Nicolaus Cusanus

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Aus der Reihe: Kleine Mystiker-Reihe
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Nicolaus Cusanus
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Über den Autor
Über den Autor

Dr. theol. h.c. Gerhard Wehr, geb. 1931 in Schweinfurt/Main. Nach langjähriger Tätigkeit auf verschiedenen Feldern der Diakonie und der Erwachsenenbildung, zuletzt als Lehrbeauftragter an der Fachakademie für Sozialpädagogik in Rummelsberg/Nürnberg, arbeitet er als freier Schriftsteller in Schwarzenbruck bei Nürnberg. Ein Großteil seiner Werke zur neueren Religions- und Geistesgeschichte ist in mehreren europäischen und asiatischen Sprachen verbreitet.

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Nicolaus Cusanus war eine der markanten und geistig prägenden Gestalten auf der Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit: Jurist, Theologe, Philosoph, Mathematiker und Diplomat.

Aus dem Inhalt

Unser Wissen als Nichtwissen

Zum Erfassen göttlicher Wahrheiten – De docta ignorantia

Auf der Jagd nach der Weisheit – De venatione sapientiae

Briefwechsel mit den Mönchen im Kloster Tegernsee

Worte der Weisheit und des Glaubens

Cusanus (1401–1464) stammt aus Bernkastel-Kues und ist der Sohn eines Moselschiffers und Kaufmanns. Von der Mystik Meister Eckharts und des nachhaltig wirksamen Dionysios Areopagita inspiriert, hat er ein philosophisches Werk geschaffen, in dem es um die zu erstrebende Einheit und Ganzwerdung durch Überwindung der Gegensätze (coincidentia oppositorum) geht. Er wurde Kardinal und Bischof von Brixen, dazu ein Diplomat von epochaler Bedeutung. Cusanus gehört zu den Ersten, die im 15. Jahrhundert über einen Ausgleich zwischen den Religionen nachgedacht haben und sich um ein Verständnis von Koran und Islam bemühten. Von daher gesehen kann die Auswahl der von Gerhard Wehr eingeführten und kommentierten Schriften Aktualität beanspruchen.

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Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2011 Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH Bildnachweis: akg-images GmbH, Berlin Lektorat: Dr. Bruno Kern, Mainz eBook-Bearbeitung: Medienservice Feiß, Burgwitz Gesetzt in der Palatino Ind Uni – untersteht der GPL v2 ISBN: 978-3-8438-0199-7 www.marixverlag.de

Über den Autor

Zum Buch

I. Auf der Schwelle zweier Epochen

II. Stadien seines Lebens

III. Elemente seines Denkens

IV. Die Texte

Zur vorliegenden Ausgabe

1. Unser Wissen als Nichtwissen

2. Zum Erfassen göttlicher Wahrheiten – De docta ignorantia

3. Zwei Weisen der Schau Gottes – De visione Dei

a) Das Sehen Gottes als Gegenwart und Leben

b) Von der Frucht der geistigen Schau

c) Was das Sehen Gottes bewirkt

d) Auf dem Weg zur Schau Gottes

e) Jenseits der Einheit der Gegensätze wird Gott erkannt

f) Gott als Ziel und Ende unserer Sehnsucht

g) Unendlichkeit der Gottesliebe

4. Vom Gottsuchen – De quaerendo Deum

5. Religionsfriede – De pace fidei

6. Kritik des Korans – De cribratione Alchorani

a) Zum Inhalt des Korans

b) Vorzug des Evangeliums

c) Christus im Koran

d) Vom Wesen der Dreieinigkeit

e) Christi Tod und Auferstehung

f) Invektive gegen den Alchoran

7. Auf der Jagd nach der Weisheit – De venatione sapientiae

8. Briefwechsel mit den Mönchen im Kloster Tegernsee

9. Cusanus in seinen Predigten

a) Angesichts des Heiligen Abendmahls

b) Vom wahren Christsein

10. Worte der Weisheit und des Glaubens

V. Stimmen und Zeugnisse zu Nikolaus von Kues

Johannes Trithemius (1462 – 1556)

