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Informationen zum Buch

In Hannover wird eine junge Frau getötet und auf rätselhafte Weise verstümmelt. Die Kriminalkommissarin Hanna Denkow ermittelt. Der einzige Verwandte des Opfers, Dirk Förster, arbeitet als Profiler beim Landeskriminalamt. Er schaltet sich in die Ermittlungen ein und erstellt ein Täterprofil. Hanna und er kommen sich näher, beginnen eine Affäre. Plötzlich fällt der Verdacht auf Förster. Er hat ein Motiv und verstrickt sich in Unwahrheiten. Hanna steht zwischen ihren Gefühlen und den Fakten. Der Mörder schlägt erneut zu, diesmal in Wunstorf. Ein anonymer Hinweis bringt einen neuen möglichen Täter ins Spiel, auf den Försters Täterprofil zutrifft. Versucht Förster, mit seiner Arbeit den Verdacht auf einen Unschuldigen zu lenken? Ihre Ermittlungen bringen Hanna in eine lebensgefährliche Situation.

Informationen zum Autor

Rainer Woydt, Jahrgang 1964, studierte Elektrotechnik und arbeitete zwanzig Jahre als Ingenieur in der Telekommunikationsbranche. Nach dem Studium der Politik und Berufspädagogik absolviert er derzeit das Referendariat für das Lehramt an berufsbildenden Schulen. Der gebürtige Ostfriese ist verheiratet und hat zwei Töchter.

Rainer Woydt

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Kriminalroman


Impressum

©2010 zu Klampen Verlag · Röse 21 · D-31832 Springe

info@zuklampen.de · www.zuklampen.de

Herausgegeben von Susanne Mischke

Titelgestaltung: Angelika Konietzny (www.izwd.de), Hannover

Konvertierung: Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

ISBN 978-3-86674-108-9

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› abrufbar.

»Vielleicht ist sie in eine Schiffsschraube geraten.«

In welcher Region des Gehirns befand sich eigentlich das Sprachzentrum? Ich verspürte ein dringendes Verlangen, meinen Kugelschreiber in Krögers Ohr zu rammen, bis das unerträgliche Gequatsche abgestellt war. Vermutlich wäre die Bohrung nur auf geringen Widerstand gestoßen.

Die Luft war unerträglich. Sommerhitze und Verwesung hatten für ein Geruchs-Potpourri der besonderen Art gesorgt. Sie musste bereits eine Weile tot sein, vielleicht zwei oder drei Tage. Glücklicherweise waren alle Fenster in der Wohnung geschlossen, ansonsten hätte die Insektenpopulation der eines Kuhstalls in nichts nachgestanden.

»Vor ein paar Jahren war ich dabei, als die Feuerwehr einen Selbstmörder aus dem Mittellandkanal gezogen hat. Der ist durch eine Schiffsschraube gedreht worden. Sah fast genauso aus.« Kröger zuckte mit den Achseln. »Allerdings hat man ihn festbinden müssen, damit er nicht wegläuft.«

Hartmut Wegeners Erscheinen ließ Kröger verstummen. Mit einem leisen »Hallo« schob er sich ins Schlafzimmer. Nachdem sein Blick über das Szenario gewandert war, atmete er hörbar aus. »Hoffentlich hat sie das nicht mehr bei Bewusstsein erlebt.« Die Tote lag auf dem Bett, nackt. Ihr Körper war entsetzlich entstellt. Mit den Armen war sie an einen Besenstiel gefesselt, als hätte ihr Mörder sie ans Kreuz geschlagen.

Für Verletzungen dieses Ausmaßes gab es relativ wenige Blutspuren. War die Frau wirklich schon tot, als sie so zugerichtet wurde? Oder stimmten Fundort der Leiche und Tatort nicht überein?

Hartmut beugte sich zu Kröger hinunter, den er um einen Kopf überragte. »Nachrichtensperre bis auf das Nötigste, Mord, vermutlich sexuell motiviert, Angaben zur Person des Opfers, sonst nichts. Kein Wort zur Presse über die näheren Umstände, die Verletzungen und so weiter. Horst, du sorgst mir dafür, dass keiner quatscht.«

Kröger nickte und schrieb eifrig in seine Kladde, was unser Chef ihm aufgetragen hatte. Als er fertig war, machte er auf dem Absatz kehrt und lief auf seinen kurzen Beinen wackelnd davon, sodass er von hinten an ein Schweinchen erinnerte.

