Die freundliche Revolution

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Die freundliche Revolution
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Christina











INHALT





Cover







Titel







Impressum









VORWORT











WARUM ICH DIESES BUCH SCHREIBE







Über eine abgesagte kleine Rebellion in den Salzburger Bergen und was ich als Kind über die Menschen lernte.







EIGENE IRRWEGE ERKENNEN







Von einem ereignisreichen Abend in New York, wie Ungleichheit und die Dynamiken sozialer Netzwerke unsere Demokratie gefährden und warum wir für die komplexen Probleme der Gegenwart neues politisches Handwerkszeug brauchen.







VERTRAUEN







Wie ein Vorarlberger Bürgermeister gemeinsam mit seinem Dorf einen berüchtigten Mitstreiter Jörg Haiders besiegt, ein Beamter der Vorarlberger Landesregierung beginnt, den Bürgern zu vertrauen, und ein Kindergarten das Einmaleins der Beteiligung lernt.







DAS GROSSE IM KLEINEN ERKENNEN







Was Stadtentwicklung mit den Bürgern bringt, wie zwei starke Frauen von der Stadtverwaltung Dortmunds plötzlich Schätze heben und Vorurteile gegen ein verrufenes Viertel bekämpfen.







NIEMALS AUFGEBEN







Wie junge Studenten ein Land für Verfassungsrechte begeistern, warum es gefährlich wäre, wenn Richter zu Automaten würden, wie ein Albtraum für die

Schweizer Volkspartei

 aussieht und ein bekannter Journalist wieder Hoffnung schöpft.







DEN BÜRGER FÜR VOLL NEHMEN







Wie ein erzkatholisches Land als erstes weltweit überraschend für die „Ehe für alle“ stimmt und dabei zum Musterland der Demokratiereform wird und wie Bürger wie du und ich für die Politik die heißen Kartoffeln aus dem Feuer holen.







AKTIV WERDEN







Wie eine E-Mail über eine Penis-Fotocollage einen Parteigründer zum Zweifeln bringt, warum wir auch für unsere Siege und nicht nur für unsere Niederlagen zahlen und wie die Herzenspolitik Barcelona in Bewegung versetzt.







DIE DIGITALE REPUBLIK AUSRUFEN







Wie eine französische Abgeordnete entscheidet, die Dinge in der Politik anders zu machen, und was herauskommt, wenn 21.000 Bürger an einem Gesetz schreiben.







DIE ZUKUNFT IM DIALOG GESTALTEN







Was Papst Franziskus unter einem „guten Kampf“ versteht, warum wir bei uns selber beginnen müssen, was uns auf dem Weg zu einer neuen Beteiligungskultur helfen kann und Europa wieder näher an die Bürger bringt.







DANKSAGUNG











WEITERFÜHRENDE LITERATUR









VORWORT



Im Jahr 2018 feiert Österreich 100 Jahre Republik. Die Probleme, vor denen unser Land im Jahr 1918 stand, waren so riesig, dass die Staatsgründer zur Überzeugung kamen, dass sich diese nur lösen lassen, wenn die Bevölkerung über die Wahl des Parlaments ihr Schicksal selbst mitbestimmen kann. Demokratie und freie Wahlen, die nun auch Frauen offenstanden, währten leider nicht lange. Schon wenige Jahre später legten sich die Schatten des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus über die junge Republik. So kurzlebig Demokratie und Freiheit in der Ersten Republik waren, so entscheidend wurden sie für das Wiederauferstehen unseres Landes nach dem Zweiten Weltkrieg.



Doch das Erfolgsmodell der repräsentativen Demokratie findet heute weder inner- und noch außerhalb Österreichs uneingeschränkte Zustimmung. Der Glaube an die Demokratie als „beste“ Staatsform und das Vertrauen in den Staat und die politischen Institutionen nimmt stetig ab. Die Gründe für diesen Vertrauensverlust sind vielfältig. Unzählige Analysen widmen sich der Krise des westlichen politischen Systems, dem Phänomen des Populismus und dem Aufkommen von Extremismus. In den Diskussionen zu diesem Thema fällt auf, wie viel Zeit der Beschreibung der Probleme gewidmet wird und wie wenig Aufmerksamkeit dem Nachdenken über neue Wege zur Erneuerung der Demokratie geschenkt wird.