Giordano Bruno 1588

Friedrich Schlegel 1807

Rudolf Steiner 1901

Josef Bernhart 1922

Wilhelm Oehl 1931

Karl Vorländer 1949

Leo Gabriel 1964

Karl Jaspers 1964

Detlef Thiel 1999

Alois Maria Haas 1999

Kurt Flasch 2002

Literatur

Werkausgaben

Sekundärliteratur

Fußnoten

Kontakt zum Verlag

I. Auf der Schwelle zweier Epochen

Im Laufe der abendländischen Geistesgeschichte gewinnt man mehrfach den Eindruck, an einer Grenzscheide zu stehen und mit Erscheinungen eines Übergangs konfrontiert zu sein. Immer wieder zeigt es sich: Altes vergeht, Neues zeichnet sich nach einer gewissen Vorbereitung ab. Im jeweils Gegenwärtigen scheint sich Zukünftiges zu präformieren. Im Bereich von Theologie und Spiritualität, von mystischer Innerlichkeit und weltläufiger Aktivität lässt sich dies für das ausklingende Mittelalter am Leben und vielseitigen Wirken des Nikolaus von Kues (1401 – 1464), Cusanus genannt, veranschaulichen. Dabei erübrigt sich der Hinweis, dass Nikolaus bei Weitem nicht der Einzige ist, von dem gesagt werden kann, dass er auf der Schwelle zwischen zwei Epochen stehe. Doch muss ihm für seine Zeit eine beispielhafte Bedeutung zuerkannt werden. In den philosophiehistorischen und theologiegeschichtlichen Darstellungen geschieht das auch.1 Hinsichtlich der Vielseitigkeit seiner Studien und seines Schaffens bedarf es daher mehrerer Etiketten, um diese schon zu seinen Lebzeiten markante, in mehrfacher Hinsicht herausragende Persönlichkeit wenigstens stichwortartig zu charakterisieren.

Er war Jurist und Diplomat, Theologe und Philosoph, Mathematiker und Astronom. Als Doktor des kanonischen Rechts wurde er mit allerlei kirchendiplomatischen Aufgaben betraut. Er diente als Berater des Papstes Pius II. (1458 – 1462), war Kardinal, stand als Bischof von Brixen seiner Diözese vor und wirkte beim Konzil in Basel mit, das 1431 als ein Reformkonzil eröffnet worden war. Er setzte sich für eine umfassende Einheit der Kirche ein und dokumentierte dies in seiner Frühschrift De concordantia catholica (1433). Dabei galt es, schwerwiegende innerkirchliche Missstände zu klären, um schließlich die Einheit der Christenheit herbeizuführen und sicherzustellen. Und dies ein Jahrhundert vor Anbruch der eigentlichen, mit Leben und Werk Martin Luthers (1483 – 1546) verbundenen Reformation. Dazu bedurfte es nicht zuletzt eines zumindest im Ansatz irenisch gesonnenen, auf Ausgleich der divergierenden Interessen von Papst und Bischöfen bedachten Wortführers. Über diese Fähigkeit verfügte der Cusanus, auch wenn einzuräumen ist, dass diese Gesinnung einer friedenstiftenden Mentalität von ihm nicht immer durchgehalten werden konnte.

 

Der ihm eigene Zug zum Ausgleich ist an der Tatsache abzulesen, dass er vom Geist der Mystik geprägt war. Er kannte lateinische und wohl auch deutschsprachige Schriften sowie Predigten Meister Eckharts. Schließlich ist anzumerken, in welcher bedeutsamen Situation sich die abendländische Christenheit befand: Im Jahre 1453 hatten die Türken Konstantinopel (heute Istanbul) erobert und damit für die westliche Christenheit schwerwiegende Fakten geschaffen. Da bedurfte es eines Mannes, dem es gegeben war, die Fragen der interreligiösen Gegensätze klären zu helfen, etwa: Wie soll sich die Christenheit dem zum Sturm auf die Mitte Europas angetretenen Islam gegenüber verhalten? Auf welche Weise ist der ernsthaft gefährdete Religionsfriede sicherzustellen? Hier waren vom Cusanus religionsphilosophische Einsichten gefragt, die sich nicht etwa nach Art der einstigen Kreuzzugsideologie an gewaltsamen Lösungen orientierten, sondern so etwas wie einen Entwurf für einen zukunftsfähigen Religionsfrieden verlangten. Zum Charakteristikum der kirchengeschichtlichen Lage gehörte die Tatsache, dass – seit 1054 – immer noch der Dissens zwischen der römischen Westkirche und der griechisch-byzantinischen Kirche des Ostens bestand. Insofern fehlte es nicht an Versuchen, die Arbeit der kirchlichen »Brückenbauer« zu unterstützen. Als ein solcher »Pontifex« war Nikolaus von Kues in Pflicht genommen.