»Und das am Sonntag«, murmelte Hartmut kopfschüttelnd. Es klang wie ein Vorwurf. »Das Leben ist so unfair.« Falls er von mir eine Reaktion erwartete, war er nun um eine Enttäuschung reicher.

»Gabi Hellmann steht an der Klingel. Ist sie das?«, fragte er, nachdem er seinen Weltschmerz fürs Erste überwunden hatte.

»Gabriele Hellmann, 27 Jahre.« In der Handtasche im Flur steckte ihr Ausweis. Das Passbild zeigte ein hübsches Gesicht, das in natura mittlerweile von Blutergüssen entstellt war. Ihr Körper war übersät von Schnittverletzungen. Der Mund stand grotesk offen, wie bei einem Karpfen, der an Land nach Luft schnappt. Ein schwarzes Wäschestück, es sah nach einem Slip aus, war hineingestopft, ein gleichfarbiger BH um ihren Hals gewickelt. Neben dem Bett lagen, achtlos hingeworfen, Pyjama und Bademantel, beide offensichtlich zerschnitten.

In der Küche piepste ein Kanarienvogel. Ein irgendwann irgendwo gesehenes Bild schoss mir durch den Kopf, ein Vogelkäfig unter Tage in einem alten Bergwerk. Die Vögel sollten vor Grubengasen warnen. Die Ausdünstungen seiner Besitzerin mussten für das empfindliche Geruchsorgan des Tieres unerträglich sein.

»Wer hat sie gefunden, Hanna?« Hartmuts Frage holte mich in die Realität zurück. Ich blickte auf meine Notizen. »Zwei Nachbarn, Karin Hansen und Paul Behnsen, der ist zugleich Hausmeister. Frau Hansen hatte den Verdacht, dass etwas passiert sei, und ist dann mit dem Hausmeister reingegangen. Er hat einen Generalschlüssel. Der Behnsen hat dann angerufen.«

»Spurensicherung?«

»Muss jeden Augenblick kommen. Einbruchsspuren habe ich nicht erkennen können.«

Hartmut nickte. »Reden wir in der Zwischenzeit erst einmal mit den beiden Nachbarn.«

***

Das Haus war ein Altbau, Teil einer Sackgasse. Die dreistöckigen, aneinandergebauten Häuser vermittelten das erdrückende Gefühl, in einer Schlucht zu stehen. Den Abschluss bildete eine mehr als zwei Meter hohe Wand aus Betonplatten, die den Hof einer Autowerkstatt abgrenzte. Sie sah aus wie die Bausparvariante der Berliner Mauer. Die Straße war gesäumt von jungen Linden. Die dazwischengezwängten Autos, halb auf dem Fußweg, halb auf der Fahrbahn stehend, zeugten vom täglichen Kampf ihrer Besitzer um die Mangelware Parkplatz.

Bis auf den unterschiedlichen Grad der Verwitterung der Fassaden sah ein Haus wie das andere aus. Einen Anstrich hätten ohne Ausnahme alle nötig gehabt. Die winzigen Vorgärten wurden von Hecken begrenzt, hinter denen die Mülltonnen der Hausgemeinschaften versteckt waren. Ricklingen war sicherlich nicht die feinste Wohngegend Hannovers, es hatte kein Flair wie etwa die List. Aber immerhin war es nicht so heruntergekommen wie das benachbarte Linden, wo ich vier verlorene Jahre gewohnt hatte. Weite Teile Ricklingens bestanden aus Mietskasernen, die im Dritten Reich als Arbeitersiedlung für die umliegenden Rüstungsbetriebe errichtet worden waren. Viele der Menschen, die damals als erste Mieter eingezogen waren, blieben hier hängen. Der Altersdurchschnitt in Ricklingen lag vermutlich nur knapp unter der statistischen Lebenserwartung.

Erst in den letzten Jahren hatte sich das Bild ein wenig gewandelt. Die erträglichen Mieten ließen den Stadtteil auch für andere Bevölkerungsgruppen interessant werden. Die Studentenszene entdeckte Ricklingen. Junge Familien zogen zu, auf den Straßen sah man Kinder spielen.

Beim Betreten des Hauses hatte ich neun Klingeln gezählt, das bedeutete drei Wohnungen pro Etage. Karin Hansen lebte im Erdgeschoss links, genau unter der Wohnung von Gabi Hellmann.

Wir mussten eine Weile im düsteren Treppenhaus warten, bis auf unser Klingeln eine Reaktion folgte. Die Tür öffnete sich einen Spalt, bis sie von der Sicherungskette mit einem Ruck gestoppt wurde. Nachdem wir uns vorgestellt hatten, bat uns eine brüchige Frauenstimme herein.