Mehr und mehr befeuern die Populisten unsere Debatten. Sie treten mit dem Vorwurf an, dass die regierenden Eliten den wahren Volkswillen missachten würden, und fordern die Einführung der „direkten Demokratie“. Damit meinen sie allerdings meistens bloße Ja/Nein-Abstimmungen ohne einen breiten Dialog, ohne ein Ringen um tragfähige Kompromisse und ohne Schutz von Minderheiten. Doch viele gesellschaftspolitische Zukunftsfragen lassen sich nicht auf Ja/Nein-Entscheidungen reduzieren.



Philippe Narval beschreibt, dass sogar das meist als Vorbild gepriesene Schweizer Modell der direkten Volksentscheide in die Jahre gekommen und reformbedürftig ist. In den letzten Jahrzehnten haben Parteien wie die SVP das direktdemokratische Instrument in der Schweiz nicht selten für politische Stimmungsmache missbraucht. Wenn dabei jedoch die Grundrechte in Gefahr geraten, wie es bei der Abstimmung zur sogenannten „Durchsetzungsinitiative“ im Februar 2016 der Fall war, braucht es eine aktive Zivilgesellschaft, die dagegenhält. Dass damals gerade eine kleine Gruppe von Studentinnen und Studenten unter dem Namen

Operation Libero

 den politischen Goliath SVP in die Knie zwang, war für viele politische Beobachter eine große Überraschung und ist eines der spannendsten Kapitel des vorliegenden Buches. Den „Liberos“ gelang es, mit ihrer aufklärerischen Gegenkampagne die Schweizer Bevölkerung für die heiklen Verfassungsfragen zu sensibilisieren und am Ende die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen. Die Geschichte der Initiative zeigt, dass man sich nicht auf das Niveau der Populisten begeben muss, wenn es darum geht, Manipulation und billiger Stimmungsmache entgegenzutreten.



Eine konstruktive Weiterentwicklung unserer repräsentativen Demokratie darf also nicht auf die bloße Ausweitung direkt demokratischer Mittel wie Volksabstimmungen beschränkt werden. In der aktuellen politischen Lage können diese Instrumente sogar zu einer noch tieferen Spaltung der Gesellschaft führen und ebenso den europäischen Einigungsprozess blockieren. Wenn einzelne EU-Staaten über Themen, die alle Mitgliedsländer betreffen, nationale Abstimmungen organisieren, kann das schnell dazu führen, dass die EU handlungsunfähig wird. Die Volksabstimmung in Holland im Jahr 2016, an der sich nur knapp 32 Prozent der Wahlberechtigten beteiligten, führte zum Beispiel dazu, dass ein wichtiges Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine zu Fall gebracht wurde. Dass im Vorfeld der Abstimmung extremistische Kräfte über soziale Medien Stimmungsmache betrieben, wirft Parallelen zum Brexit und zur US-Präsidentenwahl im selben „Schicksalsjahr“ 2016 auf.



Doch welche alternativen Ansätze gibt es, um Politik, abseits von Wahlen und Abstimmungen, mit den Bürgern und Bürgerinnen zu machen und nicht gegen sie? Einige Politikwissenschaftler machen sich dafür stark, auf mehr Bürgerbeteiligung zu setzen. So wichtig deren theoretische Überlegungen als Grundlage für Reformen politischer Entscheidungsprozesse sein mögen, so sehr braucht es dennoch auch konkrete Schritte für Neues. Solch innovative Umsetzungsprozesse in der Praxis stehen im Mittelpunkt von „Die freundliche Revolution“. Philippe Narval erzählt Geschichten gelungenen Wandels, in denen Politikerinnen und Politiker zusammen mit Bürgerinnen und Bürgern neue Wege der Entscheidungsfindung und Beteiligung gehen. Dem Buch liegt die Überzeugung zugrunde, dass unsere Demokratie sich gerade in Zeiten massiver gesellschaftlicher Veränderungen weiterentwickeln muss, um fähig zu sein, die großen Probleme unserer Zeit zu lösen. Denn aufgrund der steigenden Komplexität der zu entscheidenden Themen ist die Einbeziehung unterschiedlicher Perspektiven und Sichtweisen der einzige Weg, um zu tragfähigen und nachhaltigen Lösungen zu kommen. Man braucht hier nur an Themen wie den Klimawandel, die Digitalisierung oder die Globalisierung zu denken, um zu wissen, was gemeint ist. Die Einbindung der Bürgerinnen und Bürger in die politische Entscheidungsfindung kann in Zukunft nicht mehr nur darauf reduziert werden, dass wir alle paar Jahre wählen gehen. Die Geschichten in diesem Buch bestechen durch die Vielfalt an Ansätzen, unsere demokratische Kultur zu erneuern. Seine Protagonisten reichen von der Kindergartenleiterin Rosi Lamprecht, die zeigt, wie man Mitentscheidung und Engagement schon im Kindergarten üben kann, bis hin zur Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau, die Stadtentwicklung unter anderem über eine digitale Beteiligungsplattform betreibt.