Wer sich in die Schriften des auch um Zusammenschau von Natur und Geist bemühten Gelehrten vertieft, der kann sich der von ihm ausgeübten Faszination nicht entziehen. Dabei ist zu bedenken, dass er sich als einer der Ersten um das Verständnis des Korans und muslimischer Frömmigkeit bemüht hat. Das wird deutlich, wenn man den Lebensspuren des weit gereisten, aktiven Kirchenmannes wie des nach innen blickenden frommen Mystikers nachgeht. In einem seiner zahlreichen, zum Teil in Dialogform entworfenen Texte bringt er auf den Punkt, was ihm hinsichtlich der Achtsamkeit im täglichen Leben wichtig geworden ist. Hierzu ein Wort, das auf den Umgang mit ihm und unseren Zeitgenossen anwendbar ist:

»Oft gehen Leute an uns vorüber, und wir nehmen sie nicht wahr, weder durch das Gesicht noch durch das Gehör, weil wir nicht darauf aufmerksam sind. Wenn wir aber aufmerksam sind, dann nehmen wir sie wahr. Wir besitzen in unserer Seele den Vernunftgrund (rationem) und die Wissenschaft des Wissbaren der Kraft nach; trotzdem nehmen wir seine Wahrheit nur dann wirklich wahr, wenn wir aufmerksam darauf gerichtet waren, dies zu sehen.«2

Nikolaus von Kues, der im Bewusstsein der Gottesgegenwart, das Endliche vor dem Hintergrund und der Tiefe des Unendlichen erkennend, sein Tagewerk erfüllen wollte, ist nicht nur ein Mensch des ausgehenden Mittelalters. Sein Blick reicht viel weiter. Er vermag noch im 21. Jahrhundert unser Interesse zu erwecken, auch wenn die ihn bewegenden elementaren Fragen, insbesondere die zum Religionsfrieden und zum Themenkreis Islam, neben anderen Stellungnahmen inzwischen ein ganz neues Gesicht bekommen haben. Karl Jaspers war es, der von dem meditativen Philosophen an der Epochenschwelle gesagt hat, er habe wie kein anderer den Menschen, dessen Größe und Grenze, dessen Vermögen und geistige Schöpferkraft in den Mittelpunkt seiner Erwägungen gestellt. Für den Cusanus selbst war es naturgemäß die Gottesfrage, der er sich – beispielsweise in der geistigen Nachfolge Meister Eckharts – als ein mystisch Frommer verschrieben hat.3

II. Stadien seines Lebens

Der Sohn des Schiffseigners und des als Winzer zu Ansehen gelangten erfolgreichen Kaufmanns Johann Krebs (ursprünglich: Chryfftz, lat. Cancer) ist 1401 in der heute zu Bernkastel gehörigen Ortschaft Kues geboren. Weil das kleine Dorf an der Mosel zum Bistum Trier gehört hat, wird er in Chroniken auch als Nicolaus Trevirensis geführt, oder man nennt ihn in lateinisch abgefassten Texten Nicolaus de Cusa.

Gesicherte Lebensdaten liegen für ihn erst seit 1416 vor, als der weit gereiste, als Weinlieferant tätige Vater seinen erst fünfzehnjährigen Nikolaus zum Studium auf die Universität Heidelberg schickte. Es ist anzunehmen, dass er im Laufe seiner Ausbildung von dem spektakulären Ketzerprozess und dessen Folgen in jenen Jahren gehört haben wird. Es handelte sich um den aus Böhmen stammenden, seiner kirchenkritischen Predigten wegen vor das Konzil in Konstanz zitierten Kirchenreformer Jan Hus. Weil er trotz der von Kaiser Sigismund gemachten Zusage des freien Geleits 1415 verbrannt worden ist, war auf Jahrzehnte hinaus für Aufsehen und Diskussionsstoff gesorgt. Solche Vorgänge dürften nicht zuletzt dem angehenden Studenten des Kirchenrechts zu denken gegeben haben.

