Die großen Literaten der Welt

Text
Aus der Reihe: marixwissen
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Die großen Literaten der Welt
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

M.A. phil. Katharina Maier, geb. 1980, hat Vergleichende Literaturwissenschaften studiert und arbeitet inzwischen als freie Schriftstellerin und Übersetzerin. Ihre Spezialgebiete sind der populäre historische Roman der letzten 25 Jahre, die Literatur der Aufklärung und der Goethezeit, europäische und amerikanische Literatur des 19. Jahrhunderts, das neuere irische Drama, die Lyrik des frühen 20. Jahrhunderts und der englische Roman der Postmoderne. Sie ist seit 2005 als Redaktionsassistentin für Anglia. Zeitschrift für Englische Philologie tätig.

Zum Buch

Die großen Literaten der Welt
Amerika und Asien

Osten und Westen haben den Europäer seit jeher gleichermaßen fasziniert. Und wodurch lässt sich eine Kultur besser verstehen als durch die Werke ihrer großen Dichter und Schriftsteller? Das vorliegende Buch möchte schlaglichtartig sowohl die amerikanische als auch die uns bei Weitem ferner liegende asiatische Literatur beleuchten, indem es deren berühmteste Vertreter vorstellt – von dem großen Inder Kãlidãsa aus dem 4. Jahrhundert bis zum ersten türkischen Nobelpreisträger Orhan Pamuk im Jahr 2006, von Chinas Dichtergott Du Fu bis zu den US-Ikonen Mark Twain und Ernest Hemingway, von der überragenden kanadischen Gegenwartsautorin Margaret Atwood bis zur chilenischen »Geisterhaus«-Verfasserin Isabel Allende.

Katharina Maier

Die großen Literaten der Welt

Katharina Maier

Die großen Literaten
der Welt

Amerika und Asien


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Es ist nicht gestattet, Abbildungen und Texte dieses Buches zu scannen, in PCs oder auf CDs zu speichern oder mit Computern zu verändern oder einzeln oder zusammen mit anderen Bildvorlagen zu manipulieren, es sei denn mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2012

Korrekturen: Ortrun Cramer, Wiesbaden

Covergestaltung: Thomas Jarzina, Köln

Bildnachweis: akg-images GmbH, Berlin

eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0236-9

www.marixverlag.de

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT: LITERARISCHE SCHLAGLICHTER AUF OST UND WEST

KĀLIDĀSA (4./5. Jhd.)

DU FU (712–770)

ONO NO KOMACHI (9 Jhd.)

(ABŪ ‘ABDOLLĀH DJA’FAR BEN MOHAMMAD) RŪDAKĪ (UM 859–941)

MURASAKI SHIKIBU (UM 948–1016)

(ABŪ MUHAMMAD AL-QĀSIM) AL-HARĪRĪ (1054–1122)

LI QINGZHAO (UM 1084–1150)

HĀFEZ (CHÂDĒ SHANSÒ D-DĪN MOHAMMAD) (1326–1390)

YUN SEONDO (1587–1617)

WU CHENG’EN (UM 1500–1582)

MATSUO (MUNEFUSA) BASHŌ (1644–1694)

SOR JUANA INÉS DE LA CRUZ (JUANA INÉS DE ASBAJE Y RAMÍREZ DE SANTILLANA) (1651–1695)

EDGAR ALLAN POE (1809–1849)

HERMAN MELVILLE (1819–1891)

WALT WHITMAN (1819–1892)

EMILY DICKINSON (1830–1886)

MARK TWAIN (SAMUEL LANGHORNE CLEMENS) (1835–1910)

JOAQUIM MARIA MACHADO DE ASSIS (1839–1908)

HENRY JAMES (1843–1916)

RABĪNDRANĀTH TAGORE (RABĪNDRANĀTH THĀKUR) (1861–1941)

E(MILY) PAULINE JOHNSON (TEKAHIONWAKE) (1862–1913)

RUBÉN DARÍO (FÉLIX RUBÉN GARCÍA SARMIENTO) (1867–1916)

NATSUME SŌSEKI (NATSUME KINNOSUKE) (1867–1916)

GERTRUDE STEIN (1874–1946)

MUHAMMAD IQBAL (1877–1938)

LU XUN (ZHOU SHUREN) (1881–1936)

KHALIL GIBRAN (ĞIBRĀN HALĪL ĞIBRĀN) (1883–1931)

