DIAGNOSE F

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DIAGNOSE F
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Michael Tinnefeld & Uli Bendick (Hrsg.)

DIAGNOSE|F

Science-Fiction trifft Psyche

AndroSF 138

Michael Tinnefeld & Uli Bendick (Hrsg.)

DIAGNOSE F

Science-Fiction trifft Psyche

AndroSF 138

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: Februar 2021

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Uli Bendick & Mario Franke

Illustrationen: Uli Bendick, Mario Franke

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda Michael Haitel

Lektorat: Michael Tinnefeld

Korrektorat: Michael Tinnefeld, Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda Michael Haitel

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

ISBN des Paperbacks: 978 3 95765 230 0

ISBN des Hardcovers: 978 3 95765 231 7

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 864 7

Vorwort

Wie kam es zu dem Titel? Wie kam es überhaupt zu der Idee zu dieser Anthologie?

Fairerweise muss man sagen, dass nicht ich, der beteiligte Psychologe und approbierte Psychotherapeut, die Idee zu diesem Buch hatte, sondern der Grafiker Uli Bendick.

Als dieser das Titelbild zu einem Roman, den ich zusammen mit Gerhard Huber verfasst habe (»Die Heilerin von Hangay«, Perry-Rhodan-FanEdition 20), kreiert und in meiner Kurzvita meinen Beruf erblickt hat, sah er die Stunde für seine lange in ihm gereifte Idee gekommen und fragte mich im Oktober 2018 kurzerhand, ob ich Lust hätte, zusammen mit ihm das Projekt zu stemmen. Natürlich hatte ich – und sagte zu.

Die Arbeitsteilung stand entsprechend seiner Idee von Anfang an fest: Uli würde die Illustrationen zu den Storys beisteuern, ich würde die Storys lektorieren. Zudem sollte ich zu jeder Story einen diagnostischen Kommentar verfassen. Später bot sich Mario Franke als zweiter Illustrator an. Die beiden Künstler haben sich die Arbeit geteilt und zu jeder der in diesem Buch veröffentlichten Geschichte eine Illustration erstellt. Der findige Leser wird aufgrund des unterschiedlichen Stils schnell die Grafiken dem jeweiligen Künstler zuordnen können.

Eine Besonderheit stellt unsere Coverillustration dar, die als einzige im Teamwork und im permanenten Austausch entstand. Uli und Mario fügten Elemente hinzu, nahmen andere wieder heraus oder bearbeiteten bereits vorhandene, solange, bis beide Künstler zufrieden waren.

Quasi als Nebenprodukt entstanden im Teamwork noch zwei weitere Illustrationen sowie einige Einzelarbeiten, die Sie im Anhang als Dreingabe finden.

Der ursprüngliche Arbeitstitel hat sich nur wenig verändert. Aus »F-Diagnosen« wurde das griffigere »Diagnose F«.

Was hat es nun mit dem Titel auf sich? Es gibt weltweit zwei große Klassifikationssysteme, die versuchen, die diagnostischen (Unterscheidungs-) Kriterien psychischer Störungen mit jeder Auflage immer genauer abzubilden: Kapitel F der ICD-10 und das DSM-V (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Edition V; auf gut Deutsch: »Diagnostisch-statistischer Leitfaden psychischer Störungen, Ausgabe 5«) der amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft.

Die ICD steht für »International Classification of Diseases«, also die internationale Klassifikation sämtlicher Erkrankungen, und wird herausgegeben von der Weltgesundheitsorganisation, der World Health Organization (WHO). Subkapitel F umfasst besagte psychische Störungen.

Die nächste Ausgabe der ICD, die ICD-11, wurde im Mai 2019 von der WHO verabschiedet. Sie soll frühestens mit Beginn des Jahres 2022 in Kraft treten, sowohl in Deutschland als auch der übrigen Welt. Während der fünfjährigen Übergangsfrist bis Ende 2026 dürfen beide Systeme parallel verwendet werden. Die englischsprachige Version liegt bereits vor. Es wird neue Diagnosen geben (z. B. Gaming disorder – Computerspielsucht), bestehende werden zum Teil anders und genauer beschrieben.