Alle Türen in der Wohnung standen offen. Im Wohnzimmer angekommen, hatte ich registriert, dass beide Wohnungen identisch geschnitten waren. Vom schmalen Flur aus ging es nach links in das Bad, die Küche und das Schlafzimmer, die Tür zum Wohnraum war am Ende auf der rechten Seite.

Karin Hansen wies uns wortlos Plätze auf einem Ledersofa zu, das schon bessere Tage erlebt hatte. Sie selbst ließ sich in einen wuchtigen Ohrensessel fallen, der unter ihren geschätzten zwanzig Kilo Übergewicht ächzte wie eine Schlosstür im Gruselfilm.

Die Einrichtung des Wohnzimmers wirkte alles andere als harmonisch. Die Sitzecke wurde von einer Glasplatte auf zwei Granitsockeln vervollständigt, die als Coachtisch diente. Neben einer Kiefer-Schrankwand, die wahrscheinlich auf einen sinnlosen skandinavischen Namen hörte, stand eines dieser unsäglichen Phonomöbel aus schwarz gestrichener Spanplatte. Den Stilbruch komplett machte ein CD-Ständer im futuristischen Stahlrohr-Design. Auf dem Fußboden neben Frau Hansen türmte sich bereits ein ansehnlicher Haufen zerknüllter, tränengetränkter Papiertaschentücher. Die Produktion von Nachschub lief auf vollen Touren.

 

»Möchten Sie, dass wir Ihnen einen Arzt rufen, Frau Hansen?«, eröffnete Hartmut das Gespräch.

»Danke, nicht nötig. Bei mir liegen nur die Nerven ein bisschen blank. Ich habe schon etwas zur Beruhigung eingenommen.« Sie sprach stockend und versuchte dabei weiterhin vergeblich, mit Taschentüchern einen Staudamm gegen den Sturzbach ihrer Tränen zu errichten. Ihr Make-up sah aus, als wäre sie nach einem Bodypainting in einen Platzregen geraten. Die beige Leinenhose, die ihre vollschlanke Figur unvorteilhaft betonte, hatte sie missbraucht, um daran ihre Hände abzuwischen.

»Wie sind Sie auf den Gedanken gekommen, in Frau Hellmanns Wohnung nachzusehen?«, fragte Hartmut.

Unsere Gastgeberin nahm zum ersten Mal das Taschentuch aus dem Gesicht und sah ihm in die Augen.

»Der Briefkasten. Die Zeitungen von Freitag und Samstag steckten.«

»Sie hätte doch verreist sein können?«

Kopfschütteln. »Dann hätte sie doch Coco zu mir gebracht. Das ist ihr Kanarienvogel. Ich habe mich immer um ihn gekümmert, wenn Gabi mal übers Wochenende nicht da war. Sie hätte ihn nie drei Tage allein gelassen. Außerdem waren seit Freitagmorgen die Vorhänge in ihrem Schlafzimmer nicht mehr aufgezogen. Das habe ich von der Straße aus gesehen.«

»Daraufhin sind Sie zum Hausmeister gegangen?«

»Ja, heute gegen vier Uhr habe ich noch einmal bei Gabi geklingelt. Dann bin ich zu Behnsen gegangen. Der war gleich Feuer und Flamme. Behnsen ist krankhaft neugierig, hat wohl gehofft, ein bisschen spannen zu können.«

»Paul Behnsen, der Hausmeister?«

»Ja, genau. Die Sicherungskette war nicht eingehakt, das machte Gabi sonst immer, auch am Tag.« Sie sprach jetzt flüssiger, suchte meinen Blickkontakt, obwohl mein Chef die Unterhaltung führte.

»Haben Sie in der Wohnung irgendetwas verändert?«, fragte er.

»Vielleicht hat der Behnsen etwas angefasst. Ich war ja nicht mal eine Minute drinnen.« Sie schluchzte auf und presste sich von neuem ein Taschentuch ins Gesicht. Um ihre Verzweiflung nicht ansehen zu müssen, betrachtete ich eine Art Ahnengalerie, die an der Wand neben ihr über dem Sofa hing, Schwarz-Weiß-Fotos in wuchtigen Rahmen. Eine hochtoupierte Frau im Brautkleid und ein strahlender Jüngling stellten augenscheinlich das Hochzeitsbild ihrer Eltern dar.

»Ich habe Gabi da liegen sehen und bin gleich wieder rausgerannt, in meine Wohnung auf die Toilette. Ich musste mich übergeben.« Sie stürzte sich wieder in ihr Taschentuch und zog die Nase hoch.