EZRA POUND (1885–1972)

SAMUEL JOSEF AGNON (SCHMUEL JOSEF HALEVI CZACZKES) (1888–1970)

T(HOMAS) S(TEARNS) ELIOT (1888–1965)

GABRIELA MISTRAL (LUCILA GODOY Y ALCAYAGA) (1889–1957)

OSWALD DE ANDRADE (JOSÉ OSWALD DE SOUSA ANDRADE) (1890–1954)

PEARL S(YDENSTRICKER) BUCK (1892–1973)

CÉSAR VALLEJO (1892–1938)

WILLIAM FAULKNER (1897–1962)

THORNTON WILDER (1897–1975)

MIGUEL ÁNGEL ASTURIAS (1899–1974)

JORGE LUIS BORGES (1899–1986)

ERNEST HEMINGWAY (1899–1961)

KAWABATA YASUNARI (1899–1972)

JOHN STEINBECK (1902–1968)

ALEJO CARPENTIER (1904–1980)

DING LING (JIANG BINGZHI) (1904–1986)

PABLO NERUDA (NEFTALÍ RICARDO ELIECER REYES Y BASOALTO) (1904–1973)

PARVIN E’TESAMI (1906/7–1941)

TENNESSEE WILLIAMS (THOMAS LANIER WILLIAMS II.) (1911–1983)

JULIO CORTÁZAR (1914–1984)

OCTAVIO PAZ (1914–1998)

ANNE HÉBERT (1916–2000)

ISAAC ASIMOV (1920–1992)

CLARICE LISPECTOR (1920/25–1977)

EPHRAIM KISHON (FERENC HOFFMANN) (1924 -2005)

ALLEN GINSBERG (1926–1997)

GABRIEL GARCÍA MÁRQUEZ (1927/28)

TONI MORRISON (CHLOE ANTHONY WOFFORD MORRISON) (1931)

KO UN (KO UN-T’AE) (1933)

LEONARD COHEN (1934)

ŌE KENZABURŌ (1935)

ANITA DESAI (1937)

MARGARET ATWOOD (1939)

GAO XINGJIAN (1940)

MAHMOUD DARWISH (1941/42)

ISABEL ALLENDE (1942)

 

SALMAN RUSHDIE (1947)

ORHAN PAMUK (1952)

LITERATUR

ALPHABETISCHE LISTE DER VORGESTELLTEN LITERATEN

VORWORT:
LITERARISCHE SCHLAGLICHTER AUF OST UND WEST

Wer sich selbst und andre kennt, Wird auch hier erkennen: Orient und Okzident Sind nicht mehr zu trennen. Sinnig zwischen beiden Welten Sich zu wiegen lass ich gelten; Also zwischen Ost und Westen Sich bewegen, sei’s zum Besten. JOHANN WOLFGANG GOETHE

Zwar wagten die Europäer den Blick über den literarischen Tellerrand, wie dieses Gedicht von Goethe zeigt, schon vor 200 Jahren, doch sind wir auch heutzutage nach wie vor gut beraten, den Rat des Dichterfürsten aus Weimar anzunehmen. Denn wer vermag schon, nach außereuropäischen Literaten gefragt, aus dem Stegreif mehr als eine Handvoll – zumeist US-amerikanischer – Namen zu nennen? Gleichwohl haben der ›Osten‹ wie der ›Westen‹ den europäischen Betrachter schon immer fasziniert als das vage ›Andere‹, das Exotische, das Ferne. Das vorliegende Buch möchte sich als Beitrag verstehen, dem Leser einen Zugang zu eröffnen zu den bestrickenden Welten der amerikanischen und der asiatischen Literatur, wo berückende Fremdartigkeit genauso auf ihn warten wie unerwartete Vertrautheit. Dabei kann es allerdings nur einen ersten Eindruck liefern, sowohl von der jahrtausendealten, vielschichtigen und vielfältigen literarischen Tradition Asiens als auch von der ungeheuer reichen Literatur des gesamten amerikanischen Kontinents.

