Das wirkliche Leben beginnt jetzt

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A. H. Almaas

Das wirkliche Leben beginnt jetzt

Übersetzung aus dem Amerikanischen

Peter Brandenburg


Arbor Verlag

Freiburg im Breisgau

Copyright © 1987 by A-Hameed Ali

Copyright © der deutschen Ausgabe: Arbor Verlag, Freiamt, 2005.

Published by arrangement with Shambhala Publications, Inc., P. O. Box 308,

Boston, MA. 02117

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

Diamond Heart, Indestructible Innocence

Alle Rechte vorbehalten

E-Book 2017

Titelfoto: Art Photo Archiv Klaus Enders

Lektorat: Gabriele Grimm

www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-154-5

eBook-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

Inhalt

Vorwort

Einführung

Klärung der Persönlichkeit

Sein und die Suche

Menschliche Reife

Reife und Wahrheit

Der integrierte Mensch

Einssein und menschliches Leben

Verwirklichung von Abwesenheit

Nackter Hintern auf Eis

Das kreative Jetzt

Die zwei Wirklichkeiten

Das mutige Herz

Unser Wissen ist die Welt, die wir leben

Innen und Außen

Begriffe und Denken

Physische Wirklichkeit und nichtbegriffliche Wirklichkeit

Der Universelle Geist

Selbstlosigkeit

Vorwort

Wir leben in einer Welt von Geheimnis, Wunder und Schönheit. Aber die meisten von uns nehmen an dieser wirklichen Welt selten Anteil und sind sich eher einer anderen Welt bewußt, die vor allem aus Streit, Leiden und Sinnlosigkeit besteht. Diese Situation ist vor allem darin begründet, daß wir unser volles menschliches Potential nicht verwirklichen und leben. Dieses Potential kann durch die Verwirklichung und Entwicklung der menschlichen Essenz aktualisiert werden. Die menschliche Essenz ist der Teil von uns, der angeboren und wirklich ist und der an dieser wirklichen Welt teilhaben kann.

Die Buchserie Diamantenes Herz ist eine Niederschrift von Vorträgen, die ich vor Gruppen in Kalifornien und Colorado, die sich der inneren Arbeit widmen, im Verlauf mehrerer Jahre als Teil der Arbeit dieser Gruppen gehalten habe. Der Zweck dieser Vorträge ist es, Menschen, die sich intensiv mit der schwierigen Arbeit essentieller Verwirklichung beschäftigen, Anleitung und Orientierung zu geben.

Die Vorträge sind so angeordnet, daß sie die verschiedenen Zustände und Stufen der Verwirklichung in der Reihenfolge zeigen, wie sie der typische Schüler erlebt, wenigstens bei unserer Lehrmethode: dem Diamantenen Ansatz (Diamond Approach). Sie beginnen mit den Zuständen, dem Wissen und den Fragen, die wir am meisten brauchen, um mit der Arbeit an uns selbst anzufangen, schreiten zu Stufen zunehmender Tiefe und Differenziertheit vor und gipfeln in detailliertem Verständnis der Zustände der vollen Reife und der Voraussetzungen von Verwirklichung.

Jeder Vortrag erhellt einen bestimmten Zustand von Essenz oder Sein. Die relevanten psychologischen Themen und Hindernisse werden genau und eingehend diskutiert. Dabei wird moderne psychologische Erkenntnis in Bezug auf den Zustand des Seins und in Bezug zu Denken und Bewußtsein, Leben und Prozeß innerer Entfaltung des Einzelnen angewandt.

Daher ist diese Serie nicht nur eine detaillierte und spezifische Hinführung für den Schüler, sondern auch ein Ausdruck und eine Manifestation der Entfaltung der menschlichen Essenz, wie sie das Geheimnis, das Wunder, die Besonderheit und den Reichtum der wirklichen Welt, unser wahres Erbe, enthüllt. Jeder Vortrag ist eigentlich der Ausdruck eines bestimmten Aspektes oder einer Dimension von Sein, wie er sich als Antwort auf die gegenwärtigen Bedürfnisse der Schüler im Bewußtsein des Lehrers einstellt. Der Lehrer handelt sowohl als eine Verkörperung solch einer Realität als auch als ein Kanal für das lebendige Wissen, das Teil dieser Verkörperung ist.

Es ist mein Wunsch, daß mehr meiner Mitmenschen an unserer wirklichen Welt teilhaben und die unglaubliche Schönheit und Integrität genießen, ein reifer Mensch, eine volle Manifestation der Liebe zur Wahrheit, zu sein.