Ein galliger Geschmack tief unten in der Kehle ermahnte mich, meinen zu Nervosität neigenden Magen vor weiteren Provokationen zu bewahren. Energisch versuchte ich die Vorstellung zu vertreiben, wie der Kugelblitz durch die Flure hastet und das rettende Porzellanbecken im letzten Moment erreicht, um den Göttern der Magensäure ein fulminantes Opfer darzubringen. Alles raus, was keine Miete zahlt. Keine Schande, das war ganz anderen schon so ergangen. Ich konzentrierte mich auf den Reklameaufdruck meines Kulis und bemühte mein Gedächtnis, welche Wohltaten die hier werbende Polizeigewerkschaft in den letzten Jahren über die Menschheit gebracht hatte, kam aber über neue Uniformen für den Streifendienst nicht hinaus.

Mordopfer hatte ich trotz meiner relativen Jugend schon diverse gesehen. Allerdings stellte diese Leiche gewiss ein grausiges Highlight in meiner noch jungen Laufbahn bei der Kriminalpolizei dar. Für Karin Hansen musste der Anblick ihrer Nachbarin Stoff für jahrelange Albträume liefern. Als sie wieder ansprechbar schien, gab ich mir einen Stoß und übernahm die Gesprächsführung. »Frau Hansen, hat Frau Hellmann jemals erwähnt, dass sie verfolgt wird oder sich bedroht fühlt?«

»Nein, nie. Aber ich weiß auch nicht, ob sie mir das anvertraut hätte.« Sie unterbrach ihre Erwiderung für ein verzweifeltes Kopfschütteln. »So eng waren wir nicht befreundet. Wir waren Nachbarn, die einzigen jüngeren Leute in diesem Altersheim. Beide alleinstehend. Das verbindet. Man grüßt sich, redet im Treppenhaus miteinander und hilft sich bei Kleinigkeiten aus. Vergessene Lebensmittel oder eben der Vogel.«

»Ist Ihnen in letzter Zeit etwas Verdächtiges aufgefallen, haben Sie vielleicht Personen im Haus gesehen, die hier nicht hergehören?«

»Nein.« Frau Hansen sah aus dem Fenster und runzelte kaum merklich die Stirn. »Nein, ich kann mich an nichts Ungewöhnliches erinnern.«

»Könnte sie Feinde gehabt haben? Ein abgewiesener Liebhaber vielleicht?«, setzte ich nach.

»Wie gesagt, wir kannten uns nur flüchtig. Gabi wohnt erst seit einem Jahr hier. Wohnte. Vorher hat sie meines Wissens mit ihrem damaligen Freund zusammengelebt. Er ist in der Wohnung geblieben, als sie sich getrennt haben, und sie ist hierher gezogen. Ich hab ihren Ex aber nie gesehen. Ob der zu so etwas Perversem fähig ist, kann ich beim besten Willen nicht sagen.«

Das nächste Papiertaschentuch landete neben dem Sessel, ein neues kam zum Einsatz. Im Treppenhaus waren Stimmen und Schritte zu hören. Die Spurensicherung rückte an.

»Noch eine letzte Frage, Frau Hansen, dann lassen wir Sie für heute in Ruhe. Was für ein Mensch war Gabi Hellmann, welchen Eindruck hatten Sie von ihr?«

»Gabi war offen, freundlich, selbstbewusst. Ein Mensch, der überall gut ankam. Sie war ein eher burschikoser, sportlicher Typ, hat im Verein Volleyball gespielt. Ein leichtes Leben hatte sie nicht, soweit ich weiß. Ihre Eltern sind vor ein paar Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Aber sie ist ihren Weg gegangen, wusste genau, was sie wollte. Das Studium hat sie schnell durchgezogen. Vor kurzem hat sie ihr Diplom gemacht. Betriebswirtschaft. Eine Anstellung hatte sie auch schon. Am nächsten Ersten sollte sie anfangen zu arbeiten.«

***

»Ah, die Kriminalpolizei, ich habe schon mal einen Kaffee gemacht. Den können Sie jetzt sicher vertragen.« Behnsen betonte »Kaffee« auf der ersten Silbe so, dass es sich auf »Affe« reimte. Er führte uns in sein Wohnzimmer, das nach Zigarettenqualm stank. Die Ballonseide seines Trainingsanzugs knisterte, wir hätten ihm auch mit verbundenen Augen folgen können.