Dieses Buch wirft Schlaglichter und beleuchtet so Leben und Werk von 65 der bedeutendsten und größten Dichter und Schriftsteller der Kulturkreise östlich und westlich von Europa. ›Amerika‹ und ›Asien‹ dienen dabei als rein geographische Sammelbegriffe, unter die im letzteren Fall etwa auch Vorderasien und der Nahe Osten fallen, um dem Leser einen möglichst breiten Einblick zu gewähren. Zugleich entstehen dadurch sowohl räumlich als auch zeitlich geradezu unermessliche literarische Kontinente, die durch die geworfenen Schlaglichter nur partiell erhellt werden können. Das Buch deckt eine Zeitspanne vom 4. Jahrhundert n. Chr. bis zur Gegenwart ab, doch wirkte das Gros der hier vorgestellten Literaten im 20. Jahrhundert. Dies liegt im Falle Amerikas schlicht daran, dass sich erst im Laufe der letzten 200 Jahre allmählich eine eigenständige Literatur zu entwickeln begann, die gerade in der literarischen Moderne mit all ihrer imaginativen, umwälzenden Kraft über die Welt hereinbrach. Die asiatische Welt wiederum hat zwar immer wieder das Auge des Westens angezogen, ist aber erst seit dem 20. Jahrhundert dabei, mit immer unüberhörbarer werdenden Stimmen so wortgewaltig auf sich aufmerksam zu machen, dass ihre Literaten nicht mehr vom eurozentristischen Blick ignoriert werden können. Dabei erregen die alten Dichter und Schriftsteller (aufs Neue) das Interesse des Europäers, vielleicht noch mehr jedoch faszinieren die neuen Stimmen, die, zusammen mit den lateinamerikanischen Poeten, besonders in der Postmoderne ihre ganz eigenen Lieder singen.

Das Fremde uns anzueignen und das Selbst im Anderen zu erkennen – dazu fordert uns Goethes Gedicht letztendlich auf. Dieser sein Appell zu geistiger Flexibilität und Aufgeschlossenheit erscheint heute dringlicher als jemals zuvor. Gleichzeitig lädt uns der Dichterweise ein, uns auf eine Reise zwischen den Welten zu begeben und uns auf das große Abenteuer des literarischen Weltbürgertums einzulassen. Das vorliegende Buch versteht sich als kleiner Reiseführer auf dieser geistigen Entdeckungsfahrt und will zugleich zur Erforschung abgelegenerer literarischer Gebiete Lust machen, die jenseits der hier schlaglichtartig beleuchteten Bereiche liegen.

Katharina Maier

KĀLIDĀSA

(4./5. JAHRHUNDERT)

Wolkenbote – Der Dichterßirst des alten Indien

Die Blüte der altindischen Kunstdichtung (kāvya) fällt in den Zeitraum zwischen dem 4. und dem 6. Jahrhundert nach Christus und findet ihren unbestrittenen Höhepunkt in der Gestalt des legendenumrankten Epikers, Dramatikers und Lyrikers Kālidāsa, der bis heute als der größte Poet Indiens gilt.

Wenig ist vom Leben des großen Sanskrit-Dichters Kālidāsa bekannt. Selbst seine Lebenszeit lässt sich aller Bemühungen der Forschung zum Trotz nur vage bestimmen; eine Inschrift aus dem Jahr 634 zeugt zum ersten Mal von der großen Berühmtheit Kālidāsas, und es erscheint am wahrscheinlichsten, dass Indiens überragender Poet um die Wende vom 4. auf das 5. Jahrhundert gelebt und gewirkt hat. Die ausführlichen, besonders blumigen Beschreibungen der Reichshauptstadt Ujjayinī in Kālidāsas Werken – allen voran in dem berühmten Gedicht Meghadūta (Der Wolkenbote)1 – legen nahe, dass diese Stadt die Heimat des Poeten war; möglicherweise war er Dichter am Hofe von Chandragupta II. Vikrmādrya, des dritten der Gupta-Kaiser, unter denen das alte Indien zum Großreich gedieh und die kāvya, die klassische indische Kunstdichtung, volle Blüte trieb. Kālidāsa gehörte höchstwahrscheinlich zu der Kaste der Brahmanen2 und verehrte sowohl Śiva als auch die Göttin Kali, auf die sein Name zurückgeht und die ihm der Legende nach sein ›übermenschliches‹ dichterisches Talent verlieh; die Symbolik seiner Werke, die, wie für die kāvya-Dichtung typisch, mythische und epische Stoffe aufgreifen und in denen die Welt der Menschen und die der Götter und Dämonen ineinanderfließen, spricht deutlich vom starken Einfluss der hinduistischen Lehre. Dennoch fehlt in den Texten des Brahmanen Kālidāsa auch das stark diesseitige Element nicht, das die oft sehr erotische kāvya-Literatur kennzeichnet und unter anderem auf deren Natur als ›Hofdichtung‹ zurückzuführen ist.