Für uns bzw. unseren Titel gilt zum Glück noch die ICD-10, denn in der ICD-11 wird es eine komplett neue Aufteilungsstruktur und Diagnosencodierung geben. Psychische Störungen werden nicht mehr mit einem Großbuchstaben am Anfang codiert, sondern größtenteils im Kapitel 06 zusammengefasst. Dementsprechend müsste der Titel dieser Anthologie »Diagnose 06« lauten.

Im Gegensatz zur derzeit gültigen ICD-10 sind die diagnostischen Kriterien in der aktuellen fünften Ausgabe des DSM wesentlich stärker operationalisiert, was unter anderem bedeutet, dass sie detaillierter und umfassender beschrieben und somit auch genauer und konkreter gemessen bzw. beobachtet werden können. Die Diagnosefindung ist deshalb mit diesem System oft besser und verlässlicher möglich.

Während im Austausch mit anderen Beteiligten des Gesundheitssystems, also Krankenkassen, Psychiatern, Neurologen, Hausärzten, Kliniken etc. ausschließlich nach ICD-10 diagnostiziert und verschlüsselt werden muss, ziehe ich innerhalb der Therapien deshalb oft zusätzlich das DSM-V zurate, eben weil hier mehr und genauere Krankheitsaspekte und -beschreibungen zu finden sind.

Ein knappes Jahr lang, bis Ende November 2019, lief die Ausschreibung zu unserem Projekt »F-Diagnosen«. Das Thema interessierte nicht nur uns, sondern glücklicherweise viele Autoren. Wir erhielten zahlreiche Zuschriften, genau gesagt vierundsiebzig Storys, darunter auch einige aus dem europäischen Ausland.

Das freute uns, bedeutete aber auch viel Arbeit. Bevor überhaupt ans Lektorieren zu denken war, mussten erst einmal alles Storys gelesen und bewertet werden. Es gab zwei harte Kriterien, die auf jeden Fall erfüllt werden mussten, um Eingang in unsere Anthologie zu finden.

Erstens: Die Story musste mindestens eine psychische Störung thematisieren.

Zweitens: Es musste eine Science-Fiction-Story sein.

Nicht alle Kurzgeschichten erfüllten diese Hauptkriterien. Schweren Herzens mussten wir also deren Autoren eine Absage erteilen, auch wenn die Geschichte noch so gut erzählt war. Bei den verbliebenen Storys ging es hinsichtlich der Auswahl um die üblichen Verdächtigen wie Plot, Spannung, Lesefluss, Figuren und Stil.

Die verbliebenen fünfunddreißig Storys können Sie, lieber Leser, nun in der vorliegenden Anthologie lesen.

An diese Stelle sei angemerkt, dass wir dem Begriff Science-Fiction im wahrsten Sinn des Wortes gerecht werden wollten, indem wir bewusst eine Mischung zwischen Wissenschaft, Fakten und Fiktion präsentieren. Zum einen, weil dies als Psychotherapeut mein Fachgebiet ist, zum anderen, weil gerade das große Feld der psychischen Störungen einen sehr weiten Raum eröffnet, in dem sich die hier vertretenen Autoren kreativ austoben konnten.

Außerdem wollten wir jeder Story einen fachlich fundierten und selbst für den psychologisch ungeschulten Leser verständlichen Hintergrund – den diagnostischen Kommentar – mitgeben. (Siehe hierzu auch die Hinweise zu den diagnostischen Kommentaren im Anschluss an dieses Vorwort.)

Die Erzählungen, die uns die Autoren zugeschickt haben, bilden leider nicht alle Diagnosen zu allen Störungsbildern ab. Bestimmte Störungen waren beliebter als andere. Während das Thema »Protagonist verliert Kontakt zur Realität« (Psychose) sehr beliebt war und wir sehr viele Zuschriften hierzu erhalten haben, vermissen wir Geschichten zu anderen Problembereichen wie beispielsweise Essstörungen, Phobien oder soziale Ängste.

Um beim linear vorgehenden Leser keine Langeweile aufkommen zu lassen, haben wir uns gegen das Bündeln von Storys mit ähnlichen Diagnosen entschieden. Die Reihenfolge der hier vorgestellten Storys orientiert sich also nicht an Diagnosen. Für Uli und mich war Abwechslung das wesentliche Sortierkriterium.

Je nachdem, wie die Anthologie von der Leserschaft aufgenommen wird, planen wir einen Folgeband, in den eventuell hier nicht berücksichtigte Störungsbilder Eingang finden.