RICHMOND 1986

Einführung

Dieses, das vierte Buch in der Reihe, die Vorträge von A. H. Almaas vor Gruppen seiner Schüler enthält, hat drei Hauptthemen. Das erste Thema, um das es in den Kapiteln eins bis elf geht, ist die Verwirklichung und Entwicklung der Persönlichen Essenz auf der Ebene der Einheit – das Verständnis und die Verkörperung der Person als Teil eines größeren Ganzen, als Teil der Einheit von Sein (Being). In diesen Vorträgen vermittelt Almaas, daß es für den ausgeglichenen Menschen notwendig ist, das Verstehen von Einssein zu integrieren, um ein Maß an Reife jenseits selbstbezogenen Lebens zu entwickeln.

Diese Lehre ist unschätzbar für den Schüler auf dem spirituellen Weg, der das volle Potential inneren und äußeren Lebens zu verwirklichen sucht. Almaas untersucht die verschiedenen Themen, denen der Schüler gegenübersteht, der Ego-Täuschungen auf ein lebendiges Verstehen von Einssein hin durcharbeitet, und beschreibt die Qualitäten und Charakteristika, die für Integration spiritueller Wahrheit in menschliches Leben unerläßlich sind.

Verwirklichung von Sein ist nicht einfach Verwirklichung des wahren Selbst, sondern auch Verwirklichung von Realität – von ursprünglicher wahrer Natur, fundamentaler als die Bereiche von Form und Geist (mind).

Das zweite Thema dieses Werkes ist die Bewegung hin zu diesem nichtbegrifflichen Bereich und seine Erforschung. Dies ist die Dimension von Sein „jenseits von Form“, in der es reines Bewußtsein (awareness) ohne jeden begrifflichen Inhalt gibt. Diese Dimension ist eine radikale Abkehr von der Perspektive von Ego-Wirklichkeit und auch von der Sicht von manifestem Sein als fundamentalem Grund, der als verschiedene essentielle Qualitäten entsteht. Almaas vermittelt auf lebendige Weise die Qualität von Bewußtheit (awareness), die Krishnamurti „Freiheit vom Bekannten“ nannte – Bewußtheit ungefiltert durch Begriffe. Gemeint ist die „leere“ Bewußtheit, die sehr oft mit dem Buddhismus, besonders dem Zen, assoziiert wird. Dieser Teil des Buches klärt die Ähnlichkeit zwischen dem Diamantenen Ansatz (Diamond Approach) und anderen spirituellen Traditionen im Hinblick auf die Grunddimensionen von Wirklichkeit, die auf diesem Weg erfahren werden.

Wenn wir der Bedeutsamkeit von frischer, nichtbegrifflicher Bewußtheit als unserer wahren Natur und der Natur von allem begegnen und sie wertschätzen, dann wissen wir unsere Natur als im Grunde frei von den Überzeugungen und Identitäten, die zu so viel Leiden und Frustration führen. Wir sehen auch, wie alle Arbeit, die Reifung und Klärung der Seele, die Entwicklung von Objektivität und das Verstehen des Einsseins von Wirklichkeit fördert – die innere Arbeit, die Almaas im ersten Teil dieses Buches lehrt –, zu dieser Freiheit beiträgt. Wir erkennen die Vorstellung, die Sucher auf allen Wegen an einem bestimmten Punkt vertreten – die Vorstellung nämlich, daß Freiheit Freiheit des Selbst von weltlicher oder konstruierter Wirklichkeit ist, klar als Täuschung. Stattdessen erfahren wir, daß, je mehr die menschliche Seele auf Wahrheit hin orientiert ist und in Einklang mit dieser Wahrheit lebt, um so weniger das Bedürfnis besteht, die falschen Strukturen und Bindungen zu verteidigen, die uns in der Ego-Identität gefangen halten.

Almaas Vorträge über die nichtbegriffliche Dimension können für manche intellektuell schwer zu verstehen sein, aber wir hoffen, daß der Leser vielleicht ein wenig Aroma der Freiheit von Bewußtheit jenseits des persönlichen Geistes (mind) schmeckt. Und bei denen, die meditieren oder andere spirituelle Übungen machen, die in die nichtbegrifflichen Dimensionen eindringen, können diese Vorträge zum Verständnis beitragen. Insbesonders unterscheidet Almaas zwei Arten von Hindernissen für die Verwirklichung des Nichtbegrifflichen. Eine Art ist epistemologisch: dabei geht es um Themen, die von der Konstruktion von Selbst- und Weltsicht handeln, der Konstruktion, die von der eigenen persönlichen Geschichte, dem kulturellen Kontext und auch durch die Beziehung zur physischen Welt bestimmt ist. Kapitel zwölf stellt den Prozeß der Konstruktion der Welt der Begriffe im sich entwickelnden Geist des Kindes dar. Diese konstruierte Welt wird nicht nur zur Welt, in der wir leben, sondern eigentlich zur Welt, die von der menschlichen Seele gelebt wird, in dem Sinn, daß unsere Gedanken, Wahrnehmungen, Emotionen und Bilder von uns selbst, auch viele Aspekte des Flusses körperlicher Energie, von der begrifflichen Welt beherrscht werden, die wir im Laufe unserer Entwicklung konstruieren.

