Kernbeißer und Kreuzschnäbel

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Kernbeißer und Kreuzschnäbel
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Rainer Kloubert

Kernbeißer und Kreuzschnäbel

Ein Sittenbild aus dem alten Peking

Grundlegend erweiterte, illustrierte und mit einem Glossar versehene Ausgabe

Elfenbein

Erste Auflage 2021

© 2021 Elfenbein Verlag, Berlin

Einbandgestaltung: Oda Ruthe

unter Verwendung einer Tuschzeichnung von Qi Baishi (1863–1957):

»So klein ein Vogel auch sein mag,

er hat doch Galle und Leber.«

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-96160-050-2 (E-Book)

ISBN 978-3-96160-035-9 (Druckausgabe)

Inhalt

Titelseite

Impressum

1 Vorbemerkung

2 Pekinger Vögel im Allgemeinen

3 Käfige Gestelle und Paraphernalia

4 Futter

5 Singvögel

6 Ziervögel

7 Spielvögel

8 Nachspiele

9 Epilog

10 Glossar

Vorbemerkung


Auch ich bekam eine Einladung nach China, als das Land sich wieder zu öffnen begann. Schon mein Großvater und mein Großonkel waren dort gewesen, eine Familientradition. Ich nahm die Einladung an und flog hin – über Bukarest, den Himalaja und Urumtschi, die Ohren voll vom Dröhnen der Motoren und von alten Geschichten.

Dem Land waren nach der Kulturrevolution die Wörter zur Verständigung mit den Barbaren ausgegangen: Mit den alten allein ging es nicht mehr, die Welt hatte sich weitergedreht. Und die Wörterbücher waren Makulatur geworden, weil Mao Zedong die alten Schriftzeichen abgeschafft und neue eingeführt hatte.

Das Fremdspracheninstitut (外语学院), wo sich die Redaktion befand, in der ich einen Platz bekam – mir gegenüber saß ein mongo­lischer Prinz, dem in der Kulturrevolution die Zähne ausgeschlagen worden waren; er hatte in Schlesien sein Abitur gemacht –, lag nicht weit entfernt vom »Park zu den Duftenden Bergen« (香山公园), einer Pekinger Hügelkette, von der ich schon als Kind geträumt hatte: Zu meinen frühen Leseerinnerungen zählte ein Buch über die Abenteuer eines deutschen Jungen während des Boxeraufstands. Die Abenteuer habe ich vergessen, nicht aber die bunte Karte eines von Mauern umgebenen Parks. Das Innere bestand aus Dutzenden von Anwesen, jedes einzelne wieder von Mauern umschlossen. Eine große Welt und in ihr viele kleine – achtundzwanzig, ich zählte sie mit dem Finger, um sicherzugehen: genau achtundzwanzig. Ich konnte mich an ihnen nicht sattsehen. Das Buch hatte ich aus der Stadtbibliothek, und ich lieh es mir immer wieder aus, nur um die Karte zu studieren und mir auszumalen, wie es wohl gewesen wäre, hätte ich zur Zeit der Boxer in Peking gelebt.

Ein zweites Mal stieß ich auf die Karte unter den Papieren meines Groß­onkels, ein drittes Mal auf einer Anschlagtafel vor dem »Park zu den Duftenden Bergen« (香山公园) selbst. Es musste wohl etwas be­deu­ten, war mir durch den Kopf gefahren, als ich davorstand. Ein kom­mendes Unheil, das seinen Schatten vorauswarf? Unwillkürlich trat ich drei Schritte zurück.

In den nächsten Monaten und Jahren durchstreifte ich an Wochen­enden die »Duftenden Berge«: Verfallene chinesische Tempel, eingestürzte europäische Sommerresidenzen, Reste eines tibetischen Klosters, zusammengefallene Mauern, hinter denen sich nur noch Fun­damente verbargen; Pagoden aus glasierten Ziegeln mit zugemauerten Eingängen. Steinerne Schildkröten blickten mich höhnisch an, als ich vor Freitreppen stand, die jäh aufhörten; abgerutschte Terrassen dahinter, und dazwischen, wie Zeugen, denen man kein Wort glaubt: Kiefern, Fichten, Föhren, Lärchen, Pappeln und Buchen, die meisten von ihnen vernarbt, verwundet oder verkrüppelt. Hin und wieder kam mir ein Zug von Kamelen entgegen, die Säcke voller Kohle aus den Westbergen in die Kompressorenfabrik Nr. 23 brachten, ein ehemals buddhistischer Tempel am Fuße der Westberge. Sie schritten gemächlich aus, Schritt für Schritt, man hörte die Tritte nicht – nur das »dang dang dang« (当当当) des Glöckchens am Nacken des Leitkamels. Eilig schienen sie es nicht zu haben, nur manchmal, wenn sie einem Auto ausweichen wollten, was selten geschah, setzten sie sich für ein paar Schritte in Trab: ein unziemlicher Anblick, wie eine alte würdevolle Tante, die auf einmal zu rennen beginnt. Die Kohle, die sie in die Fabrik brachten, von braunschwarzer Farbe und wächsernem Glanz, gab weder Rauch noch Flammen von sich. Sie hatte früher, zu Kaisers Zeiten, in Becken angezündet ausschließlich zur Beheizung der Räume der Verbotenen Stadt und des Sommerpalastes gedient.