Das von Philippe Narval anschaulich beschriebene Beispiel der irischen

Citizen Assembly

 zeigt, wie gut auch einfache Bürger fähig sind, im Konsens wertvolle Reformempfehlungen zu Problemen zu entwickeln, an denen die Politik über Jahre gescheitert war. Die Irische Bürgerversammlung, in der 99 per qualifiziertem Zufallsverfahren ausgewählte Bürgerinnen und Bürger unter Einbeziehung von Fachexperten zu Zukunftsfragen und zur Reform der Verfassung zwischen 2016 und 2018 arbeiten, stand dabei nicht in Konkurrenz zum Parlament, sondern fungierte als wertvolle Ergänzung zu politischen Entscheidungsprozessen, die oft über Jahre in ideologischen Grabenkämpfen festgefahren waren. Das Thema Abtreibung sei hier nur als Stichwort genannt.

 



Solche neuen Formen der Beteiligung können der Politik aber auch helfen, Fachwissen viel effektiver einzuholen und Perspektiven von weniger organisierten Interessengruppen kennenzulernen. Auch das „partizipative Gesetzgebungsverfahren“, welches Axelle Lemaire erstmals 2015 als Digitalministerin in Frankreich umsetzte, beweist, dass die frühe Einbindung von Bürgerinnen und Bürgern in den Gesetzgebungsprozess einen großen inhaltlichen Mehrwert bringt. Politische Entscheidungsprozesse leiden nicht selten darunter, dass die Politiker und Politikerinnen eben nur eingeschränkt Zugang zu relevanten Informationen haben, beziehungsweise gut organisierte Interessengruppen und Lobbys den „Informationsmarkt“ dominieren. Offene Gesetzgebungsverfahren, wie das von Lemaire initiierte, wirken dem entgegen und machen zudem Entscheidungsprozesse transparent. In Zeiten, in denen viele Bürgerinnen und Bürger immer häufiger das Gefühl haben, dass Politik nur noch von Interessengruppen und Lobbys gemacht wird, bietet dieser Ansatz einen willkommenen Ausweg. Auch in Österreich spräche nichts dagegen, in die Gesetzgebungsverfahren breite Konsultationen einzubeziehen und sie offen und transparent zu gestalten.



Wenn Bürgerinnen und Bürger der Art und Weise, wie Politik gemacht wird, mit Misstrauen begegnen, haben Politiker und Politikerinnen oft das Gefühl, dass sie in ihrer Verantwortung alleingelassen sind oder dass sie sich sogar dem Willen des Volkes entgegenstellen müssten. Der Erwartungsdruck aus der Bevölkerung ist meist hoch und nicht alles, was an Wünschen an die Politik herangetragen wird, ist auch machbar oder gar sinnvoll. Gleichzeitig fordert der politische Zeitgeist, dass alles schnell gehen muss, ohne zu bedenken, dass gute Entscheidungen und Kompromissfindungen einfach auch ihre Zeit brauchen. Wenn es der Politik jedoch in dieser Situation gelingt, sich zu öffnen und Allianzen mit Bürgerinnen und Bürgern auch außerhalb politischer Parteien zu schmieden, kann das eine neue Chance für die Politik sein, besser verstanden und auch breiter akzeptiert zu werden.