Hier verbindet sich die erste Hürde gegen Verwirklichung, die epistemologische, mit der zweiten, der psychodynamischen. Dies sind Themen, die mit persönlicher Abwehrhaltung und Gebundenheit (attachment) zu tun haben. Einfach gesagt, es gibt viele Dinge, die uns, andere oder die Welt betreffen, über die wir nicht die Wahrheit wissen, weil wir nicht wollen. Zum Beispiel haben wir Angst, unsere Vorstellung von uns selbst als gut (oder als schlecht!) zu verlieren, oder wir sind von unserer idealisierten Vorstellung von einem Liebhaber oder einem Freund abhängig. Diese Faktoren verhindern die Offenheit der Seele für die vollständige Wahrheit unserer Erfahrung, innerer und äußerer Art. Wie andere Ridhwan-Lehrer bei der Arbeit mit Schülern macht sich Almaas ein tiefes Verständnis der Selbstpsychologie zunutze und erkennt dabei die Tiefe und die Unbewußtheit vieler Ebenen der Ichstruktur und Ego-Identität an, die ohne psychodynamische Arbeit, auch mit wiederholten transzendenten Erfahrungen, sehr schwer zu durchschauen sind. Auf diesem Gebiet liefert Almaas einen originären Beitrag zum Verständnis der Schwierigkeiten von Verwirklichung und Integration der Dimensionen nichtbegrifflichen Bewußtseins – ein Bereich, der eigentlich für Praktizierende verschiedener Wege, besonders für Meditierende ziemlich leicht zugänglich ist.

 

In Kapitel sechzehn geht der vorliegende Band von der Erforschung der nichtbegrifflichen Dimension zum dritten Thema über: einem Überblick über die Dimensionen von Sein, wie sie im Prozeß der Verwirklichung entdeckt werden. Es beschreibt die Beziehung zwischen den grenzenlosen und formlosen Dimensionen und den Dimensionen objektiver oder noetischer Formen, in denen Manifestation erscheint. Hier schließt die Diskussion besonders an die westliche Philosophie an, besonders an die neuplatonische Tradition, wie sie Plotin am klarsten erhellt hat.

Eines der größten Rätsel für den ernsthaften Schüler spiritueller Disziplinen entsteht aus der Begegnung mit dem Bereich reinen Bewußtseins (awareness), die gewöhnlich von einer Wahrnehmung der Leere des Selbst oder der Welt, die bis dahin für reell gehalten wurden, einhergeht. Hier gibt es großes Staunen und manchmal Beunruhigung. Was bedeutet diese Einsicht für die Welt der Formen? Was bedeutet sie für die spirituelle Welt und für den Bereich von Essenz? Almaas beginnt in Kapitel sechzehn, den ontologischen Status der essentiellen Qualitäten von Sein und der menschlichen Seele zu klären, die er in seinem bisherigen Werk diskutiert hat. Diese Qualitäten sind universelle Begriffe oder noetische Formen, die als objektive Formen, die nicht vom persönlichen Verstand (mind) konstruiert sind, gewußt werden können, so wie die Formen der physischen Welt nicht vom individuellen Geist bestimmt sind, obwohl sie durch die Konstruktion von Begriffen erkannt werden. Bis der Bereich dieser Formen verstanden ist, scheint die Erfahrung vieler Praktizierender eine Dichotomie oder einen Dualismus aufzuweisen: von mentalen Strukturen (die als unwirklich gesehen werden) und fundamentaler Natur, die als das Reale und auch als vollständig nichtbegrifflich gesehen wird.