Im Gang der zeitüblichen Studien ging es für Nikolaus zunächst um den Erwerb des schulischen Grundlagenwissens in Gestalt der artes liberales, das heißt der sogenannten freien Künste4. Im Rahmen des scholastischen, sich nach und nach ausdifferenzierenden Bildungswegs folgte auf dieser Basis das eigentliche Hochschulstudium innerhalb der drei klassischen Fakultäten: der Jurisprudenz, der Medizin und schließlich der philosophisch fundierten Theologie.

Eine erste wesentliche Erweiterung seines geistigen Horizonts erfuhr Nikolaus in Padua, damals, am Vorabend der Renaissance, ein Zentrum des europäischen Geisteslebens. Dort studierte er zunächst Kirchenrecht und promovierte zum Doctor decretorum. Seine juristischen Studien erweiterte er schon früh durch die Beschäftigung mit Mathematik und Astronomie sowie durch das Erlernen der griechischen Sprache, deren Kenntnis für die humanistisch Gebildeten der Folgezeit in Kirche und Gesellschaft unverzichtbar werden sollte, nicht zuletzt für die Verdeutschung des Neuen Testaments durch Martin Luther.5 Der Kusaner musste in Erfüllung seiner Aufträge für die Gelehrten des europäischen Ostens ohnehin sprachenkundig und gesprächsfähig sein.

1425 ließ sich der junge Kirchenrechtler an der Universität Köln immatrikulieren, wo mehr als ein Jahrhundert zuvor die Meister aus dem Dominikanerorden, an ihrer Spitze Albertus Magnus und Thomas von Aquin, das Hochschulwesen bestimmt haben. Es galt, sein philosophisches und theologisches Wissen zu vertiefen. Bedeutsam wurde für ihn die Bekanntschaft mit den Gedanken des Dionysios Areopagita und dessen negativer Theologie. Es ist jene Theologie, die trotz allen Wahrheitsstrebens darauf verzichtet, ein zureichendes Wissen vom Wesen Gottes zu beanspruchen. Sie geht von der Einsicht aus, dass keine der üblichen Aussagen über Gott ihm selbst, dem lebendigen Gott, angemessen sein kann. Er bleibt transzendent. Man mag zwar immer neue Gottesbilder entwerfen, aber die Tiefe der Gottheit bleibt unerreichbar. Um es durch ein Paradox anzudeuten: Wer Gott erfahren hat, der hat ihn letztlich nicht erfahren!

Um für die Begegnung mit dem Osten gerüstet zu sein, reiste Nikolaus mit seinem Kölner Lehrer Heymericus de Campo nach Paris, um die Schriften des Katalanen Raymundus Lullus (Ramon Llull; 1232/35 – 1316) näher kennenzulernen. Als Doctor illuminatus tituliert, war auch er ein universell gebildeter Gelehrter, der in seiner Heimat mit den Überlieferungen der Troubadourdichtung aufgewachsen war. Er zählt zu den allerersten abendländischen Wegbereitern für eine Begegnung mit den Weltreligionen, insbesondere mit dem Islam und dessen sufitischer Mystik. Berühmt wurde Llull durch sein in diesem Geist geschriebenes Werk »Das Buch vom Freunde und vom Geliebten« (Libre de Amic e Amat)6. Insofern steht der Cusanus, was seine eigenen Gesprächskontakte mit den Muslimen anlangt, auf den Schultern des großen Katalanen.