Die kāvya-Dichtung, als deren erstes Werk das zentrale Sanskrit-Epos Rāmāyana (Epos von Rāmās Lebenslauf)1 gilt, entwickelte sich in Indien über Jahrhunderte hinweg; zur Zeit der Gupta-Kaiser hatte sich ein systematisiertes Regelwerk gebildet, an dem die vor allem in den städtischen Zentren und im Umfeld des Hofes wirkenden Dichter sich messen lassen mussten. Von einem Literaten wurde eine umfassende Allgemeinbildung erwartet, die sowohl die breite Mythologie umfassen sollte als auch alle Arten von weltlichen Belangen; vor allem jedoch wurde eine genau Kenntnis der kāvya-Poetik vorausgesetzt, die in den Alamkāraśātras, Lehrbüchern der Kunst, niedergeschrieben war. Das Sanskrit-Wort alamkāra bedeutet ›Schmuck‹, und verweist somit auf den formalen Schwerpunkt, den die kāvya-Dichtung setzte. Diese wurde »als sprachliche Komposition, die ästhetisches Wohlgefallen hervorruft« definiert2; das heißt, die ästhetische Form dominiert hier über den Inhalt. In der kāvya-Dichtung geht es darum, alten überlieferten Stoffen aus Legende, Mythos und Epos eine möglichst kunstvolle, gefällige und ›schmuckvolle‹ neue Gestalt zu geben. Metaphern, Wortspiele, farbenreiche Schilderungen, ungewöhnliche Ausdrücke und Wortkombinationen charakterisieren folglich die – gerade für das westliche Auge – oft überwältigende Bildlichkeit dieser Literatur, die, vor allem in ihrer späten, ›dekadenten‹ Form, Gefahr läuft, im sprachlichen Schmuckwerk zu ersticken3. Nicht so bei Kālidāsa; der große Dichter beherrschte das ästhetische Sprachspiel in Perfektion und wusste den Reichtum der kāvya-Dichtung einzusetzen, um Kompositionen größter Harmonie zu kreieren – jene Harmonie, die den dhvani (den Grundton, die Seele) seiner Poesie konstituiert.

Die kāvya-Dichtung umfasst die Gattung des Epos, des Dramas und der Lyrik, und in allen dreien war Kālidāsa unangefochtener Meister. Von den zahlreichen Werken, die ihm ob seiner Berühmtheit zugeschrieben werden, stammen mit Sicherheit das vielgelobte Langgedicht Meghadūta (Der Wolkenbote), die beiden höfischen Epen Kumārasambha (Die Geburt des Kriegsgottes) und Raghumvamśa (Das Raghu-Geschlecht) und die Dramen Mālavikāgnimitra (Das Schauspiel von Malavika und Agnimitra), Vikramorvaśīya bzw. Urvaśī (Das Schauspiel von Vikrama und Urvshi) und die weltberühmte Śakuntalā von Kālidāsas Hand. Vor allem die Śakuntalā und der Meghadūta, die beide zu den größten und wichtigsten Schöpfungen der Weltliteratur gehören, machten Kālidāsa weit über Indien hinaus berühmt, und das von Anfang an; Meghadūta existierte schon bald nach seiner Entstehung in tibetischen, mongolischen und singhalisischen Übersetzungen, und das Langedicht über den Wolkenboten war eines der ersten (alt)indischen Werke, die in Europa bekannt wurden. Unter anderem Johann Wolfgang Goethe (1749–1832) und Alexander von Humboldt (1769–1859) gehörten zu den Bewunderern des Wolkenboten, der voller intensiver wie zarter Natur- und Gefühlsschilderungen ist und in dem sich die starke Sehnsucht ›getrennter Liebe‹ (virhara) manifestiert1. Die Berühmtheit, Bedeutung und dichterische Meisterschaft des Meghadūta werden nur noch von der Śakuntalā übertroffen, die in Indien und darüber hinaus als das bedeutendste Sanskrit-Drama überhaupt gilt. Sie wird als die Krönung der hochentwickelten kāvya-Dramenkunst angesehen2, die eine in mythologische Stoffe gekleidete Nachahmung des Lebens sein will und daher – im Gegensatz zum höfischen Epos – eine lebensnahe Volkskunst konstituierte. Das Stück – das wie die beiden anderen Dramen Kālidāsas eine Liebe zum Thema hat, die allerlei himmlische wie irdische Hindernisse zu bewältigen hat, bevor sie Erfüllung findet – erzählt die Geschichte von König Dusyanta und Śakuntalā, der Tochter eines Einsiedlers und einer Aspara (himmlische Nymphe). Das Paar wird durch einen Fluch, der den König seine Geliebte vergessen lässt, getrennt. Erst als der Zufall Dusyanta einen Ring in die Hand fallen lässt, den er Śakuntalā einst geschenkt hat, erinnert sich der König und wird – nach einem Kampf gegen die Dämonen an der Seite des Götterkönigs Indra – mit seiner Geliebten und dem gemeinsamen Sohn vereint. Wie mit den meisten seiner Texte greift Kālisāda auch mit der Śakuntalā altbekannte epische und mythologische Stoffe auf, fügt jedoch eigene Ideen hinzu (etwa den verlorenen und wiedergewonnenen Ring) und treibt ein meisterhaftes Spiel mit überlieferten Motiven. Das Werk ist von einer lyrischen Eindringlichkeit und fesselt sowohl durch seine intensive Sprache als auch durch die Lebensechtheit seiner Charaktere; vor allem Śakuntalā selbst beweist eine Gefühlstiefe, wie sie angesichts der altindischen Auffassung von der Unterlegenheit der Frau überraschen muss. Die Bedeutung der Śakuntalā für die indische Literatur, ja, für die Weltliteratur, kann kaum überschätzt werden; Goethe, der Elemente des altindischen Dramas in seinen Faust (1808/1828-29) integrierte, schrieb mit berechtigter Begeisterung über das Meisterwerk Kālidāsas:

