Der bürgerliche Staat

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Der bürgerliche Staat
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Resultate

Hg. Karl Held

Der bürgerliche Staat

GegenStandpunkt Verlag

© GEGENSTANDPUNKT VERLAG 2018

Gegenstandpunkt VerlagsGmbH

Kirchenstr. 88, 81675 München

Alle Rechte vorbehalten

Unveränderte Neuauflage der Ausgabe 1980,

erschienen im Resultate Verlag

ISBN der Druckausgabe 978-3-929211-03-0

Epub ISBN 978-3-929211-29-0

Der bürgerliche Staat
Inhaltsverzeichnis

Vorwort

1

2

3

§ 1 Freiheit & Gleichheit – Privateigentum – abstrakt freier Wille

a)

b)

c)

d)

§ 2 Souveränität – Volk – Grundrechte – Repräsentation

a)

b)

c)

d)

e)

§ 3 Gesetz – Rechtsstaat – Demokratie

a)

b)

c)

d)

e)

f)

§ 4 Recht – Schutz von Person & Eigentum – Moral

a)

b)

c)

d)

e)

f)

§ 5 Ideeller Gesamtkapitalist – Sozialstaat

a)

b) Die Leistungen des Staates für die Eigentümer von Produktivvermögen

c) Die Leistungen des Staates für seine lohnabhängigen Bürger

d)

e)

§ 6 Steuern

a)

b)

c)

d)

§ 7 Finanzpolitik – Haushalt – Staatsverschuldung

a)

b)

c)

d)

e)

§ 8 Allgemeinwohl – Wirtschaftspolitik

a)

b)

c)

d)

e)

§ 9 Demokratisches Procedere: Wahlen – Parlament – Regierung

a)

b)

c)

d)

e)

f)

§ 10 Bürgerliche Öffentlichkeit – Meinungspluralismus – Toleranz

a)

b)

c)

d)

e)

f)

g)

Vorwort *)
1

Die vorliegende Analyse unterscheidet sich erheblich von den Schriften, die seit einem Jahrzehnt als Beitrag zur „Staatsableitungsdebatte“ erscheinen. Sie ist nämlich die Staatsableitung, beendet also jene unselige Debatte für all diejenigen, die ein Interesse an der Erklärung des Staates haben, weil sie objektives Wissen brauchen über Grund, Zweck und Verlaufsformen der politischen Herrschaft im Kapitalismus. Der Unterschied zur Literatur über die Staatsableitung, insbesondere zur Literatur über die einschlägigen Projekte, ist nicht schwer festzustellen, weswegen eine kurze Zusammenfassung genügt, um den Lesern Enttäuschungen zu ersparen.

Vorenthalten werden ihnen zunächst einmal Erörterungen über die Schwierigkeiten, die einer Ableitung des Staates im Wege stehen. Die methodologischen Veranstaltungen, mit denen linke Intellektuelle der Durchführung einer Staatstheorie ausweichen, fehlen gänzlich. Es wird also nicht im Jargon bürgerlicher Wissenschaftstheorie die Frage zum dreitausendsten Male gestellt, ob und wie eine Staatstheorie möglich sei; es werden auch keine Probleme „problematisiert“, welche von irgendwelchen Kategorien, Dimensionen, Ebenen der Theorie herstammen sollen und ihr Verhältnis zur „Empirie“ und Geschichte zu hinterfragen gebieten. All diese „Ansätze“ und „Fragestellungen“ erfinden ja mit allerlei komplizierten Bedingungen, die den Staatstheoretikern angeblich das Leben so schwer machen, nur die Unmöglichkeit, zu einem objektiven Urteil über den im Titel erwähnten Gegenstand zu gelangen. Inzwischen ist man auch unter Linken dahin übereingekommen, das eigene Desinteresse an objektiver Wissenschaft zu einer „Schwierigkeit“ umzulügen, die man dann auch noch der Sache, die man bespricht und doch nicht erklären will, als Eigenschaft andichtet – bis hin zu der genialen Leistung, den Staat als „komplex“ und als „Struktur“ vorzuführen.