Statt einen ihm zweimal angebotenen Lehrstuhl an der neu gegründeten Universität Löwen anzunehmen, war Cusanus als Anwalt tätig und diente, etwa von 1425 an, als Sekretär des Erzbischofs von Trier. Die durch allerlei Streitigkeiten beunruhigte, stets der Reform bedürftige Kirche lud ihn alsbald zu ihrem Konzil nach Basel ein, an dem er mitwirkend teilnahm. Bei der Auseinandersetzung in der Frage, ob die Partei der Konzilsväter (Konziliaristen) oder die der Papst-Anhänger die Konzilsoberhoheit haben sollten, schlug er sich nach anfänglichem Zögern auf die päpstlich-kuriale Seite. Ihm lag, wie es seinem Grundanliegen entsprach, an der Einheit der Kirche, die er am ehesten durch den Träger der zentralen Macht in Rom gewährleistet sah. Vor allem bemühte man sich während des teils in Basel, dann teils in Ferrara und in Florenz agierenden Konzils, zu einem Ausgleich zu kommen. Schließlich nahm Cusanus 1437 an Verhandlungen mit der getrennten Ostkirche in Konstantinopel teil.7 Die Bemühungen um eine Aufhebung der großen Kirchenspaltung (Schisma), bei denen er erwartungsgemäß römische Interessen unterstützte, führten damals jedoch über formale Einigungsformeln kaum hinaus. Für Nikolaus war es wichtig, dass er einen etwa zweimonatigen Aufenthalt in Konstantinopel unter anderem zur Fortführung seiner schon in Basel betriebenen Koran-Studien nutzen konnte. Diese schlugen sich in einigen seiner späteren Schriften nieder, speziell in »Die (kritische) Sichtung des Korans« (Cribratio Alchoran, 1461).

Auch die kirchliche Hierarchie bestimmte seine weitere Karriere. Verhältnismäßig spät (zwischen 1436 und 1440) empfing er die Priesterweihe. Dagegen dauerte es nur acht Jahre, bis er 1448 durch Papst Nikolaus V. die Kardinalswürde erlangte. 1450 wurde ihm als Bischof die Diözese von Brixen anvertraut. Aus dem Mann aus der Provinz und aus der Familie eines schlichten Moselschiffers war ein Oberer seiner Kirche geworden, dazu ein Philosoph und ein international agierender Diplomat der römischen Kirche. Die langjährige Freundschaft mit dem Humanisten und Dichter Enea Silvio Piccolomini, der 1458 als Pius II. den päpstlichen Stuhl bestieg, bahnte seinen Weg, um in Rom an der Spitze der westlichen Christenheit beratend tätig zu sein. Vergebens suchte Nikolaus in sein Tiroler Bistum zurückzukehren, zumal er in der heiligen Stadt die Funktion eines Legaten und Generalvikars der römischen Diözese zu erfüllen hatte, von der er wegstrebte. Zu seinen Funktionen in der »heiligen Stadt« gehörte auch die schwierige Aufgabe eines Friedensstifters, der bestrebt sein musste, die Rechte der Kirche vor Übergriffen der politisch Mächtigen zu schützen.

Nach einer Erkrankung, die sich Nikolaus von Kues auf dem Weg nach Venedig und in Vorbereitung eines sogenannten »Kreuzzugs gegen die Osmanen« zugezogen hatte, verstarb Nikolaus von Kues erst 63jährig am 11. August 1464 in dem umbrischen Bergstädtchen Todi. Sein Grab befindet sich in seiner römischen Bischofskirche in S. Pietro in Vincoli (Sankt Peter in Fesseln), während sein Herz, seinem ausdrücklichen Wunsch gemäß, in der Kapelle des von ihm und seinen Angehörigen gestifteten Sankt-Nikolaus-Hospitals in Kues, also an seinem Geburtsort, beigesetzt ist. Im dortigen Hospital hütet man auch seine umfangreiche Bibliothek, die er als Gelehrter in Gestalt seltener Handschriften im Laufe seiner Schaffensjahre zusammengetragen hatte. Die Mittel dazu und für die im Spital zu betreuenden Armen schöpfte er aus zahlreichen gut dotierten Pfründen und Privilegien.