Willst du die Blüte der frühen, die Früchte der späten Jahre,

Willst du, was reizt und entzückt, willst du, was sättigt und nährt,

Willst du den Himmel, die Erde mit Einem Namen begreifen,

Nenn’ ich, Sakontala, dich, und so ist alles gesagt.

Wichtige Werke:

Kumārasambha (Die Geburt des Kriegsgottes)

Mālavikāgnimitra (Das Schauspiel von Malavika und Agnimitra)

Meghadūta (Der Wolkenbote)

Raghumvamśa (Das Raghu-Geschlecht)

Śakuntalā (Śakuntalā oder Das Erkennungszeichen)

Vikramorvaśīya/Urvaśī (Das Schauspiel von Vikrama und Urvshi)

1 Kālidāsas Werke sind in ersten Linie unter ihren Sanskrit-Originaltiteln bekannt.

2 oberste Kaste der Hindus (Priester, Dichter, Gelehrte, Politiker)

1 Das Rāmāyana ist eines der indischen Nationalepen und wurde vermutlich von dem Dichter Valmiki in der Zeit zwischen dem 4. Jahrhundert vor und dem 2. Jahrhundert nach Christus verfasst.

 

2 vergl. Klaus Mylius. Geschichte der altindischen Literatur. Die 3000-jährige Entwicklung der religiös-philosophischen, belletristischen und wissenschaftlichen Literatur Indiens von den Veden bis zur Etablierung des Islams. Scherz 1988. S. 157.

3 Ein Beispiel ist die Dominanz der nominalen über die verbale Ausdrucksform, was im Sanskrit schließlich zu immer unüberschaubarer werdenden Kompositionen und regelrechten Wortungetümen führte.

1 Der Meghadūta besteht hauptsächlich aus dem Monolog eines verbannten Yaksa (eines halbgöttlichen Wesens), der sich in Sehnsucht nach seiner Frau verzehrt und einer Regenwolke – vergessend, dass diese kein lebendiges Wesen ist – eine Botschaft an die Geliebte mitgibt.

2 Das Drama gilt in der kāvya als höchste Gattung, da es Epik und Lyrik in sich vereint (es enthält sowohl Passagen in Prosa als auch in Lyrik), verschiedene Sprachen gebraucht (je nach Stand und Geschlecht der auftretenden Personen) und ein komplexes Gesamtkunstwerk aus Wort, Geste und Klang bilden muss.