Im Hof der Fabrik blieben die Kamele stehen und warteten stumm auf das Kommando ihres Führers; er trug einen Mantel aus Schaffellen, deren haarige Seite nach innen gekehrt war, und sah genauso zottelig aus wie seine Kamele. Wenn das Kommando erklang – »sssssssss« – knieten sie sich hin, zuerst mit den Vorderbeinen, dann mit den Hinterbeinen. (Beim Aufbruch war es umgekehrt: zuerst die Hinterbeine, dann die Vorderbeine.) Ich hatte oft dabei zugesehen. Erst wenn sie sich niedergekauert hatten, nahm der Führer seine Pelzmütze ab; von seinem kahlen Schädel stieg ein Dampfwölkchen auf, das sich sofort in der kalten und trockenen Luft auflöste. Weiße Eiszapfen klimperten an den Kinnladen. Was für zottelige Köpfe, hatte ich gedacht, was für lange, gelbe Zähne. Die oberen Zähne mahlten nach rechts, die unteren nach links, dann wieder umgekehrt; man hörte keinen Ton, sie kauten so geräuschlos, wie sie auch gingen. Ich war so fasziniert von dem Mahlen der Zähne, dass ich es unwillkürlich nachahmte.

Eines Tages, als ich wieder einmal, den Kopf voll von chinesischen Zeichen, in den »Duftenden Bergen« spazierenging, begegnete ich mitten im Wald einem Mann, der einen Käfig trug, in dem ein Vogel saß. Ein Kanarienvogel, dachte ich, wie sie auch in meiner Heimat in Käfigen gehalten wurden – aber es war kein Kanarienvogel, sondern ein Rotkehlchen. Es war auch sonst ein Tag voller merkwürdiger Begegnungen gewesen, jede hatte mit der anderen in einem wunderlichen Zusammenhang gestanden.


Ein schmaler Ziegenpfad hatte entlang eines ausgetrockneten Bachbetts durch Geröll und Gebüsch steil nach unten geführt. Die Erde war noch feucht und glitschig von einem Sommerguss, man musste aufpassen, dass man nicht ausrutschte: die Füße quer setzen und sich von Baum zu Baum hangeln (wie es viele vor mir getan hatten, die Rinde an den Bäumen war glatt und abgewetzt), Schritt für Schritt, der Schweiß rann mir über das Gesicht.

Ich war nicht allein. Ein Spaziergänger, der hinter mir den Pfad herunterschritt – in China ist man nie allein –, sang schallend ein Lied. Nicht »Der Osten ist rot« (东方红), das einem überall in Peking entgegenschallte, sondern (ich horchte auf): »Dort in der weiten, weiten Ferne, wo ein Mädchen auf mich wartet …« (在那遥远的地方/有位好姑娘 …) Eine Volksweise aus Chinas Westen. Ich blieb stehen und lauschte der Melodie, irgendwie kam sie mir vertraut vor, die weiche und volle Stimme brachte das Lied trefflich zum Ausdruck.

Am Wegesrand stand ein Pavillon, von dessen Säulen die rote Farbe abblätterte; das braune Leinwandgewebe, auf das die Farbe aufgetragen worden war – eine traditionelle Mischung aus Schweineblut und Klebemitteln –, kam darunter zum Vorschein. Ein Mann und eine Frau saßen jeder für sich zwischen zwei Säulen, beide starrten schweigend in die Landschaft, mit dem Rücken zu mir wie auf einem Gemälde von Caspar David Friedrich: Wanderung in den Westbergen. Ich setzte mich dazu, um dem Lied weiter zu lauschen, irgendwo hatte ich es schon einmal gehört. Die Säulen waren übersät mit Graffiti, die Rote Garden mit Schraubenziehern eingekratzt hatten. Es waren die von Mao Zedong eingeführten verkürzten Schriftzeichen – die langen waren für Graffiti zu kompliziert.