Das Potenzial an „Aktivbürgern“, die sich für das Gemeinwohl engagieren oder eine hohe Bereitschaft zum Engagement haben, wird von der Politik oft gar nicht wahrgenommen. Anders ist das bei jenen Pionieren, die Philippe Narval in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zur Weiterentwicklung der Demokratie stellt.



Der Bürgermeister einer kleinen Gemeinde in Vorarlberg setzt in der Dorfentwicklung auf den Dialog mit Menschen, die sich zwar engagieren, aber nicht unbedingt als Teil der Politik und schon gar nicht Teil einer Partei sein wollen. Die Stadt Dortmund bindet in die Stadtteilentwicklung des sozial und wirtschaftlich benachteiligten Nordens der Stadt ebenfalls „Aktivbürger“ ein. Sie sind als Expertinnen und Experten für ihr direktes Lebensumfeld akzeptiert und können Initiativen starten, die die Lebensqualität in ihren Vierteln sozusagen „bottom up“ verbessern. Diese Art von Beteiligung beinhaltet aber auch die Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen.



Dass Beteiligung – insbesondere ihre neuen Formen – von beiden Seiten, nämlich von der Politik und den Bürgerinnen und Bürgern, gelernt werden muss und dass dieser Kulturwandel auch Zeit benötigt, betont der Autor zu Recht. Noch wichtiger erscheint ihm aber die innere Haltung, die die Politik braucht, um sich auf diese neuen Formen der Zusammenarbeit einzulassen. Ergebnisoffen zu arbeiten, wie es in Dortmund und Vorarlberg praktiziert wird, heißt für die Politik nichts anderes, als ohne vorgefertigte Antworten in den Dialog zu gehen, mit den richtigen Fragen und mit großer Offenheit für neue Lösungen. Dort, wo Beteiligung nur „eingesetzt“ wird, um Akzeptanz für Entscheidungen zu schaffen, die schon längst getroffen wurden, ist sie eine Show und daher abzulehnen.



Über die letzten Jahre haben wir uns beim

Europäischen Forum Alpbach

 intensiv mit der Frage beschäftigt, wie es in Europa weitergehen kann. Die Digitalisierung, die Folgen der Globalisierung und des Klimawandels fordern unsere Gesellschaften enorm heraus. Sie sind aufgrund ihrer Komplexität nur schwer fassbar, verunsichern, ja machen häufig Angst. Es ist schwierig, in einem solchen Klima gemeinsame Lösungsansätze zu entwickeln. Dazu kommt, dass die Logiken der sozialen Netzwerke das Auseinanderdriften der Gesellschaft noch verstärken. Kein Wunder also, dass die Politik immer weniger in der Lage ist, den Menschen klarzumachen, dass es gute Lösungen gibt und die Zukunft nicht vorherbestimmt ist.



„Freundliche Revolutionen“ beweisen, dass eine Gegenbewegung in Gang gekommen ist, der bisher zu wenig Beachtung geschenkt wurde. Ob in Vorarlberg, Irland, Barcelona oder Dortmund, überall in Europa entstehen neue Initiativen und begegnen Politik und Bürger einander im Dialog. Die Experimente, die Philippe Narval beschreibt, sind längst über den Prototypenstatus hinausgewachsen und haben sich in der Praxis bewährt. Beteiligung und partizipative Demokratie, um das Wissen breiter Bevölkerungsgruppen in politische Prozesse einzubinden und Entscheidungen auf eine breite Basis zu stellen, haben „Praxisreife“ erlangt. Man kann erfolgreich das Potenzial der „Aktivbürger“ ausschöpfen und deren Engagement besser nutzen. Es gelingt, Entscheidungshilfen zu schwierigen Zukunftsthemen abseits der Interessenpolitik zu entwickeln. Wir haben die notwendige Kenntnis und wir haben dank dieses Buches nun auch einen „Reisebericht“ aus der Praxis. Worauf warten wir also? Gehen wir gemeinsam voran, wir erweisen damit unseren Demokratien einen guten Dienst!





Dr. Franz Fischler





Präsident des Europäischen Forum Alpbach





WARUM ICH DIESES BUCH SCHREIBE



Über eine abgesagte kleine Rebellion in den Salzburger Bergen und was ich als Kind über die Menschen lernte.