Die Perspektive, die Almaas in den späteren Kapiteln dieses Buches lehrt, kann das Verständnis der essentiellen Qualitäten von der Tendenz zur Verdinglichung dieser Qualitäten befreien und enthüllt dabei, wie der Diamantene Ansatz eine Lehre ist, die wahrhaft in einer nicht-dualen Perspektive gegründet ist. So wie Verwirklichung von Einheit die Seele von der Täuschung befreit, daß trennende Grenzen letztlich real sind, so befreit die Verwirklichung der nichtbegrifflichen Dimensionen die Wahrnehmung von der Dualität von Leere (emptiness) und Existenz und von der verwandten Auffassung, daß Manifestation von Formen eine wirkliche Trennung vom Grund des Seins (Being) darstellt. Diese Perspektive ist mehr als ein philosophisches Verständnis; wie aus Almaas Lehre klar hervorgeht, hat sie menschliche und praktische Implikationen für die Verwirklichung und die Integration von Sein, während man ein normales Menschenleben in der Welt lebt.

Die vorliegende Diskussion dieser Dimensionen von Sein ist eine Einführung in diesen Stoff, der in Vorträgen vor Schülern vorgestellt wurde, wobei die verschiedenen Dimensionen von Sein untersucht werden, mit denen sich der Diamantene Ansatz befaßt. Folglich ist es keine vollständige Darstellung von Almaas Lehre über diese Bereiche. Die ganze Lehre umfaßt die Arbeit mit viel mehr Feinheiten und Implikationen, die zur Verwirklichung der grenzenlosen und formlosen Dimensionen und zur weiteren Arbeit am Universellen Geist (Universal Mind) oder Nous gehören.

Klärung der Persönlichkeit

Viele spirituelle Lehrer beschreiben ihre Erfahrung der Verwirklichung, als wären sie plötzlich verwirklicht worden und die Persönlichkeit einfach gestorben oder abgefallen. Es ist also verständlich, daß ihr euch vielleicht vorstellt, daß ihr eines Tages eure Meditation beendet und keine Persönlichkeit mehr habt. Diese Vorstellung von Erleuchtung oder Selbst-Verwirklichung ist irrig, obwohl man tatsächlich plötzliche Enthüllungen oder Einsichten erfahren kann, die den Rest des Lebens verändern. Meine Wahrnehmung davon, was mit Leuten geschieht, die behaupten, daß sie ihre Persönlichkeit vollkommen und spontan verloren haben, ist, daß oft ein abgespaltener oder unterdrückter Teil bleibt, der sich als eine Entstellung oder als Mangel an Integration bemerkbar macht. Das bedeutet, daß es eine essentielle Verwirklichung gegeben hat, aber die Verwirklichung hat die Persönlichkeit nicht geklärt. Es ist eher ein Zustand von Transzendenz der Ich-Persönlichkeit. Wenn die Persönlichkeit aufgegeben und nicht integriert wird, kann die Totalität des Lebens nicht gelebt werden.

Wir können den Prozeß der Verwirklichung aus der Perspektive von Transzendenz oder aus der Perspektive von Verkörperung betrachten. Wenn Leute über das Loswerden des Ego sprechen, dann sprechen sie über eine transzendierende Erfahrung. Es ist möglich, die Persönlichkeit oder das Ego, oder sogar physische Existenz, zu transzendieren. Es ist jedoch ein schwierigerer Prozeß zum Zustand von Verkörperung der Wirklichkeit zu gelangen. Statt einfach die Persönlichkeit oder die physische Existenz zu transzendieren, gehört zu diesem Zustand, daß man wirklich essentielle Existenz in seinem Leben verkörpert.

Natürlich umfassen manche Systeme sowohl Transzendenz als auch Verkörperung. Wenn ihr eure Erfahrung hier unter dem Gesichtspunkt von essentieller Verwirklichung betrachtet, werdet ihr beim Ansatz zu unserer inneren Arbeit Transzendenz gefolgt von Verkörperung sehen. Das wird manchmal Tod und Wiedergeburt genannt; Tod ist Transzendenz und die Wiedergeburt ist Verkörperung. Bei der Verkörperung wird die Persönlichkeit selbst durchlässig und wird so durch die essentielle Verwirklichung beeinflußt. Wahres essentielles persönliches Leben wird nur möglich, wenn essentielle Verwirklichung die Persönlichkeit durchdringt, sodaß ihr eurer Verwirklichung entsprechend lebt. Ihr habt ein persönliches, praktisches Leben – Beziehungen, Beruf, Interessen, Dinge, die euch Spaß machen, und Dinge, die ihr nicht tun wollt. Ihr seid weiterhin eine Person, nicht nur ein entkörperter Geist (spirit).