DU FU

(712–770)

Vollkommene Symphonie – Der Dichterheilige

Du Fu, der Dichterheilige (Shisheng), ist zusammen mit seinem Zeitgenossen Li Bai oder Li Bo (701–762)1 der bedeutendste Poet der chinesischen Literatur. Er brachte die klassische Dichtung der Tang-Dynastie zu ihrem Höhepunkt und überschritt sie zugleich mit seinen kühnen sprachlichen und thematischen Innovationen, die ihrer Zeit oft Jahrhunderte voraus waren. Er brachte den Alltag in die chinesische Poesie und besticht doch durch seine ungeheure Gelehrsamkeit. Teilnahmsvoll dokumentiert Du Fu das Leiden seines vom Krieg gebeutelten Landes und der eigenen Familie, während er gleichzeitig in den meisten seiner Gedichte den melancholischen Gestus eines ewig Heimatlosen beibehält.

Die Zeit der Tang-Dynastie (618–907) sah die Blüte der klassischen chinesischen Kunst in all ihren Formen, und ihr Höhepunkt fiel in die Lebenszeit von Du Fu und seinem elf Jahre älteren Zeitgenossen Li Bai. Beide großen Dichter müssen fast in einem Atemzug genannt werden, erscheinen sie doch oft wie die zwei Seiten einer Münze: Während Li Bai für seine anarchische Weinseligkeit und seine überbordende Lebensfreude bekannt ist, verkörpert Du Fu den melancholischen Mahner und formstrengen Gelehrten. Diese beliebte (und vereinfachende) Kontrastierung2 darf aber nicht über die tiefe Verbundenheit dieser beiden bedeutendsten chinesischen Dichter hinwegtäuschen, die sich auf persönlicher Ebene durch eine, trotz nur einmaliger Begegnung3 ausgesprochen tiefe, Freundschaft niederschlug und auf künstlerischer Ebene durch eine allen Unterschieden zum Trotz sehr ähnliche poetologische Grundeinstellung. Diese äußerte sich bei Du Fu, wie Reinhard Emmerich anmerkt, etwa durch »eine in die höchste Überheblichkeit gesteigerte Auffassung über seine frühe literarische Reife und sein poetisches Schaffen, die sich mit einer Geringschätzung älterer Poeten paart oder ihn sagen ließ, wenn man (wie er) zehntausend Buchrollen zerlesen habe, führe einen gleichsam ein Geist den Schreibpinsel«1. Mit einer solchen, offensichtlich nicht unberechtigten, genialischen Einstellung brachten Li Bai und Du Fu die ausgesprochen regelstrenge klassische Poetik der Tang-Dichtung an ihre Grenzen – und darüber hinaus.

Während die weingetränkte Lebenslust des Li Bai im Westen lange Zeit größeren Anklang fand als Du Fus herb-alltägliche Schwermut – unter anderem ersichtlich an der Vertonung von sechs Li-Bai-Gedichten durch Gustav Mahler (1860–1911) in dessen Lied von der Erde (ca. 1908–1909) –, wird Du Fu in China selbst als der bedeutendste Poet überhaupt angesehen. Sein Einfluss auf die spätere chinesische, und ab dem 17. Jahrhundert auch auf die japanische2, Literatur und Kultur war derart groß, dass Du Fu als der chinesische Shakespeare bezeichnet werden kann; seit der Song-Dynastie (960–1279) – die Zeit der Wiederbelebung der Werke des bis dahin ob seiner innovativen Radikalität fast vergessenen Du Fu – kann sich kein chinesischer Literat dem Einfluss des Dichterheiligen ganz entziehen. Mehr noch als Li Bai bereicherte Du Fu die chinesische Literatur um sprachliche, formale und thematische Neuerungen, die selbst heute noch oft unkonventionell erscheinen.

Trotz oder gerade wegen seines Innovationsgeistes war Du Fu ein Meister jeglicher Spielart und Gattung der klassischen chinesischen Poesie. Deren Schwerpunkt lag von jeher auf der Harmonie der Form, die der Dichterheilige durch seine poetische Virtuosität zur Vollendung brachte. Seine Lyrik wird in China deswegen als jidacheng, als ›vollkommene Symphonie‹ bezeichnet, ein Begriff, mit dem auch das Werk des Konfuzius beschrieben wird. Sein Beiname Shisheng bringt Du Fu ebenfalls mit dem ›Philosophenheiligen‹ Konfuzius in Verbindung, dessen Lehre eine wichtige Rolle für die Weltsicht des großen Lyrikers spielte. Du Fus (dichterische) ›Heiligkeit‹ meint jedoch nicht eine weltabgewandte Jenseitigkeit, wie sie viele seiner vom Wunderglauben und dem Wunsch nach der Unsterblichkeit erfüllten Zeitgenossen charakterisiert, sondern vielmehr eine Hinwendung zum Hier und Jetzt, zu den kleinen und unscheinbaren Dingen und zum Alltag des Lebens und Leidens. So schreibt Du Fu in dem Gedicht Am reinen Strom:

Großmutter malt ein Schachbrett auf Papier,

Ein Kind klopft eine Nadel sich zur Angel.