Aufgewachsen bin ich auf einem Bauernhof in einem Dorf im Salzburger Land. Das Bauernhaus und der Stall standen auf einer leichten Anhöhe über dem Ort umringt von Wiesen. An die Kühe im Stall kann ich mich nicht mehr erinnern, aber es gibt ein paar Fotos von mir als Dreijähriger auf einem Heuhaufen im Stadel oder im Sommer auf der Weide mit einem Hüterstock in der Hand. Mein Großvater musste unsere Landwirtschaft aufgrund einer Erkrankung aufgeben, als ich noch ein Kleinkind war und mein Vater weder Zeit noch Interesse daran hatte. Meine Mutter führte dafür auf unserem Hof aber die Gästepension weiter, nachdem schon die Großeltern im Nebenerwerb mit Zimmervermietung begonnen hatten.



Als Kind empfand ich es manchmal als lästig, auf die Gäste Rücksicht nehmen zu müssen, denn im Haus mussten mein Bruder und ich während der Saison leise sein. Die Weihnachtsbescherung im Kreise der Familie war auch immer recht kurz, weil am Abend auch noch die Feier mit den Gästen anstand. Gleichzeitig waren für mich die unterschiedlichen Begegnungen mit unseren „Fremden“, die zu dieser Zeit meistens schon „Gäste“ genannt wurden, interessant und bereichernd mit all ihren Lebensgeschichten und Weltanschauungen. Ich hatte schon in jungen Jahren den Eindruck, dass sozialer Status, Ausbildung oder Herkunft wenig Einfluss darauf haben, ob jemand vertrauenswürdig und umgänglich ist oder nicht, auch weil die Menschen im Urlaub ihre äußere Fassade leichter fallen lassen. Ein gescheiter Professor aus Hamburg konnte sich als unangenehmer Querulant entpuppen und ein einfacher Stahlarbeiter aus dem Ruhrpott als humorvoller, liebenswürdiger Zeitgenosse.



Unser Dorf war auch außerhalb der Urlaubszeit ein Mikrokosmos mit allen möglichen Charakteren. Es gab nette Menschen, weniger nette, engagierte und weniger engagierte. Ein alter Bauer, der gerade einmal die Volksschule abgeschlossen hatte, konnte einem oft mehr Lebensweisheit mitgeben oder über Zusammenhänge in der Natur erzählen als so manches kluge Buch. Wenn es mir leichtfällt, in meiner Arbeit für das

Europäische Forum Alpbach

 mit Menschen ganz unterschiedlicher Hintergründe und Ansichten in Kontakt zu treten und mit ihnen auf Augenhöhe zu sprechen, ist der Grund wohl, dass ich das Zugehen auf Menschen schon in meiner Kindheit lernen konnte. Dabei hat mich immer auch viel Vertrauen in meine Mitmenschen und ihre Fähigkeiten, ganz egal woher sie kamen und wer sie waren, begleitet. Es ist die Grundlage für mein heutiges Verständnis von Demokratie. Wir alle sind fähig und mündig, an ihr teilzuhaben und an der Gestaltung unserer Gesellschaft mitzuwirken.



Ab den 1960er-Jahren erlebte mein Heimatdorf durch den Winter- und Sommertourismus einen markanten wirtschaftlichen Aufschwung. Zu Hause ersetzte ein roter Lindner-Traktor die beiden Rösser und aus dem Plumpsklo wurde ein WC. Meine Mutter bewahrt noch immer die grünen Gästebücher mit dem goldenen Schriftzug am Einband aus dieser Zeit auf. Die Bilder darin zeigen, wie die Urlauber gemütlich in der Stube sitzen, mit meinem Großvater am Gipfelkreuz unseres Hausbergs stehen, oder vor der Haustüre noch kurz vor der Abreise, selbstverständlich inklusive Familie und manchmal zwischen meterhohen Schneewänden. Fast jeder machte sich die Mühe, ein paar Zeilen im Buch zu hinterlassen, und einige verfassten sogar ganze Gedichte zu Ehren ihrer Gastgeber. In den 1970er-Jahren wurden wir an ein größeres Skigebiet angebunden und meine Familie entschloss sich, durch einen umfangreichen Umbau des Hofs den neuen Standards für die Zimmervermietung zu entsprechen. Anfang der 1990er-Jahre ging es mit dem Sommertourismus in der Region bergab. Die Westdeutschen fuhren ans Meer, die Ostdeutschen, die nach dem Mauerfall nachfolgten, kamen nur einmal. Sie wollten dann auch den Rest der Welt sehen.