Im Register am Ende des Buches finden Sie bei den betreffenden Geschichten den Diagnoseschlüssel in der in der ICD-10 üblichen F-Codierung (z. B. F42.2). Wo eine diagnostische Zuordnung nicht eindeutig möglich war, finden Sie statt des F-Schlüssels ein das Hauptsymptom beschreibende Wort (z. B. Dermatozoenwahn).

Michael Tinnefeld

Essen, im Sommer 2020

Hinweise zu den diagnostischen Kommentaren

Hier folgen einige Anmerkungen zum Gebrauch bzw. zur richtigen Lesart der diagnostischen Kommentare.

Es werden zwar differenzialdiagnostische Überlegungen angestellt, die Kommentare sollen jedoch lediglich, in kursorischer Form, einen Überblick bzw. eine diagnostische Einordnung erlauben. Für Uli, Mario und mich standen und stehen die Storys im Vordergrund, nicht die Diagnostik.

Deshalb fallen die Kommentare mal kürzer, mal ausführlicher aus. Sie erheben keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit und ersetzen keinesfalls ein Lehrbuch! Für diejenigen, die sich intensiver mit dem Thema auseinandersetzen möchten, sei auf entsprechende Fachliteratur verwiesen (siehe weiterführende Literatur zur ICD und zum DSM im Anhang). Eine saubere Diagnostik ist wichtig für die anschließende Therapie. Im ungünstigsten Fall führt eine falsche Diagnose zu einer falschen Behandlung. Diagnostik in der Psychotherapie kann als hypothesengeleitetes Vorgehen verstanden werden, d. h. die Diagnose macht den Therapeuten handlungsfähig, sodass er eine gezielte Behandlung einleiten kann, und gilt so lange, bis in der Therapie etwas eintritt, was zu einer Diagnosenanpassung (und damit auch zu einer Behandlungsanpassung) führt.

 

Da es sich ausdrücklich nicht um ein Fach- bzw. Lehrbuch handelt, verzichten wir auf die in Fachbüchern und -journalen üblichen Quellenangaben. Die aus meiner Feder geflossenen diagnostischen Kommentare entstammen jahrelanger praktischer Tätigkeit und Erfahrung als Diplompsychologe und Psychologischer Psychotherapeut.

Die Kommentare habe ich nach bestem Wissen und Gewissen, mit größtmöglicher Sorgfalt, verfasst. An den wenigen Stellen, an denen ich gezielt in Fachbüchern nachgeschlagen und zitiert habe, habe ich die Quelle direkt im Text benannt.

Manchmal war das Finden einer oder mehrerer Diagnosen in einer Geschichte einfach, erst recht, wenn der Autor die Diagnosen gleich mitlieferte oder sie in der Story benannt wurden. In anderen Kurzgeschichten war es nicht möglich, eine eindeutige Diagnose zu finden. Hier hätte es eines diagnostischen Interviews des Patienten, also des Protagonisten bedurft, um Informationen über die in der Story gelieferten hinaus zu erhalten. Es liegt in der Natur der Sache, dass dies schlechterdings unmöglich war.

Manchmal gaben die Autoren im Austausch mit mir diagnostische Hinweise, quasi stellvertretend für ihre Protagonisten, sodass eine diagnostische Zuordnung erleichtert wurde.

Wie es in einer Science-Fiction-Anthologie nicht anders zu erwarten ist, erzählen einige Geschichten von psychischen Problemen, für die es (noch) keine Diagnose gibt. In diesen Storys muss also die literarische von der psychologisch-psychiatrischen, gegenwärtigen Realität unterschieden werden.

Das mit Abstand beliebteste Thema bei den an der Ausschreibung teilnehmenden Autoren war die Psychose, bei der die Protagonisten den Bezug zur Realität verlieren. Unter den vorstellbaren psychotischen Symptomen interessierte Autoren besonders der Wahn, vor allem der Verfolgungs- oder Verschwörungswahn – die Paranoia im engeren Sinne.