Für Krankheit gibt’s Tinktur und Elixier.

Woran ist für den armen Leib noch Mangel? 1

Somit nennt Wolfgang Kubin Du Fu zu Recht den ersten »weltlichen« Dichter Chinas2, der über das tägliche Leben schreibt, über die eigene Familie3 und, oft klagend, über seine eigene Befindlichkeit, welche er jedoch meist in einen größeren Kontext stellt: eingebunden in die sich immer gleichbleibende Natur, verortet im zeitgeschichtlichen Geschehen oder über die Evokation historischer Gestalten in einen übergeordneten Zusammenhang gebracht. Dabei porträtiert sich Du Fu selbst sowohl als den körperlich wie seelisch Leidenden, der sozusagen das Elend seines von Bürgerkrieg, Hunger und Krankheit zerrissenen Volkes in sich aufnimmt, als auch als den rastlos Wandernden in der Fremde, der nie heimkommt:

Fremde

Nie war der Fluss so grün, das Weiß der Vögel weißer,

So blau der Berg, das Rot der Blüten heißer.

Und doch vergehts, das Jahr, gleich allen, wies auch brennt,

Und niemand ist, der mir den Tag der Heimkehr nennt.4

So ist dem ausgesprochen biographischen Werk des Du Fu1 aller vollendeten Symphonie in der poetischen Form zum Trotz eine gewisse melancholische Spannung zu eigen, die die vollständige Vereinigung von Mensch und Natur zu einen harmonischen Ganzen unmöglich macht. Dieser ›Riss in der Welt‹, der sich durch Du Fus Poesie zieht, spiegelt sich in seinem Leben sowie in dem historischen Hintergrund seiner Epoche. Es ist die Zeit des An-Lushan-Aufstandes2, der von 755 bis 764 andauerte und zusammen mit verheerenden Hungersnöten, Naturkatastrophen und außenpolitischen Gebietsverlusten die Bevölkerung Chinas von über 50 Millionen auf weniger als 20 Millionen reduzierte. In seiner Position als niederer Beamter am kaiserlichen Hof in Chang’an (dem heutigen Xi’an), die er von 755 bis 759 innehatte und die der Sohn einer verarmten adligen Familie sein ganzes unstetes Leben lang zu erreichen bestrebt gewesen war3, versuchte Du Fu, sich mit Rat und Tat am Widerstand gegen die Rebellion zu beteiligen. Aus Enttäuschung über die Zurückweisung seiner Bemühungen und die allgegenwärtige Korruption machte sich Du Fu im Jahr 759 auf in die Stadt Chengdu, wohin er seine Familie zu deren Sicherheit geschickt hatte. Während seiner Reise durch das Land wurde er Zeuge und Opfer des Elends, das im Reich herrschte und sich zum Hauptthema seiner Gedichte entwickelte. Du Fu wurde so zum ›Dichter-Historiographen‹ seiner Zeit, der den historischen Ereignissen sowie der Vergangenheit poetische Gestalt gab. Seine Verse über den Krieg – etwa Die müde Nacht, Die Wäscheklopferin, In einer Mondnacht an die Brüder denkend und Reise in den Norden – wurden zu den berühmtesten Werken des Dichterheiligen. Die nächsten Jahre verbrachte Du Fu in Chengdun, zwei davon in seiner berühmten Grashütte, in der er eine Art Eremitenexistenz führte. Deren Nachbildung neben einem Ehrentempel, der zur Zeit der Song-Dynastie in Erinnerung an den Dichterheiligen errichtet wurde, ist heute noch zu besuchen. Du Fus Familie lebte in Chengdun in Armut und der Abhängigkeit von Gönnern; dennoch entstanden die meisten der über 14.000 Gedichte des großen Poeten in dieser Zeit und während seiner letzten Lebensjahre, die der große Wanderer – wie die Jahre seiner Jugend und der Kriegszeit – in steter Unrast verbringen musste.