Es stank zum Himmel, ich senkte meinen Blick: Fäkalienhaufen, einer neben dem anderen, dicke Fliegen schwirrten darüber, der Boden war bedeckt mit weißen Papierknäueln.

Das Lied kam langsam die Kurve hinunter: »Dort in der weiten, weiten Ferne …« Ich blieb sitzen und summte die Melodie mit, jeder von uns dreien blickte gedankenversunken in eine andere Himmelsrichtung: »Dort in der weiten, weiten Ferne …«, das Lied näherte sich und wurde lauter, »wo ein Mädchen auf mich wartet …«

Ich stand auf und setzte meinen Spaziergang fort. Das Volkslied wurde wieder leiser und verstummte, an seine Stelle traten andere Klänge. Koloraturen der Pekingoper, immer wieder dieselben, so als würde jemand »solfeggieren« (唱名法, sich warm singen). Ungewohnte Klänge, damals, am »Schwanz der Kulturrevolution« (文化大革命的尾巴), genauso aus der Zeit gefallen wie das Volkslied, das ich eben noch gehört hatte. Ich blieb stehen, lauschte und ging der Stimme nach. Plötzlich setzte sie aus, ein grunzendes Räuspern ertönte, ein klatschendes Spucken, ein erneutes Räuspern, dann wieder die Koloraturen. Ich ging schneller, die Stimme kam näher, eine biegsame, die Tonhöhe des Falsetts mühelos festhaltende Stimme. Der Pfad krümmte sich, und ich stand auf einmal vor der Ruine einer Kirche. In den Westbergen gab es eine ganze Reihe von ihnen, Hinterlassenschaften der vielen Missionare, die es einmal überall in China gegeben hatte. Nur die Wände standen noch, ein längliches Viereck, unterteilt in Mittelschiff, Vierung und Apsis. Neben dem Eingang lag, umgeben von Dattelbüschen, ein umgestürzter Grabstein mit einer lateinischen Inschrift, deren Buchstaben zum Teil verblichen und nicht mehr zu entziffern waren:

 

A L M

N E A M E T E L –

Hollande

LE 28 NO V E M B R T

1877

D E C E E A

H E S H A N H U

LE 26 A O U T 1047

R. I. P.

1047? Das Sterbejahr konnte es nicht sein, das war 1877 – aber wofür sonst stand die Zahl? Vielleicht sollte es 1847 heißen, das Geburtsjahr; er wäre dann nur dreißig Jahre alt geworden.

Ich bückte mich unwillkürlich, und der Gesang brach ab, erneut das grunzende Räuspern, gefolgt von dem schleimigen Spucken, in dem Chinesen Meister sind. Neugierig machte ich ein paar Schritte auf das Gebäude zu. Ein Mann in einer blauen Schlossermontur mit langen abstehenden Armen, die wie die eines Gorillas aussahen, blickte mich an. Er war unrasiert und trug eine Brille mit dicken Gläsern. Seinen Oberkörper nach vorne biegend, ging er in die Knie, als wollte er im nächsten Augenblick zum Sprung auf mich ansetzen. Der Planet der Affen? Vor ihm stand auf einem steinernen Aufbau, der wohl einmal ein Altar gewesen war, der Vogelkäfig mit dem Rotkehlchen. Ein eleganter Käfig, der purpurviolett lackiert war und vorher einem chinesischen Pensionär aus der Kaiserzeit gehört haben mochte, einem Mandschu mit langem Zopf und flatternden Ärmeln.

Nachdem wir uns eine Weile wie Erscheinungen angestarrt hatten, fragte ich ihn, ob er Sänger sei. Zögernd antwortete er:

»Ich singe nur für mich allein, eigentlich bin ich ein Arbeiter.«

»Ein Arbeiter – kein Sänger?«

Der Mann nickte, und ich fragte, wie und von wem er das Singen gelernt habe.

»Von Vögeln.« Er zeigte auf den Käfig mit dem Rotkehlchen. Dann, als wären wir immer noch in der Kulturrevolution, wieder die Beteuerung, dass er wirklich nur ein Arbeiter sei.