Dieser Prozeß der Verkörperung ist sehr faszinierend und aufregend. Er ist erfüllend und befriedigend auf eine solche Weise, daß ihr merkt, wie es Sinn macht, ein menschliches Leben zu haben. Es macht Sinn für euch im Ganzen – für das Denken, für das Herz, für die Persönlichkeit und für euren Körper. Menschliches Leben ist so lange nicht vollständig, bis die Verwirklichung in jeden Aspekt von euch integriert werden kann, sodaß alle Elemente von euch in Harmonie sind und ein Verständnis der Situation haben. Wenn ein Teil von euch entfremdet, abgelehnt oder abgespalten ist, ist die Integration noch nicht vollständig.

Verkörperung wird möglich, wenn die Persönlichkeit geklärt ist. Die Vorstellung des Klärens der Persönlichkeit kann verwirrend sein, weil wir oft die Persönlichkeit als die Quelle unserer Mühen erleben. Wenn wir an uns arbeiten, sehen wir ständig die Probleme und das Leiden des Ego – Unwissenheit, Haß, Zorn, Angst und Eifersucht. Wie kann die Persönlichkeit, fragen wir uns, dann spirituell sein? Es scheint, das Beste wäre, sie auszulöschen, spirituellen Krieg, inneren Guerillakrieg, zu führen. Tatsächlich lich fühlen sich viele Stufen der inneren Arbeit wie eine Art Krieg an. Aber erfolgreiche Kriegführung bedeutet nicht die Zerstörung des Feindes; eher führt sie zu Annexion seines Territoriums. Dies ist oft der eigentliche Zweck für einen Krieg; es ist eher eine Bewegung in Richtung Expansion und nicht Zerstörung. Dieser Kampf zwischen unserer Seiendheit (beingness) und der Persönlichkeit, den wir da durchmachen, ist eine seltsame Sache. Sie ist wie ein Krieg – eine Seite triumphiert über die andere –, aber obwohl eine Annexion des Territoriums stattfindet, geht der innere Aufruhr weiter. Die gegenrevolutionäre Aktion im Inneren endet nicht einfach, weil eine Seite die andere annektiert und übernimmt. Solange eine Seite die andere beherrscht, kann es keinen Frieden geben. Um diesen Konflikt zu lösen, müssen wir die wahre Natur der Persönlichkeit verstehen. Wenn wir sie objektiv ohne vorgefaßte Ideen betrachten, was ist diese Kreatur? Warum verursacht sie so viel Ärger? Warum geben alle an allem dem Ego die Schuld? Viele spirituelle Bücher nennen die Persönlichkeit den Teufel, das Tier oder das Monster, verurteilen sie und lehnen sie ab. Zugleich reden alle von Liebe. Man sagt, man müßte seine Persönlichkeit unterwerfen oder hingeben.

Manchmal erscheint die Persönlichkeit als ein Monster oder als ein Teufel. Wenn ihr mit dem inneren Auge schaut, dann kann sie wirklich wie so etwas aussehen. Aber was ist diese Persönlichkeit, die manchmal als ein Teufel erscheint, manchmal als ein Kind, manchmal als ein Mann, manchmal als eine Frau, manchmal als jemand, der einen frustriert, manchmal als Saboteur, manchmal als Macher, manchmal als Beobachter, manchmal als Rebell und so weiter? Die Persönlichkeit muß eine Art Intelligenz haben, eine erstaunliche Kraft, um sich auf alle diese Weisen manifestieren zu können. Sie erscheint als unschuldiges Kind, in der nächsten Minute ist sie ein Monster. Im einen Moment ist sie verletzlich und wehrlos, im nächsten Moment ist sie ein Gladiator.

An einem bestimmten Punkt können wir wahrnehmen, daß das innere Kind, das Ego, die Ego-Identität, das emotionale Selbst, der Kopf (mind), die falsche Persönlichkeit, der Beobachter, der Macher, der Schauspieler, der Rebell und der Hasser, alle eigentlich ein und derselbe sind. Sie sind lediglich verschiedene Gesichter desselben, das wir Persönlichkeit nennen, und das je nach Situation in verschiedenen Formen erscheint. Wir haben gesehen, daß Essenz eine substantielle Präsenz ist, aber wir sind überrascht, wenn wir merken, daß nicht nur Essenz substantiell ist; die Persönlichkeit selbst ist eine substantielle Existenz. Ihr könnt beobachten, daß sogar eure Persönlichkeit selbst ein Material ist. Sie hat eine innere Substanz.