Vom Wortursprung her ist Paranoia mit Wahn gleichzusetzen, gleich, welchen Inhalt der Wahn hat. Paranoia stammt aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie »wider den Verstand«, also verrückt oder wahnsinnig. Häufig wird es jedoch, was fachlich nicht korrekt ist, nur bei bestimmten Wahninhalten angewendet, eben bei Verfolgungs- oder Verschwörungswahn (Christian Scharfetter: »Allgemeine Psychopathologie«, Thieme, 2017). Dabei gibt es noch eine Reihe anderer Wahnideen, wie den Beziehungswahn, den Größenwahn, den religiösen Wahn, den Liebes- oder Eifersuchtswahn oder körperbezogene Wahnideen, um nur einige zu nennen.

Uli und ich haben allein zehn Storys veröffentlicht, die Paranoia in eben dieser auf Verfolgungs- oder Verschwörungswahn reduzierten Bedeutung als Haupt- oder Nebenthema behandeln. Wie bereits im Vorwort erwähnt, haben wir die Reihenfolge der Storys nicht nach Diagnoseschlüsseln ausgewählt. Da in den diagnostischen Kommentaren zu den betreffenden Storys jeweils sich ergänzende Aspekte zu Verfolgungswahn genannt werden, sind im Folgenden diese Erzählungen aufgelistet:

»Kiss« (Lea Baumgart), »Ghostwriter« (Markus Korb), »Ausgefallen« (Markus Regler), »Bürger 39« (Nora Hein), »Basteleien« (Gerry Rau), »Morgellons Krankheit und Ekboms Irrtum« (Rainer Schorm), »Doktor T.« (Andreas Müller), »Weisheiten« (Maike Braun), »Büchel« (Johann Seidl) und »Paranoia« (Monika Niehaus).

Insgesamt präsentieren wir sogar vierzehn Kurzgeschichten, die sich mit dem übergeordneten Symptomkomplex Psychose, Wahn, Halluzinationen und Realitätsverlust beschäftigen. Neben den zehn genannten sind das: »Der Fall Häwelmann« und »Folie à deux« (beide von Monika Niehaus), »Ton in Ton« (Ellen Norten) und »Ero(bo)tomanie« (Janika Rehak).


Uli Bendick: Virtul


Anzeige in der »E-Sport Times« – Ausgabe 3/2037

Zarko erwachte im Morgengrauen. Das kleine Feuer war über Nacht heruntergebrannt, und es fröstelte ihn. Aber er fühlte sich erholt und wieder bei Kräften. Die dreitägige Überquerung des Tourong-Gebirges lag hinter ihm. Er musste noch die Schlucht der lebenden Steine durchqueren, dann war er am Ziel: die rostigen Höhlen von Skrill.

Zarko aß etwas Trockenfleisch, trank einige herzhafte Schlucke aus einem ledernen Wasserbeutel und legte seinen Waffengurt an. Die Blutgier-Klinge links, den Knochenspalter, seine Kampfaxt, rechts. Auf den Rücken schnallte er sich, über den Proviantsack, sein magisch aufgeladenes Runenschild, an dem alle metallischen Waffen zerbrachen.

»Na dann! Auf geht’s!«

Beherzt schritt er aus. Er wollte so schnell wie möglich die Schlucht hinter sich bringen. Zarko hatte Gerüchte über lebende Steine gehört, die sich angeblich nicht von ihrer Umgebung unterschieden. Sie seien quasi unsichtbar, und die Mineralien menschlicher Knochen sollten eine Delikatesse für sie sein.

Zu Beginn war der Weg durch die Schlucht breit, doch er wurde immer schmaler. Rotbraune, steile Felswände säumten den Weg, oft musste er über mannsgroße Felsbrocken steigen. Manchmal glaubte er, aus den Augenwinkeln heraus Bewegungen wahrzunehmen, sicher war er sich allerdings nicht.

Der Weg bog scharf rechts ab. Zarko verspürte ein Kribbeln im Nacken. Gefahr? Vorsichtig schaute er um die Ecke, konnte aber nichts Verdächtiges entdecken. In zwei- bis dreihundert Metern Entfernung sah er das Ende der Schlucht.

»Das sollte zu schaffen sein«, freute er sich und legte eine schnellere Gangart ein. Urplötzlich versperrten ihm große Felsen den Weg. Zarko war sich sicher, dass sie eben noch nicht dagewesen waren.

