Gemeinsam einsam.

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Jana Rückert-John Gemeinsam einsam Über das Essen in Corona-Zeiten

Die Autorin

Impressum

Jana Rückert-John

Gemeinsam einsam

Über das Essen in Corona-Zeiten

Die Corona-Pandemie hat in den letzten Monaten Alltagsroutinen auf den Kopf gestellt. Hiervon waren nicht nur die Bereiche Erwerbstätigkeit, Freizeit, Sport, Kinderbetreuung, Schule und Bildung betroffen, sondern auch die der Verpflegung und Ernährung. Selbstverständlichkeiten und Routinen der Ernährung sind dabei in die Krise geraten und müssen neu eingeübt werden. Denn wenngleich auch in der Krise gegessen werden muss, stehen Probleme des Ernährungskonsums, wie die Besorgung der Lebensmittel, deren Qualität, ihre Zubereitung und schließlich deren Verzehr in den unterschiedlichen Phasen der Pandemie – zwischen Lockdown und Wiederöffnung – zur Disposition. Ernährung als Praxis, die bis dato weitestgehend reibungslos funktionierte, kommt auf die eine oder andere Art zum Stocken, da bislang gültige Routinen scheitern. Ernährung in Privathaushalten sowie außer Haus in der Gemeinschaftsverpflegung wie Betriebsgastronomie, Hochschulmensen, Schulen, Krankenhäuser und Altenheime sowie in der Individualverpflegung, nämlich in Restaurants und Hotels, muss folglich durch alternative Praktiken gesichert werden. Dabei verweisen die Sphären aufeinander: Denn wenn Betriebskantinen, Mensen und Gastronomie schließen, gibt es in den Privathaushalten einen höheren Bedarf der Selbstverpflegung, der nicht folgenlos für die Art und Weise der Organisation der Ernährung ist beziehungsweise bleibt. Hiermit sind unmittelbar alltagspraktische Fragen verbunden: Was wird zubereitet? Wer ist zuständig? Wie, wann und mit wem wird gegessen? Umgekehrt haben auch die Schließung der Gastronomie und das stark reduzierte und veränderte Angebot in der Gemeinschaftsverpflegung gravierende Folgen für die dort organisierte Ernährung. Wie kann die Verpflegungsfunktion unter Hygieneregeln und möglichst kurzen Verweildauern aufrechterhalten werden? Was bedeutet die Pandemie aber auch mit Blick auf Konzepte von Gastlichkeit? Wie kann unter den aktuellen Bedingungen die Außer-Haus-Verpflegung ihre Funktion der Vergesellschaftung von Ernährung beibehalten? Die Organisation der Ernährung in Zeiten der Pandemie wird darüber hinaus durch Trends der Digitalisierung, Nachhaltigkeit und einer sich transformierenden Arbeitswelt beeinflusst und befördert. Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden einige Thesen zur Veränderung und Neuorganisation der Ernährung in der Corona-Pandemie zwischen Privatheit in den Haushalten und Öffentlichkeit in der Außer-Haus-Verpflegung diskutiert werden. Damit soll das Krisengeschehen aus der Perspektive sozialwissenschaftlicher Ernährungsforschung zeitnah begleitet und reflektiert werden.

Wiederkehr der gemeinsamen (Familien-)Mahlzeit?!

Die Corona-Krise hat laut einer aktuellen Forsa-Umfrage für das Bundeslandwirtschaftsministerium den Ernährungsalltag vieler Menschen in Deutschland verändert.1 Rund ein Drittel geben an, häufiger als vor der Pandemie gemeinsam Mahlzeiten einzunehmen. Häufiger als zuvor kochen 30 Prozent, und 21 Prozent tun dies häufiger gemeinsam. Die Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner interpretiert diese Befunde als »gute Entwicklungen«, die unter anderem Chancen für mehr Wertschätzung von Lebensmitteln eröffnen. Kehrt in Corona-Zeiten die gemeinsame (Familien-)Mahlzeit zurück, deren Verschwinden in den vergangenen Jahrzehnten häufig beklagt wurde? Und unter welchen Bedingungen wird nun wieder häufiger gemeinsam gekocht und gegessen?