Das Dorf hatte seine Sonnen- und Schattenseiten. Ein mächtiger Bürgermeister, er war später auch Landtagsabgeordneter, steuerte neben den Gemeindeangelegenheiten auch sein Sägewerk. Sein Bruder war zu dieser Zeit bereits Chef der Skilifte. Gegen die beiden brauchte man sich nicht aufzulehnen. Als dieser Bürgermeister Mitte der 1980er-Jahre in finanzielle Schwierigkeiten geriet, wollte er sein Sägewerk, das mitten im Ort — gleich gegenüber der Dorfkirche und des Gemeindeamts — stand, so gewinnbringend wie möglich verkaufen. Am selben Platz sollte nun ein riesiger Apartmentkomplex entstehen. Als meine Eltern die ersten Pläne zu Gesicht bekamen, waren sie äußert schockiert, denn da war kein kleines, gemütliches Dorfhotel mit ausreichend Grünfläche geplant, von dem ursprünglich die Rede war, sondern eine mächtige Trutzburg, die das gesamte Zentrum des Ortes beherrschen würde. Der Bau sollte bis zum Ufer des Baches reichen und dass die Gebäudemauern damit direkt in der Hochwasserzone stehen sollten, störte den Bürgermeister und die Projektentwickler genauso wenig, wie dass die Wohnungen im „Aparthotel“ viele Monate außerhalb der Saison leer stehen würden.



Ich kann mich gut daran erinnern, als meine Mutter, meine Großmutter, mein Vater und einige ihrer Freunde aus dem Ort eines Tages bei uns im Wohnzimmer zusammenkamen. Ich durfte ausnahmsweise länger aufbleiben und dem Gespräch lauschen. Meine Eltern und ihre Freunde hatten nichts gegen einen Hotelbau an sich. Aber könnte daraus nicht etwas werden, das unseren Ortskern verschönern würde, mit einem kleinen Vorplatz, einem Dorfbrunnen und einer Grünfläche? Die Fehler anderer Wintersportorte, in denen Apartmenthotels in großer Zahl leer standen und die Landschaft verschandelten, dürfe man nicht wiederholen, darin war man sich einig. Da kam meine Mutter auf die Idee, Unterschriften gegen den Bau zu sammeln.



So etwas habe es in der kleinen 800-Einwohner-Gemeinde noch nie gegeben, gaben die anderen zu bedenken, waren aber bereit mitzumachen und es zumindest zu versuchen. In den kommenden Wochen zogen meine Mutter und ihre Mitstreiter von Haus zu Haus. Die Leute waren zu Beginn überrascht, dass sich jemand gegen den mächtigen Bürgermeister zu opponieren traute. Doch die Argumente gegen das Bauprojekt und vor allem der Gegenvorschlag, der vorsah, ein an die Bedürfnisse des kleinen Dorfes angepasstes Konzept umzusetzen, leuchtete dann doch vielen Leuten ein.

 



Als ich an einem Herbsttag von der Schule nach Hause kam, begrüßte mich meine Mutter nicht nur freudig, sondern in großer Aufregung und rief: „Wir haben es geschafft!“ Mehr als 50 Prozent der Dorfbevölkerung hatten gegen das geplante Bauprojekt unterschrieben. Die Landesverwaltung wurde informiert und meldete zurück, dass man aufgrund dieser Vorbehalte das Vorhaben genauer unter die Lupe nehmen würde und es sehr gute Chancen gäbe, den Apartmentkomplex zu verhindern. Siegessicher trommelte meine Mutter ihre Mitstreiter ein paar Tage später bei uns zusammen. Sie malten sich gemeinsam aus, was nun entstehen könnte. Ein gemütliches Gasthaus mit Hotel, ein Dorfbrunnen, vielleicht auch ein paar Räume für verschiedene Veranstaltungen. Kurz: ein Bau, der zum Ort passen würde.