III. Elemente seines Denkens

Obwohl Nikolaus infolge seiner ausgedehnten, in der Regel auftragsbedingten Reisen durch Deutschland, in Italien, nach Athen und bis nach Konstantinopel ein überaus bewegtes Leben führte, ist der Umfang seines literarischen Schaffens beträchtlich. Gott, Welt, Mensch, der innere wie der äußere Friede bestimmen sein auf Ausgleich und Versöhnung angelegtes Denken. Auf eine universell aufzufassende Ganzheit hin, in der Gegensätze eine komplementäre Rolle spielen, sind seine philosophischen und theologischen Schriften ausgerichtet. Durch sie hat er schon zu Lebzeiten Anerkennung und schließlich einen prominenten Platz in der europäischen Religions- und Geistesgeschichte erworben.8

 

Versucht man sein Lebenswerk auf einen einfachen Nenner zu bringen, dann darf von seinem unablässigen Streben nach Erkenntnis wie nach Verwirklichung einer allem zugrunde liegenden Einheit gesprochen werden. Zu überwinden war ein Denken, das sich prinzipiell einem Verharren in unversöhnlichen Gegensätzen verschrieben hat. Was er auf der religionsphilosophischen Ebene als Zusammenfallen (Koinzidenz) aller denkbaren Gegensätze (coincidentia oppositorum) begreiflich zu machen suchte, das fand in seinen innerkirchlichen wie weitreichenden kirchendiplomatischen Aktivitäten eine historisch bemerkenswerte Entsprechung. Es ging ihm sowohl um die Reform der Kirche (Ecclesia semper reformanda) großen Stils, etwa im Verhältnis von Papsttum und den Bischöfen, als auch mit Blick auf die Reformbedürftigkeit von Ordensgemeinschaften um das fragwürdig gewordene Leben in vielen Klöstern sowie um beklagenswerte regionalkirchliche Verhältnisse. Dabei wird ihm nachgesagt, dass er in seinem Eifer zuweilen verurteilende Härte zeigte und in Feindseligkeiten – zumindest ausnahmsweise – vor Gewaltanwendung nicht zurückschrak. Wie schon beim Blick auf Nikolaus’ Lebenslinien erwähnt, ist seinen Bemühungen um Verständnis, Dialog und Begegnung mit anderen Religionen, selbst mit dem Islam, eine besondere Bedeutung beizumessen. Nikolaus predigt, schreibt und stellt sich dem freimütigen Gespräch – und in der Regel leitet ihn das Lebensthema dieses zur Harmonisierung des Gegensätzlichen tendierenden Menschen.

Von ihm selbst erfahren wir von einem inspirativen Moment, als ihm als ein »Geschenk des Himmels vom Vater des Lichts« eine wichtige Einsicht zuteil wurde – geschehen 1438 anlässlich einer stürmischen Überfahrt von Athen nach Venedig, als er den griechischen Kaiser samt dem ostkirchlichen Patriarchen von Konstantinopel zum Unionskonzil nach Ferrara zu begleiten hatte. Und jenes Himmelsgeschenk besteht für ihn in der spontan auftretenden Einsicht, dass das Unbegreifliche naturgemäß nicht etwa auf begreifliche Weise zugänglich sei. So wie nach einem Wort des Apostels Paulus (1 Kor 13,9) »unser Wissen Stückwerk« ist, so entzieht sich die absolute Wahrheit dem menschlichen Bestreben, das Wissen auf allen Gebieten zu erweitern. Doch die Wahrheit bleibt – so ist er überzeugt – der Unwissenheit anheimgegeben. Sie nimmt den Charakter einer »belehrten Unwissenheit«, einer docta ignorantia, an. Auch wenn sich dieses Gewahrwerden für ihn als eine unvermittelt scheinende Erkenntnis darstellt, ist es doch zugleich auch Resultat seines jahrelangen Erkenntnisringens.