Es trifft zu, daß es Gedanken, Gefühle und Sinneswahrnehmungen gibt, die mit ihr verbunden sind, aber an einem bestimmten Punkt fühlt ihr eure Persönlichkeit als eine Art Präsenz. Man hat nicht das Gefühl von unmittelbarer Wirklichkeit und Frische, von Wahrhaftigkeit, Brillanz und Leuchten von Essenz, vielmehr empfindet man sie gewöhnlich als eine Dichte, als Stumpfheit und als Schwere. Persönlichkeit ist jedoch nicht nur eine Ansammlung von Gedanken; sie existiert als ihre eigene Art Material oder Medium.

Viele Systeme behaupten, daß die Persönlichkeit nicht existiert, daß das Ego nicht existiert. Aus einer bestimmten Perspektive kann man sehen, daß sie nicht existiert. Aber auf der Ebene, wo Persönlichkeit nicht existiert, existiert auch nichts anderes. Euer Körper existiert auf dieser Ebene nicht und übrigens auch keine physische Wirklichkeit. Solange es Konzeptualisierung gibt, existiert eure Persönlichkeit genauso wie alles andere, genauso wie Essenz existiert. Wenn wir diese substantielle Existenz der Persönlichkeit sehen können, dann können wir begreifen, was es für die Persönlichkeit bedeuten würde, gereinigt und geklärt zu werden.

Für die meisten Menschen manifestiert sich die Persönlichkeit zu Beginn als eine Art Widerstand, als etwas Bleiernes, als eine Wolkigkeit im Kopf (mind). Wenn die Persönlichkeit unklar ist, existiert die Persönlichkeit als eine unklare, unreine Substanz. Wir nennen sie „unrein“, nicht in einem wertenden oder moralistischen Sinn, sondern weil sie nicht als ihre eigene reine Natur existiert. Was sind die Unreinheiten der Persönlichkeit? Was wird an der Persönlichkeit geklärt? Die Antwort ist einfach: die Vergangenheit. Die Dichte, die Stumpfheit und das Leiden, die ihr als die Persönlichkeit erfahrt, sind da, weil die Persönlichkeit nicht in ihrer reinen Form existiert. Sie trägt die Vergangenheit mit sich, und die Vergangenheit existiert als Konflikte, Erinnerungen, nicht ausgedrückte Gefühle, Mißverständnisse, Unwissenheit und all die Reaktionen, Assoziationen und Phantasien, die der ganzen Unwissenheit aus der Vergangenheit entsprechen.

Die Persönlichkeit ist wie schmutziges Wasser, das viele Male benutzt worden ist, um Dinge zu reinigen, aber es ist selbst nicht gereinigt worden. Die Persönlichkeit muß gefiltert werden. Die Vergangenheit muß ausgeschieden, eliminiert, werden. Der substantielle Zustand der Persönlichkeit – was ich die falsche Perle nenne – bewirkt eine bestimmte Kontraktion im Bereich der Milz und der Bauchspeicheldrüse. Ich glaube die Verbindung mit der Milz und der Bauchspeicheldrüse besteht darin, daß die Milz die physiologische Funktion hat, tote weiße Blutkörperchen zu eliminieren. Die weißen Blutzellen dienen zur Abwehr und zum Schutz. Und das versucht die Persönlichkeit zu tun. Wenn diese Zellen einmal ihre Aufgabe erfüllt haben, werden sie aus dem Blut ausgeschieden.

 

Die Persönlichkeit gibt alte Abwehrmechanismen, die nicht mehr gebraucht werden, gewöhnlich jedoch nicht auf, deshalb machen sie viel von der Unklarheit und Stumpfheit der Persönlichkeit aus. An verschiedenen Punkten bei eurer Arbeit erfahrt ihr verschiedene Aspekte dieser Unklarheit, je nachdem auf welchem Gebiet ihr arbeitet und je nach dem erreichten Grad an Klärung eurer Persönlichkeit. Angenommen ihr arbeitet eine Zeit lang an Material in der Persönlichkeit, das mit Sicherheit und dem essentiellen Aspekt des Willens zu tun hat, und zu einem anderen Zeitpunkt arbeitet ihr vielleicht an Abwehrmechanismen, die Stärke betreffen. Ferner, je tiefer ihr in eurer Arbeit geht, um so mehr werden die subtilen Strukturen in der Persönlichkeit als falsch erlebt. Wir nennen diese Unklarheit die falsche Perle (false pearl), im Gegensatz zur wahren Person, die wir die Perle (Pearl) nennen.