Des weiteren hat uns im Unterschied zu denen, die uns der Arroganz bezichtigen, auch die Tatsache wenig belastet, dass der Staat gar nicht existiert, sondern nur „historisch gewordene“ und höchst unterschiedliche Staatswesen. Wie der Name schon sagt, handelt es sich bei all den Staaten eben um Staaten, und erschienen im Resultate Verlag deren gemeinsame Prinzipien erklärt eine Staatstheorie. dass sich an Besonderheiten Allgemeines nicht finden lasse, halten wir für ein Gerücht, welches die albernste Form der öffentlichen Abdankung eines Theoretikers darstellt. Diejenigen, die den Unterschied zwischen englischem und deutschem Recht, zwischen italienischer und deutscher Sozialgesetzgebung bemühen, um sich den Begriff von Recht und Sozialstaat zu ersparen, werden mit diesem Begriff auch keine Besonderheiten richtig analysieren, weil sie ihn, wie er aus den westdeutschen Verhältnissen erschlossen wird, leugnen. Eine andere Abteilung linker Staatstheoretiker wird das Fehlen ihrer Fragestellungen ebenfalls registrieren, weil wir in theoretischen Angelegenheiten sehr dogmatisch sind und so praktische Erwägungen wie die Suche nach „Möglichkeiten und Grenzen staatlichen Handelns“ für den Auftakt handfester Ideologien erachten. Wir sorgen uns auch nicht um „Struktur-und Funktionsprobleme“, die diese Leute am Klassenstaat entdecken, um sich dann mit ihren Alternativen der vermeintlichen Nöte des herrlichen Gemeinwesens anzunehmen. Wenn sie schließlich auch noch von der „Dialektik von Reform und Revolution“ anfangen, behaupten wir glatt, dass eine Veränderung des Staates mit Blick auf seine Funktionstüchtigkeit nichts Revolutionäres und auch nichts Dialektisches ist, deshalb keinem Proleten etwas bringt, genauso wie die Theorie, die diesem Interesse an dialektischen Reformen dient. Die These, dass der Staat scheitert , wird man im folgenden auch nicht in einer anderen Version hören können. Wir wissen nichts von den guten Werken, die ihm aufgegeben sind und die er – sei es wegen seiner Abhängigkeit von ein paar Monopolisten, sei es wegen einem Defizit an Steuergeldern nicht ausführen kann. Deswegen ist unsere Analyse aber nicht unvollständig.

 

2

Zur Vermeidung von Missverständnissen sei noch vermerkt, worum es unserer unmaßgeblichen Meinung nach bei einer Ableitung geht, was ja den methodisch interessierten Menschen so viel Kopfzerbrechen macht. Erstens ist eine Ableitung ganz dasselbe wie die Erklärung einer Sache, unterscheidet sich also nicht ihrem Inhalt nach von wissenschaftlicher Argumentation, wie sie sonst stattfindet, sooft einer nach Gründen sucht. Zweitens ist eine Ableitung eine Form der Darstellung, die dem Inhalt gefundener Erklärungen entsprechend die Gedanken ordnet. Nicht in der Reihenfolge ihres historischen Auftretens, auch nicht in der Art und Weise, wie man über die verschiedenen Momente einer Sache stolpert, werden sie behandelt, sondern gemäß ihrem Zusammenhang. Wenn die Untersuchung der Massenmedien z.B. den Grund dafür, dass es sie so gibt, wie sie sind, in der Verpflichtung der Bürger auf das Gewaltmonopol des Staates ermittelt hat, so kommt die Analyse der demokratisch bewerkstelligten Zustimmung zum Staat vor die Öffentlichkeit zu stehen. Die einzelnen Momente des erklärten Gegenstandes erscheinen als Grund füreinander, und jede Bestimmung des Staates nimmt die Stelle vor derjenigen anderen ein, welche sie notwendig macht. Zum Verdacht idealistischer Konstruktion hat Marx das Nötige gesagt. In der Anwendung des Wissens über die Welt des Kapitals, in der Agitation derer, die diese Welt aus den Angeln heben sollen, sind dieselben Argumente fällig wie in der Ableitung – nur nimmt die theoretische Auseinandersetzung mit dem Adressaten ihren Ausgang an dessen aktuellem Interesse: in unserem Fall an den Taten des Staates, mit denen er sich gerade herumschlägt, über die er ein falsches Bewusstsein hat und zu denen er sich praktisch so verhält, dass sein Schaden garantiert ist. Während in der Ableitung die Maßnahmen des Staates aus ihrem Grund heraus notwendig werden, wird in ihrer politischen Anwendung aus der aktuellen Kollision von Staat und Bürger deren Grund erschlossen. Dies zur Frage, inwiefern eine Ableitung eine theoretische Waffe darstellt und wer sie nicht brauchen kann.