»Ich habe Sie schon erwartet. Sie können sich auf meine vollste Kooperation verlassen. Ich bin hier der Hausmeister.« Der Mief, der in den Räumen hing, war zwischen Kneipe und Turnhalle angesiedelt und trieb mir die Tränen in die Augen.

»Sie leben alleine?«, fragte Wegener.

»Ich komme ganz gut allein zurecht, wissen Sie, ich bin wohl auch ein bisschen wählerisch. Meine persönliche Freiheit ist mir wichtig.«

Hinter Behnsens Rücken kommentierte ich seine Aussage mit heraushängender Zunge und einem in den Rachen gesteckten Zeigefinger. Hartmut ignorierte mich.

Ich suchte mir einen Stuhl aus, der am Fenster stand. Wegener setzte sich auf das Sofa, über dem in einem verschnörkelten Rahmen ein billiger Druck von Gauguin hing, eine Südseelandschaft mit leicht bekleideter Eingeborener. Die Wohnung war faszinierend und abstoßend zugleich. Das dunkle Holz mit den geschwungenen Formen – so stellte ich mir eine Zeitreise in die sechziger Jahre vor. Allerdings schien Behnsen seit den Sechzigern nicht viel Muße für den Hausputz gehabt zu haben, wie fettige Fingerabdrücke und Ränder von abgestellten Gläsern auf den lackierten Holzflächen bezeugten. Ich kannte eine solche Einrichtung – allerdings klinisch rein – nur von Bildern aus dem Familienalbum meiner Eltern.

Behnsen kam mit der Kaffeekanne angelaufen. Er hatte großzügig geplant. Fünf Tassen, Dosenmilch und eine Packung Würfelzucker standen bereits auf dem Tisch.

»Ich habe schon gründlich überlegt, aber ich habe wirklich keinen Verdacht, wer so was tun könnte.«

Der Kaffee roch merkwürdig. Ich schwor mir, ihn nicht anzurühren. Ein Schluck aus dieser Tasse und ich hätte am nächsten Tag einen Herpes an der Lippe. »Herr Behnsen«, stieg Hartmut ein, »haben Sie in der Wohnung von Frau Hellmann etwas berührt oder verändert?«

Der Angesprochene nahm nun ebenfalls auf dem Sofa Platz, das so niedrig war, dass er kaum über die Tischplatte gucken konnte.

»Nein, auf keinen Fall. Also, die Türklinken musste ich natürlich anfassen, sonst hätten wir ja nicht reingehen können.« Er machte eine entschuldigende Geste.

»War die Schlafzimmertür geschlossen?«

»Ja, das war das letzte Zimmer, in das wir gesehen haben. Tür und Vorhänge waren zu und das Licht aus. Ich dachte zuerst, vielleicht macht die Gabi ein Nickerchen und wir stören sie. Aber nachdem ich das Licht eingeschaltet hatte, hab ich das Unglück gesehen. Ist sie vergewaltigt worden?«

»Also haben Sie den Lichtschalter im Schlafzimmer angefasst? Sonst noch etwas?«

»Nein, bestimmt nicht, das sieht man doch immer im Fernsehen in Krimis: Nichts anpacken, nichts verändern und so weiter.«

Ich verdrehte die Augen, als Hartmut zu mir herübersah. Er zuckte kurz mit den Mundwinkeln und sprach in väterlichem Ton weiter.

»Das haben Sie völlig richtig gemacht. Sie kannten Frau Hellmann gut?«

»Äh, nun ja, als Hausmeister hat man eine gewisse Verantwortung den Mietern gegenüber. Aber gut kennen wäre wohl übertrieben. Wieso fragen Sie?« Er zog eine Packung Zigaretten aus der Hosentasche und begab sich auf der Suche nach einem Feuerzeug erneut in die Untiefen seiner Plastik-Beinkleider.

»Sie sprachen von ›Gabi‹, Herr Behnsen, waren Sie per ›du‹?«

»Nein, nein, ich meinte natürlich ›Frau Hellmann‹.«

»Schließen die Wohnungsschlüssel auch die Haustür?«

»Ja, das ist richtig, das ist so eine moderne Schließtechnik, die haben wir erst vor zwei Jahren eingebaut. Stört es Sie, wenn ich rauche?« Mich hätte es nicht einmal gestört, wenn er lichterloh gebrannt hätte.