»Wo, ein Arbeiter?«

»In der Kompressorenfabrik Nr. 23.«

Wohin die Kamele Kohle brachten. Ich machte wieder ihre mahlenden Kiefer nach, ohne dass ich mir dessen bewusst wurde. Seine Augen wanderten hin und her, er wirkte verstört. Um das Gespräch nicht abbrechen zu lassen, fragte ich ihn nach dem Vogel. Ein Rotkehlchen? Er wandte sich ab, ohne eine Antwort zu geben, griff nach dem Käfig, schritt den Berg hinauf, den gleichen Weg nehmend, den ich nach unten gekommen war. Ab und zu bückte er sich, pflückte eine wilde Dattel und steckte sie in den Mund.

Ich ging weiter. Nach ein paar Schritten drehte ich mich um. Der Mann, der wie ein Gorilla mit Brille ausgesehen hatte, war wie vom Erdboden verschwunden.

Aus dem ausgetrockneten Bachbett war eine Schlucht geworden, ich bahnte mir vorsichtig einen Weg. Die Gegend war früher ein kaiserlicher Jagdpark gewesen.

Die Kaiser von China?

In den Westbergen waren sie immer noch gegenwärtig, überall stieß man auf kaiserliche Wegmarken.

Ein Stein an einer Wegbiegung war mit einer Inschrift und dem großen, viereckigen Siegel des Kaisers Qianlong (乾隆) versehen. Ich trat näher. Ein Gedicht auf den Sonnenaufgang, eingerahmt von Weisheiten, die das einfache Leben verherrlichten: »Zu großer Pomp in den Palästen der Herrscher, Armut und Elend in den Hütten des Volkes!« In seinem Leben hatte er vierzigtausend Gedichte geschrieben. Auch sein Nachfolger Mao Zedong hatte unablässig Gedichte produziert: Berge im Nebel, Sonnenaufgang, Wildgänse, fallende Blätter, Flussufer, eine Pagode, Abschied von einem Freund, eingestreute Sentenzen über Vergängliches und das Leben im Volk – und immer wieder Berge und das Wolkenmeer unter den Gipfeln, oft mit einer Widmung an einen Kampfgenossen. Freunde hatte er nicht.

Nach ein paar Minuten holte mich das Volkslied wieder ein: »Dort in der weiten, weiten Ferne …«

Auf einmal fiel mir ein, woher ich das Lied kannte. Ich hatte es oft in Taiwan gehört, als ich dort Chinesisch lernte. Wang Luobin (王洛宾, 1913–1996), der es populär gemacht hatte, war ein Sammler von alten Weisen, Liedermacher, Gitarrist und Sänger gewesen, ein chinesischer Bob Dylan, beide hatten das gleiche langgezogene, von Falten und Furchen gezeichnete Gesicht – Spuren von immer wieder gesungenen Liedern? Bei Wang Luobin eher Zeichen einer langen Lagerhaft. Ihm war vorgeworfen worden, zur Ermordung Mao Zedongs aufgerufen zu haben. Ein absurder Vorwurf in einer absurden Zeit. Einem seiner Lieder hatte er in der »Hundert-Blumen-Kampagne« (百花齐放) den Titel gegeben: Salaam (der moslemische Gruß) dem Vorsitzenden Mao (萨拉姆毛主席: »salamu Maozhuxi«): In Shanghai oder Kanton gesungen, klangen die Worte wie »Tötet den Vorsitzenden Mao« (杀了毛主席: »shale Maozhuxi«).

Etwa um die gleiche Zeit, als in China die hundert Blumen blühten und der Liedermacher Wang Luobin der versuchten Ermordung Mao Zedongs bezichtigt wurde, ging ich in die Sexta des Kaiser-Karls-Gymnasiums in Aachen, wo ein Lehrer uns mit den Grundlagen der lateinischen Grammatik vertraut machte. Ein Koloss, unter dessen weicher Schale sich ein noch weicherer Kern verbarg. Spitzname: »Flohmatsch«. Er war es gewesen, wurde gemunkelt, der für die lokale Brauerei den Werbespruch verfasst hatte:


Für ein lebenslanges Deputat, hieß es weiter, von Spöttern, die einen zweiten Vers dazu dichteten: »Oma wurde hundertzehn, � hatte Degraa nie gesehn.«