Zunächst muss man die Frage beantworten, warum der Mahlzeit – dieser scheinbar banalen Alltagspraxis – überhaupt eine so große Bedeutung beigemessen wird. Außer für die Zubereitungsarten wurden Mahlzeiten erst vor etwas mehr als 100 Jahren zu einem eigenen Reflexionsthema – was nicht zufällig mit dem Aufstieg der auf scheinbare Banalitäten abonnierten Soziologie zusammenhängt. Der Soziologe Georg Simmel stellt in einem Essay 1910 fest, dass der Mahlzeit eine »ungeheure sozialisierende Kraft« innewohnt, was sie insgesamt zu einem sozialen Phänomen macht.2 Essen ist für Simmel zunächst ein unbedingt egoistischer Akt, denn was ich esse, kann kein anderer haben. Die Mahlzeit in Gesellschaft als gemeinsamer Vollzug des Essens jedoch hebt den Menschen aus seiner egoistischen Primitivität herauf. Denn dabei bilden sich Regeln aus, die dazu zwingen, beim Essen zugleich von sich selbst abzusehen, zum Wohle der Gemeinschaft, die wiederum das eigene Wohl verbürgt. Auf diese Weise wird der Essende in Gemeinschaft sozialisiert. Im gemeinsamen Essen – wiewohl nicht jeder dasselbe, aber doch das Gleiche essen kann – wird auch ein gegenseitiges Geben vollzogen. Das kennzeichnet die Mahlzeit schließlich als eine soziale Institution, die Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Anerkennung als eine moralisch markierte Verpflichtung füreinander symbolisiert. Die Regeln der Mahlzeit erfüllen die zentrale Funktion, die soziale Kontrolle physischer Bedürfnisse zu bewahren, wie die Soziologin Eva Barlösius 2011 hervorhob.3 Solche Regeln betreffen zum Beispiel den Ablauf, die Gestaltung und das Verhalten der Tischgemeinschaft. Die soziale Normierung der Mahlzeit bildet so die Grundlage für die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft, die über das gemeinsame Essen hinausreichen kann. Weil die praktische Gemeinschaft aber immer begrenzt, das heißt in Abgrenzung zu anderen möglich ist, werden damit auch Exklusion und Inklusion geregelt. Die Verhaltensweisen beim Essen spiegeln die Differenzierung der gesellschaftlichen Struktur wider, worauf schon Mary Douglas und insbesondere Pierre Bourdieu hinwiesen.4

Mit der Mahlzeit und dem gemeinsamen Kochen werden positiv besetzte Werte, wie Gemeinschaft und Zugehörigkeit, verbunden, die Ordnung und Sicherheit in Gesellschaft vermitteln. Sie lassen verstehen, warum die Mahlzeit und das gemeinsame Kochen als »gute« Entwicklungen bewertet werden. Gleichwohl ist die konstatierte Rückkehr der Mahlzeit mit bestimmten Vorstellungen von Mahlzeitenmustern und Zuständigkeiten beziehungsweise häuslicher Arbeitsteilung verbunden, die der Norm der bürgerlichen Kleinfamilie aus der Mitte des letzten Jahrhunderts und längst nicht mehr der Alltagsrealität – auch nicht vor der Corona-Pandemie – entspricht. Klöckners Anrufung und Interpretation der Mahlzeit als »gute Entwicklung« rekurriert damit auch auf ein traditionelles und ideologisiertes Bild. Aus wertkonservativer Sicht wird deshalb der Wandel der Mahlzeit kritisch betrachtet, denn hierbei gilt die klassische Familienmahlzeit weiterhin als Sinnbild der intakten Kleinfamilie und Zeichen der Fürsorge der Mutter, wie in kritischer Distanzierung Gesa Schönberger und Barbara Methfessel deutlich machen.5

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