»Wer hat einen Schlüssel für Frau Hellmanns Wohnung?«

»Natürlich Frau Hellmann selbst, sogar zwei Schlüssel, aber ob sie den zweiten weitergegeben hat, weiß ich nicht. Ich habe letztes Jahr versucht, eine Liste aufzustellen, wer die Ersatzschlüssel der Mieter hat.« Behnsen zündete sich eine Zigarette an und stellte das Feuerzeug aufrecht vor sich auf den Tisch. »Aber da haben sich ein paar ganz Schlaue beim Eigentümer beschwert, wegen Datenschutz und so. Dabei sollte das nur ihrer eigenen Sicherheit dienen. Nun ist es zu spät.« Es klang trotzig. Das hatten sie nun davon, nicht auf ihn gehört zu haben.

Jetzt verdrehte Wegener die Augen. »Sonst noch jemand?«

»Ach so, ich habe selbstverständlich einen Generalschlüssel für das Haus. Sie vermuten also, der Mörder hatte einen Schlüssel?«

***

Die Spurensicherer in ihren weißen Overalls hatten etwas Science-Fiction-Artiges an sich. Die gerade noch polternd durch das Treppenhaus stolpernde Menschenmenge war zu einer eingespielten, effizient arbeitenden Einheit mutiert. Die Kommunikation lief ab, als hätte die Dudenredaktion den Nebensatz verboten, kurze Fragen, ebenso knappe Antworten.

Gabi Hellmanns Schlafzimmer, das bei unserem ersten Besuch durch die zugezogenen Vorhänge schummrig wirkte, war nun gleißend hell ausgeleuchtet. Nummerierte Kärtchen markierten die gefundenen Spuren. Dass nur wenige zu sehen waren, verhieß nichts Gutes. Die Kollegen waren mit Pinseln und Pulver beschäftigt, Fingerabdrücke zu erfassen. Davon gibt es in einer Wohnung stets reichlich. Ob einer dieser Abdrücke zum Täter führt, ist nur durch Fleißarbeit herauszufinden. Alle Fingerabdrücke, die sich nicht dem Opfer oder einer unverdächtigen Person zuordnen lassen, sind erst einmal eine heiße Spur. Ich kam mir in diesem geschäftigen Treiben wie ein Fremdkörper vor. Der unausgesprochene Vorwurf zu stören, lag in der Luft. Die Wohnung wirkte nicht so klein und gedrungen wie die von Karin Hansen, obwohl die Grundfläche die gleiche war. Es war eine typische Studentenbude, schlicht und funktional. In der Küche hing eine riesige Pinnwand voller Ansichtskarten und Schnappschüsse. Der Vogelkäfig stand auf einem Regal neben dem Fenster, sein Bewohner hatte sich verängstigt in eine Ecke zurückgezogen.

Ich kehrte in das Schlafzimmer zurück, wo Dr. Grabner, der Gerichtsmediziner, vor dem Bett kniete und gerade seine Utensilien zusammenpackte. Hartmut stand neben ihm und wartete auf seine erste Einschätzung.

»Mit ziemlicher Sicherheit Tod durch Erdrosseln. Die Schnitte wurden ihr offensichtlich post mortem zugefügt, sonst wäre hier mehr Blut.«

»Was ist mit den Blutergüssen im Gesicht?«, fragte ich.

»Vermutlich Schlagverletzungen, aber als Todesursache unwahrscheinlich.«

 

»Vergewaltigung?«, fragte Hartmut. Daran gab es für mich keinen Zweifel.

»Auf den ersten Blick habe ich keine Spermaspuren gefunden, aber das wird die Obduktion zeigen.« Keine Frage, er würde fündig werden.

»Wie lange ist sie schon tot?«

»Ach, Frau Denkow, Sie wissen doch, wie schwierig das festzustellen ist. Die Leichenstarre hat sich bereits wieder gelöst, das dürfte bei der hier herrschenden Raumtemperatur nach ungefähr 36 Stunden erfolgt sein. Aufgrund der Körpertemperatur würde ich auf mindestens zwei Tage tippen. Auf eine genauere Aussage müssen Sie bis zur Obduktion warten, gleich morgen früh um acht. Ist jemand von Ihnen mein Gast?«

Herzlichen Dank. Eine Obduktion am Montagmorgen war nicht gerade ein Traumstart in die Woche, aber für uns waren die dabei zu erwartenden Informationen wichtig und zeitkritisch. Auf den offiziellen Bericht zu warten, hieße wertvolle Zeit verschenken. Ich wusste, dass ich mich bei Dr. Grabner auf ein Maximum an Rücksichtnahme verlassen konnte – im Gegensatz zu einigen seiner Berufskollegen, die gerne Polizisten mit ihrer Abgebrühtheit schockierten. Hartnäckig hielt sich in Polizeikreisen die Geschichte von einem Gerichtsmediziner im Süden unserer Republik, der für jeden Gast bei einer Obduktion, der die letzte Brotzeit noch einmal Revue passieren ließ, eine Kerbe in seinen Schreibtisch ritzte. Ein zweifelhaftes Vergnügen auf Kosten der Würde der Toten.