Er war nicht nur Lateinlehrer, sondern auch ein Linguist (Fachgebiet Phonologie) und Mundartforscher (Öcher Platt, i. e. Ripuarisch). Den staunend lauschenden Sextanern erzählte er die Geschichte eines Kongresses, zu dem Vertreter der Vogelwelt eingeladen worden waren, um die Regeln eines geordneten Umgangs miteinander (Grammatik) festzulegen. Sperling, Schwalbe, Amsel, Fink und Star, auch seltene Arten wie Rabe, Pirol, Neuntöter etc., jede Art hatte eine Abordnung geschickt. (Aus den einzelnen Vogelarten wurden im Verlauf der nächsten Stunden Wortarten wie Substantive, Adjektive, Verben etc.). Je kleiner die Vögel, desto größer ihre Abordnung, sagte »Flohmatsch« und zeigte mit dem Zeigestock auf die Sperlinge, die er mit bunter Kreide auf die Tafel gemalt hatte. Er machte sie nach: Er war ein Freizeitornithologe und Vogelstimmenimitator, ungeahnt zarte Klänge entfuhren seinem schweren Körper. Dann ließ er ein »sssssssssss« ertönen. Der große Laubenvogel aus Papua-Neuguinea, erfuhren wir, eine Paradiesvogelart (der dritte in der vorletzten Reihe von oben, der wie ein Indianer aussah), »ein Irrgast«, sagte er, ein Wort, das er mit rollendem »r« wiederholte.

Was ein Irrgast war, erklärte er nicht, sondern zählte stattdessen die Federn des Krönchens. »Genau sechs«, sagte er, drei auf jeder Seite, »ssssssechs«, zischend wie die beiden großen schwarzen Kobras in Kiplings Geschichte Rikki-Tikki-Tavi, die er uns in der nächsten Stunde vorlas – er unterrichtete auch Deutsch. Einmal machte er den Mungo nach, dann wieder die Schlangen. (Man merkte es ihm an, dass er lieber eine Schlange war.)

Als das »sssssssssss« des sterbenden Schlangenweibchens ausgeklungen war, kam ihm eine Idee (jedenfalls tat er so, als sei sie ihm gerade gekommen): Wir sollten das »sssssssssss« zeichnen – mit Papier und Bleistift, das Zischen der Schlangen im Kampf gegen den Mungo ­Rikki-Tikki-Tavi – ein gleichbleibend hohes »sssssssssss«. Was er nicht wissen konnte (ich damals auch noch nicht): ein in China sehr geschätzter Laut von Blaukehlchen (蓝点颏, Luscinia svecica), gleichzeitig (色色色, »sssssss sssssss sssssss«) das bereits erwähnte Kommando für Kamele, sich niederzukauern, wenn ihnen abends die Lasten abgenommen wurden.

Inspiriert von den beiden Schlangen in Kiplings Geschichte, ein Männchen und ein Weibchen, präsentierte ich als Einziger zwei Versionen. Ich wurde »entzückt« nach vorne gerufen und zärtlich getätschelt (damals durften Lehrer das noch). Meine Lösung für das Männchen: ein langer durchgehender Strich:

____________________

Für das Weibchen: eine gezackte Linie (von der Lichtenberg sagte, dass ihn eine solche an Pfeffer erinnerte):

^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^

Ob mir noch eine Lösung einfallen würde, fragte er, als er mir den Zettel zurückgab. Eine Eingebung durchfuhr mich, ich nahm den Zettel und – zerisssssssssssssssss – ihn.

»Bemerkenswert, bemerkenswert«, sagte er, und tätschelte mich noch einmal. Trotz seines massigen Körpers hatte er kleine, dicke und weiche Patschhändchen. »Schweigen wir«, er zwinkerte mir zu und – »sssssss« – legte den Zeigefinger an seine Lippen. Ich durfte mich setzen.

Das »sssss«, das er im rheinischen Singsang von sich gegeben hatte, ähnelte einem »sssss« im dritten Ton der chinesischen ­Ausspracheskala: nach unten fallend und nach oben aufsteigend – so ausgesprochen hieß es u. a. »sterben« (死): was »Flohmatsch« tat, als er uns gerade den Konjunktiv Plusquamperfekt Passiv beigebracht hatte – ein anderer Kongress, zu dem ihn der liebe Gott abordnete. Es war kalt, als ihn die ganze Schule auf dem Waldfriedhof zu Grabe trug, so bitter kalt, dass Vögel erfroren und ich anfing zu weinen; der Wind war ein chinesischer: Er pfiff im ersten, gleichbleibend langen Ton vor sich hin, um dann immer wieder im vierten Ton abrupt nach unten zu fallen.

Manchmal stehe ich im Traum vor seinem Grab:

Flohmatsch

R. I. P.

Sehet die Vögel unter dem Himmel:

sie säen nicht, sie ernten nicht […]

und der himmlische Vater ernähret sie doch.

Matthäus 6,26

»Sssssssss …« Eine Hand fährt aus dem Grab (der himmlische Vater?) und tätschelt meine Wange. Auf dem Grabstein war eine Taube mit einem Heiligenschein abgebildet: eine Friedenstaube – oder symbolisierte sie den Heiligen Geist?