»Wo kommt ihr denn her?«, rief er verdutzt, aber die Steine reagierten nicht. Er drehte sich um, um ein Stück zurückzugehen, aber auch dort standen diese Steine. Sie kamen im Zeitlupentempo näher.

»Scheiße!« Zarko war umzingelt. Fieberhaft dachte er nach, suchte einen Ausweg. Die Steine bewegten sich nicht mehr. Sie schienen zu warten. »Wollt ihr etwa so lang hier rumstehen, bis ich verrottet bin und ihr meine Knochen lutschen könnt?«

Auf einmal wusste er, was zu tun war. »Raban, dem Weisen, sei Dank!«, rief er aus.

Das Jahr mühsamen Studiums der Fauna und Flora sowie aller realen und mythischen Lebensformen Virtuls in Rabans Bibliothek war, wie sich oft gezeigt hatte, nicht umsonst gewesen.

Nachdem er einige Aufträge für Raban erledigt hatte, hatte dieser Zarko persönlich in die Kunst der Gestaltwandlung eingeweiht. Immerhin war er inzwischen ein Stufe-Drei-Polymorph. Außer in unbelebte Materie und Pflanzen gelangen ihm alle Verwandlungen in Lebewesen, deren geistiges Niveau nicht höher als sein eigenes war.

Allerdings bestand bei jeder Verwandlung die Gefahr, dauerhaft in dieser Gestalt verbleiben zu müssen, wenn er nicht innerhalb von sieben Stunden wieder in seinen eigenen Körper schlüpfte. Hinzu kam, dass dieser Prozess ein sehr kräfteraubender Vorgang war.

Zarko hatte zwar auch eine solide Grundausbildung im Schwert- und Axtkampf absolviert – aber was sollte er mit diesen Waffen gegen Steine ausrichten? Einen anderen Weg gab es also nicht.

Er konzentrierte sich und schloss die Augen. Nach einigen Sekunden versteifte sich Zarko, seine Knochen knackten. Sein Körper wurde größer, härter und überragte schließlich die Felsen. Er wurde zu einem grauen Steinriesen.

Zarko brüllte guttural, packte mit seinen Pranken einen der lebenden Steine und schleuderte ihn mit Wucht gegen die Wand der Schlucht, sodass er zerbrach. Bevor Zarko es sich versah, waren die Felsen so schnell verschwunden, wie sie aufgetaucht waren.

Zarko-Steinriese brüllte triumphierend. Der Weg war frei. Unbehelligt verließ er die Schlucht. Nach einer weiteren Wegbiegung stand er endlich vor dem halb zerfallenen Tor der rostigen Höhlen.

Zarko verwandelte sich zurück. Er musste ausruhen. Die Verwandlung hatte ihm viel Kraft abverlangt. Er gönnte sich einen Schluck Wasser. Shit, mein Vorrat geht zur Neige, dachte er. Ich muss sparsamer sein. Wer weiß, was mich noch erwartet.

Carlo May hatte die Schnauze gestrichen voll. Vor sechs Monaten hatte er das letzte freie Einzimmerappartement seines Mietshauses, am Rande Frankfurts gelegen, an Marko Zarkowitzky vermietet. Die ersten drei Monate hatte dieser im Voraus bezahlt, plus der Kaution, aber seitdem hatte er, trotz mehrerer Mahnungen, nichts mehr von ihm erhalten. Keinen Cent. Carlo May wollte für klare Verhältnisse sorgen: entweder Geld oder raus!

Da Zarkowitzky weder auf sein Klingeln noch auf sein Rufen reagierte, öffnete Carlo mit seinem illegalen, aber durchaus nützlichen Generalschlüssel die Wohnungstür. Carlo handelte dabei entsprechend seinen Erfahrungen mit Mietern. Heutzutage weiß man nie, wen man sich ins Haus holt, dachte er. Und Vorsicht ist besser, als hinterher den Schaden zu haben.

Im Appartement war es beinahe dunkel. Er stolperte über leere Flaschen und Türme aus alten Pizzaschachteln. Es roch übel. Carlo May kämpfte sich zum Fenster durch und ließ das Rollo nach oben schnellen. Er riss das Fenster auf. Frische Luft vertrieb den Mief.