Mein Chef sah mich an, und ich nickte schweren Herzens.

***

Der Besprechungsraum der Mordkommission wurde selten benutzt. Wegener fühlte sich sicherer, wenn er den Heimvorteil auf seiner Seite hatte, und so führten wir Besprechungen in unserem gemeinsamen Büro durch, solange es der Teilnehmerkreis zuließ.

Unsere Gäste mussten mit einem Beistelltisch zufrieden sein, achtzig mal achtzig, Eiche furniert. Für einen neuen Tisch hatte es nicht gereicht. Als am Ende des letzten Jahres das Budget noch nicht aufgebraucht war, hatten wir wenigstens menschenwürdige Stühle beschaffen können. Bei diesen Geldvernichtungsaktionen, wenn es galt, die zugewiesenen Mittel im Rechnungsjahr auszugeben, um damit den Nachweis zu führen, dass auch im nächsten Jahr mindestens ein identisches Budget benötigt wird, fiel so manches Schnäppchen ab. Wenn es nicht gelang, das Geld rechtzeitig zu verjubeln, war man doppelter Verlierer: Keine Anschaffungen und im Folgejahr ein geringeres Budget, da man ja bewiesen hatte, dass auch mit weniger auszukommen war.

Natürlich stand Hartmut Wegener als Leiter des Kommissariats 1.1, wie die Mordkommission offiziell bezeichnet wurde, ein eigenes Büro zu. Aber als er diese Funktion vor zwei Jahren nach der Pensionierung seines Vorgängers übernommen hatte, machte er keine Anstalten umzuziehen, sondern blieb einfach an seinem alten Schreibtisch sitzen.

Das verwaiste Büro des Leiters wurde schließlich von einem neuen Ermittler übernommen, der zu unserem Team stieß. Horst Kröger konnte dort allen Rauchverboten zum Trotz ungestört in großen Mengen übel riechende Zigarillos abbrennen. Ihr bloßer Anblick ließ meine Darmflora aktiv werden.

Nachdem Hartmuts direkter Vorgesetzter, Hauptkommissar Karl-Heinz Feldmann, Leiter der Kriminalfachinspektion 1, seine Entscheidung abgesegnet hatte, verstummte das Gerede über diesen Privilegienverzicht schnell. Für Hartmut war es ohnehin kein Opfer. Er wollte nicht wie sein Vorgänger von seinem Büro aus die ihm unterstellten Ermittler dirigieren, sondern vielmehr als Erster unter Gleichen arbeiten. Ich war froh über diese Konstellation. Als ich vor drei Jahren zur Mordkommission kam, gerade 26 Jahre alt, wurde ich Hartmut zugeteilt. Ich war die einzige Frau, die erste seit Menschengedenken, die in dieser männlichen Domäne arbeiten sollte. Eine Blondine im Konklave zur Papstwahl wäre nicht mehr aufgefallen. Noch nie war ein freier Posten in der Mordkommission mit einem Neuling, direkt aus der Ausbildung kommend, besetzt worden. Die Bemühungen um die Gleichstellung von Frauen in unserer Behörde hatten mich in diese Position gespült. Ich war eine schleimige Kröte, die das Patriarchat zu schlucken hatte.

Hartmut konnte über diese Entscheidung nicht glücklich gewesen sein. Aber er ließ mich keine Sekunde spüren, dass er alles andere lieber gemacht hätte, als einen Grünschnabel von der Schulbank ohne jede Erfahrung in dieses heikle Metier einzuführen. Das war alles Schnee von vorgestern. Zum Glück dachte er pragmatisch, und so waren wir inzwischen ein eingespieltes Team, das sich in vielen Situationen ergänzte, blind verstand und immer noch vis-à-vis saß.

»Hanna, lass uns noch einmal alle bisherigen Ergebnisse laut überdenken. Was wissen wir über das Opfer?«

Ich schlug meine Notizen auf, obwohl es nicht erforderlich war. Die bisher zusammengetragenen Fakten hätte ich mühelos aus dem Gedächtnis wiedergeben können.