Jede Welt, in der ich mich zu Hause gefühlt habe, war stets bevölkert gewesen von Tauben und anderen Vögeln und angefüllt mit Gerümpel aus fernen Ländern: Welten, die nicht von Müttern und auch nicht von Vätern, sondern von Großvätern beherrscht wurden; das Haus, in dem ich einen Teil meiner Kindheit verbrachte und wo auch meine Liebe zu China erwacht war, obwohl von außen nichts darauf hingedeutet hatte; Café Weller, eine Konditorei mit angeschlossener Landwirtschaft in einem hohenlohischen Flecken; mein Großvater – ich nannte ihn nach seinem Familienamen Lorenz, manchmal auch »Lorenz Lorenz Lorenz«, dreimal, wie seine Freunde es taten, in gespielter Verzweiflung, was ihm sehr gefiel: dreimal wie der Ruf eines Vogels.

Lorenz Lorenz Lorenz hatte nach dem Krieg in den von zwei Schwestern geführten Betrieb eingeheiratet. Es war seine zweite Ehe gewesen, seine erste Frau – meine Großmutter – war lange vor dem Krieg gestorben. Seine Freunde hatten über die Heirat nur den Kopf geschüttelt. Lorenz Lorenz Lorenz war Absolvent der preußischen Kadettenanstalt in Berlin-Lichterfelde gewesen, Jagdflieger im Ersten Weltkrieg, Spion in Belgien, Pilot der Eurasia-Fluggesellschaft, Agent der Abwehr in Shanghai, schließlich Direktor der Junkers-Werke in Leipzig. Der Krieg war verloren, kein Zweifel, zu beschönigen gab es daran nichts – so seine Freunde –, aber deswegen gleich hinter der Theke eines Cafés (mit angeschlossener Bäckerei und Landwirtschaft) Pflaumeneis verkaufen?

»Was denn sonst?«, hatte er sich verteidigt, Pflaumeneis aus chinesischen Essigpflaumen (酸梅汤冰淇凌), eine Spezialität, die er aus Peking mitgebracht hatte.


In China war er nicht nur Flugzeugpilot und Abwehragent gewesen, ein Gebirgspass in der Nähe von Kalgan war nach ihm benannt worden. (»Vorübergehend«, wie er sagte, als könnte der Pass gehen.) Wie es dazu gekommen war? Die Lufthansa, Mutter der Eurasia, war einer der Förderer der letzten Forschungsreisen von Sven Hedin gewesen. Lorenz Lorenz Lorenz hatte nicht nur den Nachschub organisiert, sondern war für die Expedition eine Art Fährtensucher aus der Luft gewesen. Sven Hedin und er hatten nach einer Notlandung – der »vorübergehende« Pass war glücklicherweise unter ihnen stehengeblieben – Freundschaft geschlossen und sich seitdem nicht aus den Augen verloren, selbst nach dem Krieg nicht, als mein Großvater zum Schrecken seiner Freunde im Café Weller Pflaumeneis anzurühren und zu verkaufen begann. Aber das war längst nicht alles, was ihn umtrieb. Nach und nach hatte er auf einer grünen Wiese, die den Weller’schen Schwestern gehörte, eine Fabrikhalle errichtet, wo er mit Hilfe eines schwedischen Industriellen, der mit Hedin befreundet war, Nachbauten des Fieseler Storchs herzustellen plante. (Es ist ihm nicht gelungen, die Bestimmungen der Alli­ier­ten standen dem entgegen.) Manchmal nahm er mich zu seinen geschäftlichen Terminen mit, in einem Buckelford, der von einem rätselhaften Leiden heimgesucht wurde: Beschleunigte er zu schnell, wurde das Auto plötzlich von einem wilden Krampf geschüttelt, dessen Epizentrum irgendwo im Getriebe lag. Einmal in der Gewalt dieses Anfalls, blieb Lorenz Lorenz Lorenz nichts anderes übrig, als den Motor abzuschalten, das Auto zu stoppen und erst dann wieder anzulassen, wenn der Motor sich beruhigt hatte.

 

Die Fahrten führten zu Forstämtern, die als Holzlieferanten für die Flugzeuge in Frage kamen. Ich wartete derweil im Auto. Um mir die Zeit zu vertreiben, trug ich auf den Landkarten, die ich den Hedin’schen Werken entnahm, mit Bleistift Karawanenwege ein, die Pfade der »kleinen« und »großen Nachdenklichkeit«, wie mein Großvater sie nannte, prägte mir ihren Verlauf ein, um sie vor dem Schlafengehen an den Würfen und Falten meiner Bettdecke nachzuwandern.