Vielleicht verstehen wir allmählich etwas von der Unklarheit, der Undurchsichtigkeit der Persönlichkeit: sie enthält Elemente, die hätten ausgeschieden werden sollen, aber noch nicht eliminiert sind. Ein großer Teil dessen, was eliminiert werden muß, ist Konditionierung, die einmal als Schutz und Abwehr, sogar für physisches Überleben nützlich war. Viele unserer Muster und Konflikte und Unwissenheit bleiben als Teil des Kampfes um Überleben, um Schutz. Wir sitzen jetzt auf diesen Mustern und Mechanismen, die wir in unserer Vergangenheit entwickelt haben, um uns vor zu viel Schmerz oder vor Vernichtung zu schützen. Wir sind nicht in der Lage gewesen, sie loszulassen, und sie bestimmen nun den Inhalt unserer Persönlichkeit.

Dies ist der Prozeß der Klärung der Persönlichkeit: jedesmal wenn ihr ein Thema oder eine Identifikation mit einem vergangenen Konflikt oder einen jetzt unnötigen Abwehrmechanismus versteht, erlebt ihr Gefühle, die mit dem Thema assoziiert sind, und arbeitet die Gefühle und die Überzeugungen in Bezug auf sie durch. Wie ihr viele Male gesehen habt, erlaubt das Durcharbeiten eines Themas – wozu gehört, daß man aufhört, mit ihm identifiziert zu sein – typischerweise das Auftauchen eines essentiellen Zustandes. In diesem Prozeß des Durcharbeitens eines Themas, das mit einer essentiellen Qualität in Beziehung steht, konfrontiert die Persönlichkeit den Teil ihrer Struktur, die an der Stelle dieser wahren Qualität steht und ihren Mangel kompensiert. Zum Beispiel werden Themen um essentielle Stärke die falsche Stärke der Persönlichkeit aufdecken. Wenn diese Kompensation durchschaut und die essentielle Stärke befreit ist, besteht keine Notwendigkeit mehr für die Persönlichkeitsstruktur der falschen Stärke.

So wirft das Auftauchen jedes einzelnen essentiellen Aspektes Licht auf ein bestimmtes Element der Unwissenheit in der Persönlichkeit. Wenn ihr euer Inneres erforscht, dann erlaubt euch die Präsenz eines essentiellen Zustandes, in Bezug auf die eigenen Themen sehr konkret zu werden. Im Prozeß der inneren Erforschung (inquiry) wird die Persönlichkeit jedesmal klarer und reiner, wenn eine Qualität von Essenz verwirklicht und die Themen um sie herum verstanden werden. Man läßt ein paar alte Annahmen, alte Selbstbilder und alte Spannungen los. Wenn ihr den Zustand der Persönlichkeit fühlt, wenn sie ein bißchen entspannt ist, dann merkt ihr, daß sie, obwohl immer noch stumpf und schwer, doch auch bequem oder sogar warm und gemütlich ist. Die Persönlichkeit fühlt sich wie die Decke an, die Babys mit sich herumtragen. Sie erinnert euch an die eigene Decke, an euer Bett oder an eure Mutter, wenn sie sich um euch gekümmert hat, wenn ihr krank wart. Es ist eine Schutzvorrichtung, die ihre Aufgabe erfüllt hat. Wenn dann die wirklichen essentiellen Zustände auftauchen können – Zustände, die die Persönlichkeit mit solchen Mitteln erfolglos nachzumachen versucht hat –, dann ist ein Potential für eine klärende Wirkung auf die Persönlichkeit vorhanden. Natürlich tauchen essentielle Zustände manchmal ohne eine Verbindung mit Themen auf, zum Beispiel als ein Ergebnis von Meditation oder einer spirituellen Übung. Aber wenn ein Mensch diese Zustände erfährt, ohne die Themen anzuschauen, was ganz üblich ist, kommt es nicht zur Klärung der Persönlichkeit. Die Persönlichkeit bleibt, wie sie ist.