Zarkowitzky lag verkrümmt am Boden. Carlo May schüttelte ihn, rief seinen Namen und gab ihm ein paar Ohrfeigen, doch Zarkowitzky rührte sich nicht. Schließlich fühlte er seinen Puls, der kaum tastbar war. Daraufhin verständigte er den Notarzt. Bis der eintrifft, kann ich mich ja schon mal nach meiner Kohle umsehen, dachte er.

Die Dunkelheit in den Höhlen war undurchdringlich, ein leicht säuerlicher Geruch lag in der Luft. Zarko tastete sich bereits seit einer gefühlten Ewigkeit durch tunnelartige Gänge, die sich hinter dem Tor durch den Untergrund schlängelten. So kam er nicht weiter.

Ihm war bewusst, dass er mit seinen Kräften haushalten musste. Um voranzukommen, verwandelte er sich jedoch erneut, und zwar in einen Gruftalb. Gruftalben waren kleinwüchsige, aber sehr flinke, wehrhafte, menschenähnliche Wesen mit riesigen gelben Augen, die eines perfekt konnten: im Dunkeln sehen.

Jetzt erkannte er, woher die rostigen Höhlen ihren Namen hatten: Die Wände bedeckte ein rotbrauner, teilweise schwarzer Belag aus Rost, der metallisch schimmerte. Schöner Effekt, dachte Zarko.

Er kam jetzt deutlich schneller voran. Irgendwann verbreiterte sich der Gang und weitete sich zu einer Halle, in der bequem ein ganzes Fußballstadion Platz gefunden hätte. Die hohen Wände vereinigten sich zu einer Art Kuppel.

Am anderen Ende der Halle erkannte Zarko zwei Sockel. Auf jedem von ihnen ragte die Statue einer bronzenen Riesenameise, aufgerichtet auf ihren hinteren Beinpaaren, in die Höhe. Die vorderen Gliedmaßen der Ameisen hielten jeweils eine exotisch aussehende Klinge.

Mit seinen Gruftalbaugen konnte Zarko etwa fünfzig Meter hinter den Statuen ein über und über mit seltsamen Zeichen verziertes, kreisrundes Tor erkennen, das den weiteren Weg versperrte.

Sind das Schriftzeichen der alten Höhlenbewohner? Wer waren sie? Jene Riesenameisen? Das fragte sich Zarko-Gruftalb, während er zwischen den Statuen hindurch langsam auf das Tor zuschritt. Der Hallenboden war übersät von Skeletten, menschlichen wie nichtmenschlichen. Einige hielten sogar noch ihre Waffen in den Knochenfingern. Eine dicke, rostrote Staubschicht bedeckte sie.

Zarkos Schritte wirbelten den Staub auf, der ihm unangenehm in der Nase kratzte. Er fragte sich, wer oder was diese armen Kreaturen ins Jenseits befördert hatte.

Er hing diesen Gedanken nach, als ihn knarrende Geräusche aufschreckten. Er fuhr herum. Hinter ihm verschloss sich der Gang, der ihn in die Halle geführt hatte. Gleichzeitig öffneten sich Dutzende kleinerer Tunnel, die versteckt in den Wänden geschlummert hatten, als hätten sie nur auf diesen Moment gewartet.

 

Der Notarzt legte Marko Zarkowitzky, dessen Zustand kritisch war, eine Infusion mit Kochsalzlösung und sprach gleichzeitig über sein Headset mit dem diensthabenden Arzt der Notaufnahme des örtlichen Krankenhauses: »Simon, alter Metzger, ich schicke dir jetzt Patient Zarkowitzky, Marko, dreiundzwanzig.

Er ist nicht ansprechbar, Blutdruck neunzig zu sechzig, Puls einhundertzwölf, arrhythmisch. Erhöhte Atemfrequenz. Ich habe ihm das Übliche zur Kreislaufstabilisierung injiziert und NaCl angehängt. Keine sichtbaren Verletzungen, außer einer frisch vernarbten, anderthalb Zentimeter großen Stelle an der rechten Schläfe, circa ein halbes Jahr alt.

Patient ist völlig dehydriert, geschätzte letzte Flüssigkeitszufuhr vor zwei Tagen. Deutliche Anzeichen von Verwahrlosung und Mangelernährung.

In den Augen hat der Gute diese neuen, verspiegelten Gamer-Kontaktlinsen, voll aktiviert natürlich. Da ich sie nicht abschalten kann, müsst ihr das übernehmen. Übrigens, dazu passt auch die frische Narbe am Kopf – ist typisch für die Cerebrum-Bio-Chip-Träger.