Das großväterliche Haus war verwinkelt, voller versteckter Stuben und Stiegen. In einem Vorbau des Dachgeschosses befand sich ein Taubenschlag, vom Speicher selbst abgetrennt durch ein Drahtgitter. Im Haus knarrte und ächzte es ständig, nachts war ein Flüstern zu hören, das die Treppe hinaufging, vor einer bestimmten Tür stehenblieb – es war jede Nacht eine andere – und dann wieder hinabging. Der Speicher war gefüllt mit Hinterlassenschaften vergangener und vergessener Zeiten, darunter Koffer voller Spielzeug aus der Kinderzeit meines Großvaters und seines Zwillingsbruders, der ebenfalls Paul hieß, aber »Paulchen« gerufen wurde: Er war als Zweiter auf die Welt gekommen. Paul und Paulchen, zusammen hatten sie mit den Spielsachen gespielt, mit denen ich es nun tat, manchmal mit verteilten Rollen, einmal als Paul (Lorenz Lorenz Lorenz), dann wieder als sein Bruder Paulchen: Zwei braune Zirkusakrobaten mit pailettenbesetzten Hosen; ein melancholischer Clown mit Mühlsteinkragen und langen roten Schuhen; drei welpengroße Elefanten aus blankpoliertem Holz mit beweglichen Kniegelenken; sie machten auf einem Vorderfuß einen Handstand oder balancierten auf einem rotweiß gestreiften Fässchen; eine zierliche Seiltänzerin im Reifrock mit Schirmchen; ein singender ­Brummkreisel, eine Eisenbahn von Märklin, ein Zopfchinese aus Blech mit einer Schub­karre und einem Schlüssel zum Aufziehen; ein Anker-­Steinbaukasten mit roten, blauen und gelben Bauklötzen, aus denen sich Brücken bauen ließ, die ich dann wieder zum Einsturz brachte. (Welcher Klotz würde, wenn man ihn wegnahm, das bewirken?) Die Verkündigung des Abbruchs war Sache von Luzifer: ein roter Flaschenteufel, der in einer wassergefüllten und mit einem Gummipfropfen verschlossenen Glasröhre auf und ab schwamm: Drückte man auf den Pfropfen, sank er nach unten; ließ man los, stieg er wieder hoch; tippte man auf ihn, begann er zu tanzen: das Zeichen zum Abbruch: »London Bridge is falling down, falling down, falling down«, sang Lorenz Lorenz Lorenz, wenn ich ihm das Schauspiel vorführte. Hinterher gab es zur Abwechslung Pflaumeneis.

In einem Regal lag ein Album mit exotischen Briefmarken, dreieckige aus Dschibuti mit Kamelmotiven. Und auf der nächsten Seite chinesische mit der Aufschrift: EXPED. SCIENT. (zu Ehren einer großen Expedition Sven Hedins in China, erzählte Lorenz Lorenz Lorenz).

Daneben und darüber lagen Stöße von Abenteuerromanen: Karl May, Friedrich Gerstäcker, James Fenimore Cooper, Daniel Defoe, Rudyard Kipling, Frederick Marryat (»Sigismund Rüstig«) Johann David Wyss (»Der Schweizerische Robinson«), und wie sie sonst noch hießen, unter ihnen ein zerlesener gelber Leinenband von Georg von der Gabelentz: »Chinesische Grammatik«, mit dem geheimnisvollen Zusatz: »Mit Ausschluss des niederen Stils und der heutigen Umgangssprache.«

Gab es nicht nur eine chinesische Sprache, hatte ich mich gefragt, sondern mehrere?

Die Schränke an den Wänden öffneten sich nur, wenn man gleichzeitig an beiden Türflügeln zog, sie taten es seufzend und widerstrebend: In ihnen hingen Kleider, die wie alte Tanten einen stechenden Geruch nach Kampfer und Mottenkugeln von sich gaben. Eine Schublade war voll von Schattenrissen, gepressten (immer noch duftenden) Blumensträußchen, Taschenkalendern der Junkers-Flugzeugwerke und Bündeln von braunen Geldscheinen aus der Inflation; in einer anderen Schublade lagen Brettspiele: Mensch-ärgere-dich-nicht, Halma, Dame, Mühle und das Würfelspiel »Durch die Wüste Gobi«.

