Regel tätig, so lange sie irgendwie konnten, sei es innerhalb der Familie oder auch in gemeinnützigen Organisationen, wo sie weiterhin Kontakte zu Frauen ihrer Kreise pflegten. Die Idee des Ruhestandes als Phase des Alterns ohne materielle Sorgen und ohne die gewohnten öffentlichen Aktivitäten wurde um 1900 zwar schon propagiert, aber kaum realisiert.

Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg: Zivilstand als Kriterium für ein gesichertes Alter

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in der Schweiz eine allgemeine Altersversicherung, die AHV, eingeführt. Die Lebenserwartung stieg bis 1950 auf rund 64 Jahre bei den Männern und 68 Jahre bei den Frauen. Und zunehmend wurde es der älteren Generation möglich, unabhängig von den Jungen in einer eigenen Wohnung zu leben. Das ökonomische Wachstum der 1950er- und 1960er-Jahre bewirkte, dass die meisten voll erwerbstätigen Männer nach der Pensionierung eine Rente bezogen, die sie und ihre Ehefrau finanziell unabhängig machte. Diese ökonomische Emanzipation der Alten von den Jungen stellte einen radikalen Bruch mit einer jahrhundertelangen Tradition dar. Bis 1970 stieg die Lebenserwartung auf gut 69 Jahre bei den Männern und 75 Jahre bei den Frauen an. Für die meisten älteren Menschen bildete nun die Pensionierungszeit – der sogenannte Ruhestand – eine neue Herausforderung.

Die materielle Absicherung des Alters war explizit eine Errungenschaft, die voll verdienenden Ehemännern mit ihren nicht erwerbstätigen Ehefrauen zugutekommen sollte. Dem gegenüber blieb die Alterssicherung alleinlebender Frauen wie schon im 19. Jahrhundert stark von ihrem privaten Vermögen abhängig. Aufgrund ihrer durchschnittlich kleineren Einkommen erhielten sie in der Regel eine minimale AHV-Rente und oftmals gar keine Pension aus der 2. Säule – diese war vor 1984 freiwillig und hauptsächlich in Männerbranchen etabliert. Das «Fräulein» in der kleinen Einzimmerwohnung, das sich nach einem vollen Berufsleben mit kleinstem Budget durchs Leben schlug, blieb die Norm.

«Das Vierte Lebensalter ist weiblich»

Heute ist die Lebenserwartung für beide Geschlechter auf über achtzig Jahre gestiegen. Diese Generation hat beim Eintritt ins Rentenalter noch eine jahrzehntelange gesunde und finanziell abgesicherte Phase vor sich. Sie besitzt erstmals in der Geschichte mehr Einkommen und Vermögen als die jüngere Generation. Dies gilt explizit nicht für alle Frauen; aufgrund von unter­brochenen Erwerbsbiografien oder minimalen Löhnen zählen manche von ihnen auch heute zu den armen Alten, die sich oft sogar schämen, die ihnen zustehenden Ergänzungsleistungen zu beziehen. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich gegenwärtig im Alter noch stärker als in früheren Zeiten.

Das Alleinleben im Alter ist heute gerade für Frauen eine realistische Perspektive. Der Anteil alleinlebender Frauen im Alter von 65 Jahren beträgt heute 36 Prozent, bei den Achtzigjährigen leben schon zwei von drei Frauen allein. «Alter» ist heute eine jahrzehntelange Phase mit verschiedenen Stadien: Man spricht vom jungen oder dritten Alter nach der Pensionierung und vom vierten Lebensalter bei Hochbetagten, die oft gebrechlich und unterstützungsbedürftig sind.

Allein zu leben im Alter hält besondere Herausforderungen bereit, die sich nicht nur je nach materieller Lage, sondern auch je nach Zivilstand unterscheiden. Für Frauen, die jahrzehntelang in einer Beziehung lebten, bedeutet das plötzliche Alleinleben eine Art Schock, einen Bruch mit Gewohnheiten, die den Alltag und die Überzeugungen prägten. Je nach Alter beinhaltet ihr Alleinleben grundsätzlich verschiedene Anforderungen – von der Verantwortung, neben der Familie einen eigenen Freundeskreis aufzubauen und eigene Interessen zu pflegen, bis zum Erfordernis, bei Pflegebedürftigkeit den eigenen Haushalt aufzulösen und in einer Institution zu leben bis zum Tod. Sogar materiell gut abgesicherte Witwen sehen sich im vierten Lebensalter von Armut bedroht, etwa wenn das Vermögen für die Pflege des Ehemannes bereits aufgebraucht wurde.

Geschiedene und unverheiratete Frauen haben dem ge­genüber häufig schon eine Tradition des Alleinlebens und die Erfahrung, sich organisieren zu können im Alltag, in der Freizeit und in den Ferien. Viele haben ein tragendes Netz von Freundinnen und Familie und diverse Engagements. Dies alles und auch das Bedürfnis, gerne von Zeit zu Zeit alleine zu sein, erleichtert das Alleinleben im Alter. Das vierte Lebensalter kann aber auch diese Frauen vor extreme Herausforderungen stellen, wenn sie betreuungsbedürftig werden.

Unterstützend ist zudem der Trend, dass Frauen das Alter nicht bloss negativ, als Phase des Abbaus, sondern positiv, als Phase mit spezifischen Herausforderungen wahrnehmen. In Bewegungen wie etwa der «GrossmütterRevolution» organisieren sich alte Feministinnen und mischen sich ein in die Diskussionen um Solidarität zwischen den Generationen und innerhalb der Frauen der eigenen Generation. Sie liefern Fakten wie die hier zitierte Studie «Das Vierte Lebensalter ist weiblich» und prägen die gelebte Frauen-Alterskultur entscheidend. Zudem existiert heute eine Fülle von Literatur zum Thema Altwerden als Frau, die nicht wie früher aus der Feder von Ärzten und Pfarrern stammt, welche alten Frauen Trost bieten wollten. Heute sind es die älteren Frauen selbst, die in zahlreichen Publikationen die Prozesse des Reifens und des Sich-Versöhnens als Privileg des Alterns beschreiben – als eine Chance, die wir in früheren Jahren nicht hätten wahrnehmen können.