Doch dann begann meine Großmutter ernste Zweifel zu äußern. Sie hatte nie an den Erfolg der Unterschriftenliste geglaubt und sich deshalb nicht eingemischt. Jetzt warnte sie, dass der Investor sich zurückziehen könnte, wenn man das Projekt verhindere, der Bürgermeister den Grund daher vielleicht gar nicht verkaufen könne, in Konkurs gehen würde und wir für immer die Schuldigen wären. Wir, würde es dann heißen, hätten ihn in den Ruin getrieben und bräuchten uns im Ort dann nicht mehr blicken lassen.



Die Äußerungen meiner Großmutter wurden generell sehr ernst genommen, nicht nur in der Familie, sondern auch im Dorf. Sie hatte über Jahre den Hof mit meinem Großvater geführt und daneben noch für lange Zeit den örtlichen Tourismusverband geleitet und mit aufgebaut. Meine Mutter wollte ihrer Schwiegermutter gegenüber nicht klein beigeben und warf ihr vorauseilenden Gehorsam vor. Das Klima zwischen beiden wurde immer gereizter. Die Stimmung in der Gruppe drehte sich und nach einer langen Nacht wurden die Zweifel der anderen, inklusive die meines Vaters, immer größer. Meine Mutter gab auf und am Ende zog die „Rebellengruppe“ ihre Einwände bei der Landesregierung zurück. Der Bürgermeister verkaufte den Grund, tilgte seine Schulden und das Aparthotel wurde gebaut. Die meisten Wohnungen stehen heute leer, immer weniger Gäste wollen während ihres Urlaubs in einem Apartmentblock sitzen. Der Traum der sanften Dorfverschönerung war geplatzt. Ich fragte mich später oft, was gewesen wäre, wenn Bürgermeister und Dorfbewohner damals gemeinsam an einem vernünftigen Projekt gearbeitet hätten. Was wäre passiert, wenn man aufeinander zugegangen wäre, im Wissen, dass nur so eine tragfähige und zukunftsweisende Entwicklung unserer Gemeinde gelingen kann?



Mehr als dreißig Jahre später beobachte ich in meiner Rolle als Geschäftsführer beim

Europäischen Forum Alpbach

 aus nächster Nähe, wie auch die große Politik ermattet und in Zynismus und Mutlosigkeit verfallen kann. Mit Machtgehabe und geschickter Inszenierung verdeckt man zu oft nur die eigene Ratlosigkeit. Wir Bürger haben der Politik die Verantwortung für unsere Zukunft überlassen und diese Last wiegt schwer. Heute bin ich mehr denn je überzeugt, dass die Politik scheitern wird, wenn sie unsere Probleme von oben herab lösen will. Sie wird weder Akzeptanz für schwierige Entscheidungen finden, noch werden diese der Zukunft und den Menschen gerecht werden. Vielleicht haben wir Bürger es einfach satt, bevormundet zu werden. Im Kindergarten und in der Schule wird uns gesagt, was wir zu tun haben und wie. Im Berufsleben heißt es dann allerdings wieder, der Arbeitsmarkt brauche heute kreative, selbstständige und unternehmerische Köpfe. Irgendwie geht das nicht zusammen und wir müssen uns die Frage stellen: Will die Politik mündige Bürger oder nicht?



Gleichzeitig erleben wir, wie die „schweigende Mehrheit“ immer häufiger von einer lauten Meute überrannt und überrumpelt wird. Wir alle kennen das, wenn bei einer Versammlung einige wenige dominieren, weil sie am lautesten schreien, und wie die, die wirklich etwas zu sagen haben, aufgeben, noch bevor sie zu Wort kommen. Bei Diskussionen in den sozialen Medien und Internetforen ist das Realität und sogenannte Trolle haben uns dort übertrumpft. In den Parlamenten Europas werden Scheingefechte geführt, die Entscheidungen fallen oftmals nicht dort, sondern ganz woanders. Wer das weiß, geht zu den wahren Machtzentren, in die Ministerbüros und Kabinette, zu den Assistenten der Landeshauptleute oder ausgefuchsten Lobbyisten, die gleich eine Paketlösung für ein neues Gesetz oder eine neue Verordnung anbieten. Gewählt jedoch wurden die Beraterstäbe nie und sie haben auch gar keine Zeit und wohl auch kein Interesse, sich mit den Anliegen der Bürgerinnen und Bürger auseinanderzusetzen. Gehetzt rennen sie von Termin zu Termi