3

Die Bestimmungen des Staates sind in Paragraphen gegliedert, die den allgemeinen Zweck der analysierten Maßnahme darstellen. In Zusätzen wird jeweils auf die Verlaufsformen dieser Maßnahme eingegangen, der entsprechende Gegensatz zwischen Staat und Bürger am Material der Bundesrepublik verfolgt; ein Verweis auf die historische Durchsetzung, d.h. auf die bestimmte Art der Kämpfe, die den heutigen Staat hervorgebracht haben, findet schon deswegen statt, weil es in der Linken üblich ist, alles gut zu finden, weil es erkämpft werden musste: Die zum jeweiligen Stoff gehörigen Ideologien bilden den Abschluss des Paragraphen. Während die faschistischen Konsequenzen der Demokratie mitbehandelt werden, kommen die Besonderheiten von Nationen, die sich dem Wirken kapitalistischer Staaten nach außen verdanken, dort vor, wo sie in einer Ableitung hingehören, in der Fortsetzung staatlicher Gewalt zum Imperialismus.

*) Vorwort der Ausgabe 1980, erschienen im Resultate Verlag

© 2018 GegenStandpunkt Verlag

§ 1
Freiheit & Gleichheit – Privateigentum – abstrakt freier Wille

Der bürgerliche Staat ist die politische Gewalt der kapitalistischen Gesellschaft. Er unterwirft die Agenten der kapitalistischen Produktionsweise unter Absehung von allen natürlichen und gesellschaftlichen Unterschieden seiner Herrschaft und gewährt ihnen damit die Verfolgung ihrer gegensätzlichen Sonderinteressen: Gleichheit & Freiheit. Er verpflichtet sie, die ökonomische Konkurrenz unter Respektierung des Privateigentums abzuwickeln: jeder wird gezwungen, die ausschließende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft anzuerkennen und zum Prinzip seines ökonomischen Handelns zu machen. Weil die Mitglieder der kapitalistischen Gesellschaft in der Verfolgung ihres individuellen Nutzens die Schädigung der anderen betreiben, sind sie auf eine Macht angewiesen, die getrennt vom ökonomischen Leben die Anerkennung von Eigentum und Person garantiert. Ihren negativen Bezug aufeinander ergänzen sie um ihre gemeinsame Unterwerfung unter eine Gewalt, die ihre Sonderinteressen beschränkt. Neben ihren ökonomischen Geschäften sind sie politische Bürger, sie wollen die staatliche Herrschaft, weil sie ihren Sonderinteressen nur nachgehen können, indem sie von ihnen auch abstrahieren. Der bürgerliche Staat ist also die Verselbständigung ihres abstrakt freien Willens.

a)