Vorläufige Verdachtsdiagnose: hochgradige Spielsucht, kombiniert mit massiver körperlicher Vernachlässigung. Zusammenbruch nach mehreren Tagen Nonstop-Gaming. Mein Rat: Zieh einen Neurologen und einen Elektronikspezialisten hinzu. Alles klar? Na dann – frohes Schaffen!

Sehen wir uns nach Feierabend auf ein Bier bei Lissy? O Gott, da kommt schon der nächste Notruf rein! Bis dann, Alter!«

Hunderte von handtellergroßen Ameisen ergossen sich aus den Öffnungen, krabbelten emsig über die blank abgenagten Knochen, wirbelten den rötlichen Staub auf und drohten Zarko-Gruftalb einfach zu überrennen.

Angesichts der Skelette, mit denen der Hallenboden übersät war, war sich Zarko sicher, dass sie auch ihn innerhalb kürzester Zeit in ein solches verwandeln würden. Er wusste nun, woher der leicht säuerliche Geruch in diesem unterirdischen Reich herrührte: Die heranstürmenden Ameisen verströmten ihn.

Mehr als beunruhigt schaute er sich um, griff mit der Rechten nach seiner Blutgier-Klinge, während er in die Linke den Knochenspalter nahm. Zarko wirbelte im Kreis herum, beide Waffen nach unten gerichtet, und drosch auf die Ameisen ein. Körperflüssigkeiten spritzten aus zerfetzten Leibern, aber so sehr er sich auch erwehrte – gegen diese Massen konnte keine Waffe, kein Gruftalb, kein Mensch, nicht einmal ein ausgehungerter Riesenameisenbär etwas ausrichten.

Sein Blick fiel auf die Statuen. Okay, entweder ist das die Lösung oder mein Untergang, dachte er. Game Over oder Next Level, das ist hier die Frage!

Mit letzter Kraft nahm er die Gestalt einer Riesenameise an.

Seine kleineren Artgenossen hielten abrupt inne, schienen sich ehrfürchtig vor ihm zu ducken und zogen sich ebenso rasch, wie sie gekommen waren, wieder in ihre Tunnel zurück.

Mit derartigem Erfolg hatte Zarko-Riesenameise nicht gerechnet, wenngleich er eine Wirkung erhofft hatte. Langsam beruhigte er sich. Er hatte keine Kraft mehr, sich zurückzuverwandeln. Zuerst musste er etwas essen, trinken und ausruhen. Außerdem schätzte er das Risiko hoch ein, dass diese Biester zurückkamen. Maximal sieben Stunden blieben ihm, um sich in einen Menschen zurückverwandeln zu können. Überschritt er diese, müsste er für immer in dieser Gestalt bleiben.

Während er als Riesenameise Wasser trank und etwas Trockenfleisch knabberte, überlegte Zarko für einen Moment, ob er nicht die Gelegenheit nutzen sollte, auch seinem realen Körper Flüssigkeit und einen kleinen Imbiss einzuverleiben. Er verwarf den Gedanken sofort wieder. Dazu ist später noch Zeit.

Zarko spürte, dass er kurz vor Abschluss des Levels stand. Sobald er es vollendet hatte, würde er sich um seinen realen Körper kümmern und auch diesem einige Stunden Schlaf gönnen. Gerade aber war es viel zu spannend, das Spiel zu unterbrechen.

Zarko schleppte sich weiter Richtung Tor.

In eine Ameise hatte er sich noch nie verwandelt. Mit jeder Bewegung konnte er besser mit seinem neuen, fremdartigen Körper umgehen. Gleichzeitig gewöhnte er sich an seine Ameisensinne. Gerade jetzt nahm er eine Duftbotschaft wahr, die er intuitiv verstand. Er wusste, was er als Nächstes tun musste.

Unmittelbar vor dem Tor ertasteten seine Beinpaare parallel angeordnete Vertiefungen im Boden, in die exakt seine sechs Gliedmaßen passten. Als das letzte seiner Beine die zugehörige Mulde berührte, sprangen aus dem Tor zwei Stiele hervor, die sich ihm entgegenstreckten. Instinktiv berührte er sie mit seinen Fühlern.