Auf dem Deckel der Schachtel war inmitten weiter Sanddünen ein lamaistisches Kloster abgebildet, davor eine Karawane mit Kamelen, auf denen bewaffnete Europäer saßen. Ein Rudel von Wölfen folgte ihnen, einer der Europäer hatte sein Gewehr auf sie gerichtet. Im Vordergrund stand vor einer Jurte ein Mongole, der die Hände zu einem Willkommensgruß erhoben hatte. In der Schachtel lag eine Karte der Wüste Gobi, sie ähnelte derjenigen des »Parkes zu den Duftenden Bergen«. Anstatt der Pagoden, Pavillons, Tempel, Türme, Wandelgänge, Teiche und Geistermauern waren Pfade, Sanddünen, Karawanen, Lamas, Räuber und Wölfe abgebildet. Die Regeln besagten: »Die Spieler werfen der Reihe nach den Würfel und gehen so viele Felder vor, wie sie Punkte geworfen haben.« Bestimmte Felder waren Unglücksfelder (Sandstürme, verschüttete Brunnen, Räuber und Banditen, Wölfe etc., was Aussetzen, Zurückgehen oder Ausscheiden bedeutete; gelangte man auf Glücksfelder – Oasen, Jagdglück (wilde Esel), Regenfälle, siegreiche Gefechte mit Räubern etc. – durfte man ein paar Felder überspringen.

Im Speicher spielte ich am liebsten: Durch die Luken fielen Sonnenstrahlen, in denen Myriaden von winzigen Partikeln tanzten; unter dem abgeschrägten Dach herrschte ein wohliges Halbdunkel, das Nicken, Picken, Gurren und Flattern der Tauben füllte den Speicher mit Leben.

Alles in allem eine Welt von derselben Art, wie ich sie zwanzig Jahre später auf der »Straße der Acht Tugenden« (八德路) in Taipeh wiederfand: ein Bücher- und Trödelmarkt, auch hier mit Verschlägen, aus denen Tauben hinein- und hinausflogen, als brächten sie geheime Botschaften von Taiwan zum Festland und umgekehrt. (Wer weiß, vielleicht taten sie es wirklich.) Der Großvater meiner Frau, ein ehemals kleinerer Warlord der abgetanen Republik China, hatte mich dorthin mitgenommen.


Es war mir, als wäre ich in den Speicher meiner Kindheit zurückgekehrt – nach China ausgewandert und dort ins Riesenhafte angewachsen. Berge von Plunder und Siebensachen – Möbel, Hausrat, Kleider, Vogelkäfige, Schirme, Uniformen, Rückenkratzer aus Elfenbein, Fotoalben, Schallplatten, längst vergessene Jahrbücher des Marionettenstaates Mandschukuo (满洲国) mit dem Konterfei seines Kaisers Pu Yi (溥仪), Künstlerpostkarten mit der chinesischen Anna May Wong (黄柳霜), zerfledderte Illustrierte (»Young Companion« (良友), »Readers Digest« auf Chinesisch, Romane, Spiele (Ma-Jongg, Domino etc.) und auch hier Bündel von Inflationsgeld (Bank of China, gefälscht, wie ich später herausfand: wer außer einem Chinesen fälscht selbst noch Inflationsgeld?). Überall Berge von Büchern: weiche, flexible und fadengeheftete Bücher ohne Interpunktionszeichen, die vom Leser erst hinzugedacht und dann mit einem Pinsel dazugesetzt werden mussten: kleine Kringel mit roter Tusche, an denen entlang der Leser wie ein Reisender in der Wüste von Wasserstelle zu Wasserstelle wandert. Dazwischen chinesischer Plunder: Bambuskoffer, Rollbilder, Vasen, Truhen, Schnitzereien, Kostüme der Pekingoper, Pantöffelchen für verkrüppelte Frauenfüße (ich roch verstohlen daran), blaue Roben, alte Münzen: mit einem Wort Habseligkeiten, die keinem mehr und daher jedem gehörten, Habseligkeiten an sich: Die Standbesitzer – unter ihnen ehemalige Untergebene des Generals (in jedem chinesischen Soldaten steckt ein Händler) – hatten es sich in der Hitze auf flachen Bambusliegen bequem gemacht, die Augen geschlossen, neben sich surrende Ventilatoren, die sich nach rechts drehten und dann nach einem energischen Ruck wieder nach links. Sie träumten wohl von ihren Kriegszügen, dachte ich. Nachts trugen sie Laternen, hatte Lorenz Lorenz Lorenz mir erzählt, damit ihre Feinde sie sehen konnten; bei Regen spannten sie Schirme auf. Die Seite gewann, deren Gongs am lautesten waren.