Die erste Bestimmung des Staates, sein abstrakter Begriff, enthält zwar den Grund und damit auch den Zweck dieser Instanz, aber eben noch getrennt von den konkreten Formen ihres Bezugs auf die Bürger. Gerade in diesem abstrakten Begriff wird deutlich, dass die Realisierung von Freiheit und Gleichheit eine ungemütliche Sache ist, weil sie sich erstens ökonomischen Gegensätzen verdankt und zweitens eine mittels Gewaltmonopol erzwungene Aufrechterhaltung dieser Gegensätze zum Zweck hat. Auch ohne Betrachtung der Ökonomie, der Produktionsweise, welche der Staat mit seiner Gewalt am Laufen hält, steht fest, dass er Klassenstaat ist: durch die gleiche Unterwerfung aller garantiert er den Fortbestand aller kleinen und großen Unterschiede – es ist also auch keine Frage, wie der Nutzen aussieht, den die verschiedenen Agenten der kapitalistischen Produktionsweise von ihm haben. Die Freiheit, die ihnen durch die Gleichbehandlung seitens des Staates gesichert wird, besteht in der freundlichen Gewährung des Rechts, sich entsprechend den ökonomischen Mitteln, die sie haben oder auch nicht, ihren Anteil am Reichtum zu sichern – und zwar unter Respektierung anderer, die dasselbe auf ihre Kosten, gegen sie tun. Um dieser Freiheit willen geht es ihnen um den Staat, ohne den sie sich ihrer Mittel gar nicht bedienen könnten: vom praktischen Standpunkt erscheint ihnen die Staatsgewalt als Bedingung der freien Konkurrenz, also wollen sie anerkannte Staatsbürger sein, weil sie es wegen ihrer ökonomischen Interessen sein müssen. Die Gemeinschaftlichkeit, der politische Wille aller im Staat beruht auf einer erzwungenen Leistung des einzelnen Willens, der wegen des privaten Nutzens, auf den es ihm ankommt, auch noch als abstrakt-allgemeiner Wille auftritt: „Die Trennung der bürgerlichen Gesellschaft und des politischen Staates erscheint notwendig als eine Trennung des politischen Bürgers, des Staatsbürgers, von der bürgerlichen Gesellschaft, von seiner eignen wirklichen, empirischen Wirklichkeit, denn als Staatsidealist ist er ein ganz anderes, von seiner Wirklichkeit verschiedenes, unterschiedenes, entgegengesetztes Wesen.“ (MEW 1/281) Was diese Leistung für die besonderen Charaktere der kapitalistischen Produktionsweise bedeutet, inwiefern und für wen sich der Staat durch Gewalt als Mittel betätigt, ist kein Geheimnis – die Unterwerfung aller muss denen zum Vorteil gereichen, die ökonomisch im Vorteil sind. Die folgenden §§ werden also zeigen, was der Staat den verschiedenen Klassen abverlangt und genehmigt, wenn er die freie Konkurrenz zu seinem Anliegen macht.

b)

Wenn der Staat gewaltsam die Konkurrenz regelt, um sie stattfinden zu lassen, so erhält er eine Ökonomie, in der die Abhängigkeit der Individuen in der Produktion des gesellschaftlichen Reichtums so organisiert ist, dass sie sich in der Verfolgung ihrer Interessen wechselseitig die Teilnahme am Reichtum bestreiten. Weil die Befriedigung eines Sonderinteresses das andere negiert, erfolgt die Unterwerfung unter seine Gewalt, und diese Unterwerfung hat für jeden einzelnen negative, ausschließende Bedeutung. Damit sind freilich die Kollisionen nicht verschwunden, sondern so eingerichtet, dass sich alle vom Staat die Freiheit des anderen als die Schranke der eigenen vorschreiben lassen. Die Tatsache, dass sich die ökonomischen Subjekte eines gesellschaftlichen Zusammenwirkens befleißigen, durch das sie einander von den zu ihrer Existenz notwendigen Mitteln ausschließen, also beständig im Kampf miteinander liegen, behandelt die Staatsgewalt so, dass sie die Ausschließung gebietet und den Angriff auf die Mittel und Existenz des anderen verbietet. Jeder muss mit seinen Mitteln in Abhängigkeit von den anderen, die die ihren einsetzen, zurechtkommen; und der Erhalt neu produzierter Güter hat sich unter Respektierung von Eigentum und Person abzuspielen. Das Privateigentum, die ausschließende Verfügung über den Reichtum der Gesellschaft, von dem andere in ihrer Existenz abhängig sind, also Gebrauch machen müssen, ist die Grundlage des individuellen Nutzens und damit auch Schadens. Ihm verdankt sich die moderne Form der Armut, die sich selbst als Mittel fremden Eigentums erhalten muss, dessen Wachstum selbstverständlich dem Staat am Herzen liegt.