Diese Entwicklung wird oft spirituelle Verwirklichung genannt: der Mensch ist in einem essentiellen Zustand und in gewissem Sinn mit ihm identifiziert, aber die Persönlichkeit bleibt, wie sie ist. Damit man die essentielle Erfahrung verkörpern kann, muß Essenz (Essence) auf die Persönlichkeit einwirken; sie muß die Persönlichkeit transformieren. Wir können diesen Einfluß nur integrieren, wenn wir die aktuellen Themen durcharbeiten und verstehen, wie sie sich in allen Bereichen unseres Lebens, im Allgemeinen und im Besonderen, manifestieren. Wenn ihr am Verständnis eines bestimmten Themas arbeitet und sich ein essentieller Zustand einstellt, dann bemerkt ihr vielleicht, daß diese Erfahrung euer Ringen mit dem Thema nicht beendet. Es besteht immer noch eine Dualität zwischen Persönlichkeit und Essenz. Erfahrungen spiritueller Verwirklichung oder essentielle Zustände erhellen oder harmonisieren vielleicht euren Alltag oder vermitteln euch das Gefühl, erfüllter zu sein, aber der Kampf der Dualität geht weiter. Ihr bemerkt vielleicht auch, daß ihr immer noch mit dem Prozeß der Entwicklung beschäftigt seid, aber eher aus der Perspektive der Persönlichkeit als aus der Perspektive von Essenz. Dieser andauernde Mangel an Klarheit ist das Kennzeichen der Persönlichkeit.

Ihr stellt vielleicht fest, daß bestimmte persönliche Themen durch die Arbeit klarer geworden sind und daß Themen aus eurer Vergangenheit mehr geklärt wurden. Aber es muß eine Zeit kommen, wo ihr die Persönlichkeit selbst anzuschauen beginnt, nicht im Hinblick auf ihre besonderen Themen, sondern als Ganze. Es geht dann nicht um ein Thema wie zum Beispiel: „Ich besitze nicht meinen Willen“ oder „Warum finde ich keine Freundin?“ oder „Ich habe überhaupt kein Selbstwertgefühl“. Jedes Thema ist real und muß gelöst werden, aber es gibt etwas, das all diesen besonderen Themen zugrunde liegt. Wenn ihr dieses zugrunde liegende Etwas untersucht, wird sich ein Bewußtsein davon einstellen, daß die Dualität selbst die Quelle des Konfliktes ist. Ihr werdet herausfinden, daß die Tatsache, daß ihr das Gefühl habt, daß es zwei Entitäten – Essenz und Persönlichkeit –, statt einer einzigen gibt, das Problem ist.

Das Thema der wahrgenommenen Dualität wird dann zum Schwerpunkt eurer Arbeit. Die Spaltung in eurer Erfahrung hat es gegeben, solange ihr euch erinnern könnt. Ihr könnt euch erinnern, daß ihr eure Erfahrung immer als gut oder schlecht, rein oder unrein bezeichnet habt. Ein Teil eurer Erfahrung ist leuchtend, voller Liebe, Intelligenz und Klarheit. Aber ein Teil von euch bleibt irgendwie trübe und behauptet sich stur immer weiter. Bevor ihr Bewußtsein von Essenz hattet, wart ihr mit diesem trüben Teil identifiziert und wolltet die guten Dinge. Aber seit ihr diese wunderbaren Zustände erfahren habt, wird euch klar, daß diese Erfahrungen das Problem nicht lösen. Ihr habt vielleicht viele Erfahrungen von Essenz – köstliche, starke und süße Erfahrungen wie Verschmelzende Liebe (Merging Love), Wert (Value) und Wahrheit. Aber solange ihr in erster Linie mit der Persönlichkeit identifiziert seid, tendieren diese Erfahrungen nur dahin, die Persönlichkeit aufzublähen, und ihr entwickelt ein inflationäres Ego, indem ihr glaubt, daß ihr selbst eine Persönlichkeit seid, die Essenz besitzt. Dann seid ihr vielleicht stolz darauf, daß ihr jemand seid, der Gott kennt, der mit Gott kommuniziert. Ihr habt das Gefühl, daß ihr wichtig seid, daß ihr etwas erreicht habt. All diese Erfahrung ist da, und ihr werdet vielleicht voll von euch selbst, voll von Reichtum, Kraft, Klarheit und Willen. Aber schließlich merkt ihr, daß dieses Gefühl, die Persönlichkeit mit Essenz zu „füllen“, ein Problem ist. Ihr beginnt euch bewußt zu werden, daß ihr das Problem seid, ihr selbst – eure Identität an sich und wie ihr alles seht. Das Thema ist nicht, was ihr bekommt oder nicht bekommt. An diesem Punkt eures Prozesses kommt das Leiden nicht vom Inhalt eurer Erfahrung oder von irgendeinem Objekt eurer Wahrnehmung. Es stammt von dem Macher in euch, demjenigen, der wahrnimmt, handelt und Erfahrungen macht. Ihr selbst seid das Problem: ihr als der Macher, der Handelnde und der Beobachter. Mit der Zeit nehmt ihr war, daß etwas mit „euch“ geschehen muß. Ihr seht, daß ihr wegen dieser Spaltung, dieser Dualität, leidet.