In seinen beiden Hauptwerken De docta ignorantia, 1440 im heimatlichen Kues fertiggestellt, und dem thematisch daran anschließenden über das Wesen von Mutmaßungen (De coniecturis) sowie in weiteren Schriften hat Nikolaus die Ergebnisse seines Denkens niedergelegt und in den daraus sich ergebenden Konsequenzen erläutert. Analog zu den Erkenntnisbemühungen antiker Denker bezeichnete er sein Tun als eine im Wesen des Menschen angelegte »Jagd nach der Weisheit«. Darüber hat er sich in einem Spätwerk (De venatione sapientiae) geäußert. Unerlässlich erscheint es ihm, die für ihn verpflichtende Wahrheit des christlichen Glaubens vorauszusetzen. Das kommt nicht zuletzt in seinen religionsphilosophischen Erwägungen und bei der Einschätzung des Korans zum Ausdruck. Aus diesem kirchlich-christlichen Vorverständnis macht er kein Hehl!

Als Philosoph steht der Cusaner in der großen Tradition des abendländischen Denkens. Seine Gewährsleute sind Platon, der mythische Hermes Trismegistos9 und die Lehrmeister der zur christlichen Mystik hinleitenden neuplatonisch-christlichen Philosophie, an ihrer Spitze der namenlos um 500 schreibende (Pseudo-)Dionysios Areopagita, dem die Mystik des Mittelalters, unter anderem auch Meister Eckhart und dessen Schule, verpflichtet gewesen ist. Auf dieser Basis formuliert Nikolaus die Elemente seines auf die Gott-Suche ausgerichteten Denkens. Es ist entfaltet in einer Reihe von Schriften, wie etwa in seiner Trilogie zum Gottesbild. Dabei widmet er sich der Gottsuche (De quaerendo Deum), besinnt sich auf das Wesen der Gotteskindschaft (De filiatione) und bezieht die Verborgenheit Gottes (De Deo abscondito) ein. In Spannung dazu stehen Überlegungen zu einer Gottesschau (De visione Dei) bis hin zum Gipfel eines solchen Schauens (De apice theoriae), und zwar – in der erklärten Nachfolge des großen Areopagiten – stets in dem Bewusstsein, dem Absoluten in seiner Tiefe erkennend gar nicht gewachsen zu sein. »In der geschaffenen Welt ist die Einheit ›entfaltet‹ zu einer Vielheit des Andersseins, dem unterscheidenden Verstand zugänglich. Mit der Vernunft können wir uns darüber hinaus in einem ›incomprehensibiliter inquirere‹, einem Forschen, das das Begreifen im mystischer Weise übersteigt, der Wahrheit nähern und das Unendliche ›berühren‹.«10

Von Nikolaus von Kues sind vielfältige, bisweilen divergierende Wirkungen ausgegangen. Bemerkenswert ist, dass sein Schrifttum auch nach seinem Tod in zunehmendem Maße gefragt war. So zählt man zwischen 1488 und 1565 allein fünf Werkausgaben, dazu die Verbreitung mehrfach aufgelegter einzelner Texte. »Dabei ging es um so disparate Fragen wie die nach den Grenzen menschlicher Erkenntnisfähigkeit, nach der Reichweite rationaler Argumentation in der Theologie oder nach der Möglichkeit einer Rekonstruktion der ursprünglichen Weisheit (prisca sapientia), ferner um kosmologische Probleme wie das der Unendlichkeit des Alls und der Pluralität der Welten und mathematische Probleme wie das der Quadratur des Kreises, immer aber um die docta ignorantia und die coincidentia oppositorum. In diesen und anderen Themenbereichen wurden die Gedanken des Cusaners rezipiert.«11

Zu seinen Lebzeiten wurden seine Gedanken beispielsweise im Gedankenaustausch mit Ordensleuten bekannt. Dazu gehörten beispielsweise die Benediktiner, Abt und Prior im Kloster Tegernsee. Weil sich der Briefwechsel in wesentlichen Teilen erhalten hat, sind wir über die Argumentationsweisen im Bilde.12 Ihnen erläutert er unter anderem seine zentrale, berühmt gewordene These von dem Zusammenfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum). Die Schöpfung ist ein einziges Dokument der Entfaltungs- und Offenbarungsmöglichkeiten Gottes. Oder unter dem speziellen cusanischen Aspekt, durch den Gottes Überfülle zum Ausdruck gebracht werden soll: »Gegensätze, die in Gott eins sind, in der Welt aber auseinandertreten: in jener Welt, die als ›explicatio Dei‹, als Entfaltung jenes Gottes zu verstehen ist, der selber das Viele ohne Vielheit und der Gegensatz in der Identität ist. Dies ist ein Denken, das geradewegs zum deutschen Idealismus, zu Hegel, aber auch zu Whitehead und Teilhard de Chardin führt.«13 Dieser Zusammenfall des bei vordergründiger Betrachtung nicht zu Vereinbarenden gehe ebenfalls über das nur verstandesmäßige Erkennen hinaus und sei allein dem schauenden Erkennen der Vernunft, der visio intellectualis, nicht aber dem Verstand (ratio) zugänglich. Weil aber in Gott die Gegensätze zusammenfallen, ist er der Eine schlechthin.14 Genannt wird ferner der Kartäuser Dionysius.