»Gabriele, genannt Gabi Hellmann, im Mai 27 Jahre alt geworden. Geboren in Hameln, wohnhaft in Hannover, Falkenmeyerstraße 8, also dem Leichenfundort. Einzelkind, die Eltern sind seit fünf Jahren tot, bei einem Autounfall umgekommen. Hat gerade ihren Uni-Abschluss in Betriebswirtschaft gemacht. Den Exfreund, Oliver Prenzel, habe ich ausfindig gemacht. Oder besser gesagt: seine Mutter. Die hat mir am Telefon erzählt, er sei mit seiner neuen Flamme seit Montag auf Kreta. Fällt also als Verdächtiger aus. Laut Mutter Prenzel müsste ihr nächster Verwandter ein Onkel in Göttingen sein. Das lasse ich gerade überprüfen.«

Auf Frau Prenzel war ich durch einen Brief gestoßen, den ich in der Küche gefunden hatte. Anscheinend verstand sie sich mit ihrer ehemaligen Fast-Schwiegertochter immer noch gut. So etwas soll vorkommen.

»Irgendein Risikofaktor in ihrem Leben?«, fragte Kröger.

»Nein, bislang gibt es keinerlei Hinweise auf Drogen, Prostitution oder Ähnliches.«

»O. K., über die Leiche wissen wir bislang Folgendes«, fuhr Hartmut mit der Zusammenfassung der Fakten fort. »Erstens: Sie wurde wahrscheinlich mit ihrer eigenen Unterwäsche erwürgt. Zweitens: Eventuell vergewaltigt. Drittens hat sie Verletzungen im Gesicht – vermutlich durch Schläge verursacht, viertens diverse Schnittverletzungen am Torso, fünftens wurde sie mit Klebeband an einen Besenstiel gefesselt, dass es an eine Kreuzigung erinnert. Sechstens: Der Todeszeitpunkt dürfte in der Nacht auf Freitag liegen, da die Donnerstagszeitung in ihrer Küche lag, während die von Freitag und Samstag im Briefkasten steckten. Das deckt sich auch mit der ersten Einschätzung von Dr. Grabner. Ergänzungen?«

»Sie war nackt, und ein Slip steckte in ihrem Mund«, sagte ich.

»Rolf, was gibt es aus Sicht der Spurensicherung zu berichten?« Rolf Beckmann, Leiter der Spurensicherungsgruppe, zuckte zusammen. Er hatte bisher auf seinem Stuhl mehr gelegen als gesessen. Nun schob er sich hoch wie ein Siebtklässler, den der Lehrer beim Träumen erwischt hat, und strich sich über seinen fast kahlen Schädel. Zumindest hatte er seine Verlegenheitsgestik genügend im Griff, um sich nicht in den Schritt zu fassen.

»Jede Menge, aber wenig, was uns weiterbringt. Also vorab: Wir sind uns sicher, dass der Leichenfundort auch der Tatort ist. Das geht aus den Blutspuren eindeutig hervor. An Tür und Schloss haben wir bisher keinerlei Einbruchsspuren entdecken können. Das Schloss werden wir aber im Labor noch auf Herz und Nieren prüfen.« Beckmann saß jetzt kerzengerade. »Das Messer, mit dem ihr die Schnittverletzungen zugefügt wurden, haben wir nicht gefunden. Für die Blutergüsse im Gesicht kommen erst einmal verschiedene Gegenstände und Möglichkeiten in Betracht, ich tippe auf Faustschläge. Offensichtlich hat er sie im Flur überwältigt. Der Schuhschrank ist etwas verschoben, man sieht es an den Abdrücken im Teppichboden. Wir haben in diesem Bereich Fasermaterial auf dem Boden gefunden. Wenn es vom Bademantel oder Schlafanzug stammt, wäre das ein Indiz für einen Überfall in der Nacht.« Er nippte an seinem Kaffee und gab uns so Gelegenheit, mit unseren Notizen nachzukommen. »Auf der Leiche haben wir ebenfalls Faserspuren gefunden, auf den allerersten Blick könnten die von einer Jeans stammen, aber das sage ich unter Vorbehalt. Da müssen wir den Laborbericht abwarten. Schlafanzug und Bademantel wurden mit einem scharfen Messer zerschnitten, es könnte auch eine Schere gewesen sein. Die Sachen sind im Labor, Ergebnisse habe ich noch nicht. Der Besenstiel ist ziemlich uninteressant, er stammt aller Wahrscheinlichkeit nach aus der Wohnung des Opfers. In der kleinen Abstellkammer, die von der Küche abgeht, lag jedenfalls der dazugehörige Besenaufsatz – oder wie nennt man das Ding unten an einem Besen, Frau Denkow?«