Schließlich sei noch erwähnt, dass das Privateigentum keine Frage von Zahnbürstchen und Limonade ist, obwohl es im Bereich des individuellen Konsums seine Wirkung zeitigt. Die Abhängigkeit von dem, was anderen gehört, spielt sich auf dem Felde der Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Reichtums ab. Mit der ausschließlichen Verfügung über die Produktionsmittel und damit über die Produkte erhält der Reichtum die Gewalt, anderen die Existenz zu bestreiten.

c)

So wenig der von gegensätzlichen Klassen praktizierte Staatsidealismus eine Idylle darstellt, so wenig harmonisch verlief der freiwillige Zusammenschluss zum Staat, die „Staatsgründung“, die noch in jeder Nation bei der Wiederkehr ihres Datums als Anlass zum Feiern genommen wird. Bürgerliche Staaten sind Produkte erlesenen Terrors, was von ihren Liebhabern nicht nur im Falle der französischen Revolution und der beinharten Einrichtung der Bundesrepublik vergessen wird. Das gemeinsame Interesse an der Beseitigung vorbürgerlicher Formen der Staatsgewalt, das die gegensätzlichen Klassen zum Kampf brachte, entsprang ja schon einigermaßen unterschiedenen Anliegen: die einen sahen im alten Staat und den ihn betreibenden Ständen ein Hindernis für ihre Geschäfte, die anderen kämpften um ihre Existenz, die sie durch Arbeit sichern mussten. Die Erreichung des gemeinsamen Ziels fiel selbstverständlich nicht zur Zufriedenheit beider Klassen aus, da die vom demokratischen Gemeinwesen geschützte Möglichkeit, sich im Dienst an fremdem Eigentum zu erhalten, schnell eine bittere Notwendigkeit wurde. dass die Proleten, die die bürgerliche Republik erkämpften, den alten Staat beseitigen mussten, wollten sie leben, heißt eben nicht, dass sie sich im neuen Staat ihr Mittel geschaffen haben.

d)