Zu den Ersten, die die Bedeutung des Cusanus erkannt und bekannt gemacht haben, zählt Giordano Bruno (gest. 1600). Analog zur Würdigung Platons sprach er geradezu vom »göttlichen Cusanus«. Bruno schloss denkend an Nikolaus an, indem er den Begriff von der Unendlichkeit Gottes und der Natur weiter bewegte. Damit ist die Schwelle zum neuzeitlichen Bewusstsein betreten. Bislang als gültig angesehene scholastische Vorstellungsformen sind aufgebrochen. Kaum minder bedeutsame Einflüsse lassen sich auf Marsilio Ficino (gest. 1499) und den früh vollendeten Pico della Mirandola (1463 – 1494) nachweisen. Protestantische Kreise meinten, beim Cusaner reformatorische, zu Martin Luther führende Ansätze zu entdecken. Fernwirkungen haben Lessing erreicht. Ob das auch mit Blick auf Spinoza, Leibniz, Fichte, Schelling und Hegel gilt, wird bezweifelt – Hegel scheint den Cusanus nicht gekannt zu haben! –, andernfalls hätten die Vorstellungen des Cusanus deutliche Spuren hinterlassen.15 Andere Einflüsse haben im 16. und 17. Jahrhundert Frankreich und England erreicht.

Hinsichtlich der nicht immer einheitlichen Einschätzung der komplexen und zugleich diffusen Wirkungsgeschichte des cusanischen Denkens resümiert Tilman Borsche: »Einerseits spricht man dem Werk des Cusaners einen nennenswerten Einfluss auf die Geschichte der Philosophie, der Theologie sowie der Wissenschaften in den folgenden Jahrhunderten ab. Andererseits gilt sein Werk seit der ›Wiederentdeckung‹ im 19. Jahrhundert für manche als Keim und Vorläufer alles dessen, was für das neuzeitliche Denken bedeutsam geworden ist. Beide Urteile sind charakteristisch für eine neue Wertschätzung des Lehrers der Koinzidenz, können aber nicht als Ergebnisse rezeptionistischer Forschungen gelten.«16 Dabei ist zu berücksichtigen, dass es ihm nicht gegeben war, den Gesamtertrag seines Werkes in einer Art Summe zu präsentieren und damit die Bildung einer Cusanus-Schule als einer philosophischen Lehrweise zu begünstigen. Dennoch hat Nikolaus von Kues als eine epochale denkerische Gestalt sichtbare Zeichen gesetzt. Dass der Ertrag seines Lebenswerks nicht mit großen Neuigkeiten prunken kann, wie bisweilen – u.a. von Joseph Bernhart – hervorgehoben wird, muss nicht beunruhigen. Immerhin räumt derselbe kritische Betrachter seines Oeuvres ein:

»Unbefangene Versenkung in die Schriften des Cusaners, auch die seines Todesjahres (1464) noch, vernimmt einen Denker, der aus religiöser Tiefe mit dem Rätsel Gottes ringt, im Drange einer kosmisch fühlenden Frömmigkeit die Berührung mit dem Unbekannten sucht, dabei die Kirchenlehre, mit der bebürdet er seinem und der Mitwelt Heil zu dienen hofft, ohne philosophische Notwendigkeit mit sich trägt. Der Scheidestrich, der auch durch seine Mystik läuft, gibt das methodische Recht, ihre philosophische Seite von der theologischen getrennt zu erörtern.«17