Das Tor teilte sich in sechs Segmente, die langsam in die Wand glitten und eine weitere Halle freigaben. Wenn eine Ameise lächeln könnte, hätte Zarko jetzt ein breites Ameisengrinsen gezeigt.

Doktor Simon trug beim Ärztekonsil den Fall Zarkowitzky vor: »Der Patient ist zur Zeit kreislaufstabil und kann selbständig atmen, Lunge ist frei. Die intravenöse Zufuhr von dreitausend Millilitern Flüssigkeit alle vierundzwanzig Stunden seit seiner Aufnahme und die künstliche Ernährung via PEG haben das physische Gesamtbild positiv verbessert.

Im MRT zeigte sich, dass die Vermutung des Notarztes korrekt war. Der Patient trägt einen dieser neuen CB-Chips im Gehirn, in seinen Augen die dazugehörigen Kontaktlinsen. Das heißt: Ungeachtet seines körperlichen Zustandes ist er weiterhin in seiner virtuellen Spielwelt unterwegs.

Allerdings ist die Situation aus wirtschaftlicher Sicht besorgniserregend. Das Problem, das sich uns bietet, kann ihnen Professor Doktor Karlow, die ich auf Anraten des Leiters der hiesigen Neurologie und Psychiatrie um Hilfe gebeten habe, besser als ich darlegen. Danke, verehrte Kollegen.«

»Danke für ihre Aufmerksamkeit!«, übernahm Professor Doktor Belinda Karlow nahtlos. »Ich erspare Ihnen die Vorstellung meiner Vita; die können sie googeln.

Zur Sache: Weder Cerebrum-Bio-Chips noch die dazugehörigen Linsen lassen sich von außen abschalten. Würden wir dies gewaltsam versuchen oder den Chip im aktivierten Modus operativ entfernen, kann dies zu einer erheblichen Schädigung des Gehirns führen, inklusive massiver psychischer Beeinträchtigungen.

Im schlimmsten Fall könnte ein derartiger Eingriff zum Tod des Patienten führen. Die aktiven Linsen zu entfernen, hieße, das Erblinden des Patienten billigend in Kauf zu nehmen.

Beides, Chip und Linsen, sind mit einem Codewort steuerbar, das der Spieler sich selbst aussucht. Er muss nur an das Codewort denken, um sich in seine Spielwelt ein- oder auszuloggen.

Wie Sie sicherlich wissen, ist dies kein Einzelfall. Weltweit sind aktuell ungefähr eintausendachthundert Menschen akut gefährdet und bereits über fünfhundert von ihnen an Dehydrierung und Unterernährung gestorben, nur weil sie sich nicht aus der virtuellen Welt lösen wollten. Tendenz steigend.«

Sie machte eine Pause, um die Worte wirken zu lassen, und fuhr dann fort: »Selbst wenn wir den Patienten künstlich am Leben erhalten, was theoretisch möglich ist, stellt sich irgendwann die Frage: Wie lange wollen und können wir uns das als soziale Gemeinschaft leisten?

Wenn wir monatliche Kosten von bis zu dreißigtausend Euro für die Pflege auf einer Intensivstation zugrunde legen – und selbst in einem Alten- und Pflegeheim liegen die Kosten für einen Härtefall noch bei circa sechstausend Euro, wovon die Krankenkassen derzeit etwa zweitausend Euro finanzieren –, kann man sich ausrechnen, dass dies nicht unbegrenzt toleriert wird, nur damit der Patient weiterhin zockt. Es ist eine Frage der Zeit, bis uns Ämter und Krankenkassen den Geldhahn zudrehen.«

Einige Konferenzteilnehmer nickten bestätigend.

»Eventuell gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma. Gemeinsam mit Doktor Ismael Asmov arbeite ich derzeit in unserem neurotronischen Labor an einem Projekt, das die Auswirkungen implantierter Chips, wie wir sie im Fall Zarkowitzky sehen, erforscht.

Inzwischen haben wir eine Technik entwickelt, die uns vielversprechend erscheint und nicht nur die Gesundheit des Patienten, sondern auch die gesellschaftlichen Kosten schont. In theoretischen Simulationen, speziell abgestimmt auf den CBC, führte der Einsatz dieser Methode zu neunzig Prozent zum gewünschten Erfolg.«