Die Unzufriedenheit mit der harten Welt des Eigentums ist ein Springquell der beständigsten Ideologien: aus allen unangenehmen Konsequenzen von Freiheit & Gleichheit, die in den nächsten Seiten noch zur Sprache kommen, pflegen Linke einen Hinweis zu entnehmen auf die mangelhafte Realisierung dieser beiden Ziele der französischen Revolution. Sie bezweifeln die Realität der Gleichheit vor der Staatsgewalt mit den merklichen Unterschieden in der Gesellschaft, machen aus Gleichheit ein Ideal, dessen praktische Verwirklichung sie dem Staat anempfehlen und in ihm durchsetzen wollen. So wenig ihnen auffällt, dass eine gewaltsam aufrechterhaltene Freiheit irgendeinen Haken haben muss, so wenig gibt ihre Phantasie für die Vorstellung eines Gemeinwesens her, in welchem die Unterschiede zwischen den Leuten beseitigt werden. Diese Phantasie ist im Gegensatz zu linken Staatsidealisten recht populär und macht sich in literarischen sowie cineastischen Utopien genüsslich breit. Sie kontert auch im Munde von Politikern jede Kritik am Staat, wenn die Gleichmacherei großmütig abgelehnt wird. In solcher Kritik von Ansprüchen an den Staat wird um die rechte Begeisterung für ihn geworben, wobei über den abgeschmackten Vergleich mit früher und drüben auch der idiotische „Widerspruch zwischen Freiheit und Gleichheit“ entdeckt zu werden pflegt: mehr vom einen muss angeblich mit einem weniger vom anderen erkauft werden, so dass man alles sowieso nicht kriegen kann und es am besten ist, die Unzufriedenheit bleiben zu lassen und sich der Realisierung des dritten Grundwertes, der Brüderlichkeit (modern: Solidarität) zu befleißigen. Hier zeigt sich, dass auch die Unzufriedenheit mit der Unzufriedenheit anderer das falsche Denken über die abstrakteste Bestimmung des Staates gehörig ankurbelt. Das Interesse am Staat, die positive Stellung zu ihm beschwört das gemeinsame Anliegen und versucht, die offenkundigen Nachteile seines Wirkens mit einer Staatsableitung eigener Prägung als notwendiges Übel akzeptabel zu machen. Die Deduktion des Staates aus der Menschennatur gehört zum Standardrepertoire jedes aufgeklärten Studienrates und Professors, wobei einmal die Gegensätze der kapitalistischen Gesellschaft bemüht werden, und nicht die liebenswerten Unterschiede. Die Deduktion übersieht, damit sie geht, den Zwang zur Konkurrenz , den der Staat setzt, samt sämtlichen ökonomischen Eigentümlichkeiten, um das schiere Gegeneinander zum Ausfluss der Menschennatur zu erklären: homo homini lupus, ergo müssen ein paar Wölfe für den Frieden unter den restlichen Wölfen einstehen, und das ist dann die notwendige staatliche Ordnung. Im Werkeltagsleben kürzt sich die Zurückweisung von Kritik, die ja das staatliche Wirken am Interesse misst, ihn für sich als Mittel zu gebrauchen, auf die Bemerkung zusammen, dass Ordnung eben sein muss: wo kämen wir denn hin, wenn alles jedem gehört! Die Bereitschaft, es im eigenen Interesse mit anderen aufzunehmen und zugleich für die Schranken Partei zu ergreifen, die von der Ordnung anderen gesetzt sind, lebt also in einer Demokratie. Auch in ihrer faschistischen Abwandlung, die das Konkurrenzinteresse tadelt und dem einzelnen gebietet, sein Trachten ganz im Gemeinwesen aufgehen zu lassen, was echte Freiheit wäre.

 

Die öffentlichen Festredner von Gleichheit & Freiheit, die im jeweiligen Staat die dem Menschen angemessene Sorte Ordnung erkannt haben wollen, finden die detaillierte Ausgestaltung dieser Frechheit wohlpräpariert in der wissenschaftlichen Literatur vor: keine Geistes-und Gesellschaftswissenschaft will es sich nehmen lassen, eine Definition des Menschen zu liefern, wobei die geringfügigen Variationen des Themas „Der Mensch ist von Natur aus ein Vieh, aber er zeigt sich gewöhnlich auch zu Höherem fähig!“ dem jeweiligen praktischen Fachinteresse entspringen, welches an der Ausgestaltung des „Höheren“ beteiligt sein will. Den Staatsbürger mit seinen beiden Seiten, dem Materialismus der Konkurrenz und dem von Abhängigkeit diktierten Staatsidealismus, machen sie sich allesamt zum Anliegen, verfabeln ihn zur anthropologischen Konstante, so dass die Zurichtung des Willens als eine einzige Bestätigung der Menschlichkeit erscheint: psychologisch, pädagogisch, politologisch, betriebswirtschaftlich und literaturtheoretisch-linguistisch. Als ob die Anwendung der Wissenschaften nicht darauf beruhen würde, dass die Individualität der Leistung, von sich zu abstrahieren, manches entgegenstellt! Zur Sache mit den vielen Einzelwesen, die einen Staatsvertrag eingehen, steht bei Marx alles Wichtige; ebenso über die Rolle Robinsons in der Geistesgeschichte! Die Würde des Menschen verlangt eben den wissenschaftlichen Staatsdienern auch das Ihre ab, zumal sie ja auch Kriterien dafür geben müssen, was von dem, das nur Menschen mit Staat im Kopf zuwege bringen, unter die Rubrik „unmenschlich“ fällt.

© 2018 GegenStandpunkt Verlag