Missbrauchter Gott?

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Philipp Spahn

Missbrauchter Gott?

Religion im Spannungsfeld

von Politik und Gesellschaft

Philipp Spahn

Missbrauchter Gott?

Religion im Spannungsfeld von

Politik und Gesellschaft

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

1. Auflage 2019

© 2019 Echter Verlag GmbH, Würzburg

Umschlag: Vogelsang Design, Jens Vogelsang, Aachen

(Umschlagbild: gettyimages)

Satz: Crossmediabureau

E-Book-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheim, www.brocom.de

E-Book ISBN 978-3-429-06418-1

Inhalt

Vorwort

Hinführung: Identität

I. Gesellschaft

Die Globalisierung des religiösen Marktes • Kirche und Politik: Eine zu innige Liebe? • Die Debatte um Debatten • Für eine neue Kultur des Streitens

II. Politik

Politik braucht Religion … • … und missbraucht sie • Streitfall: Identitätspolitik

III. Kirche

Das Christentum: Eine Botschaft für die Welt • Das Christentum: Doch keine Botschaft für die Welt? • Kirchliche Verkündigung zwischen Gesinnung und Verantwortung • Mündige Laien: Eine Provokation für den Klerus? • Die Kirche: Anwältin des natürlichen Rechts • Politischem Missbrauch des Christentums nicht Tür und Tor öffnen • Die Fundamente des Glaubens gießen • Das päpstliche Lehramt: Ein Geschenk? • Das kirchliche Lehrgebäude: Ein wirksamer Schutz vor Missbrauch • Theologisches Kauderwelsch oder notwendige sprachliche Komplexität?

Ausblick: Unverfügbarer Gott?

Vorwort

In den gesellschaftlichen und politischen Streitigkeiten während und nach der Flüchtlingskrise wirkte es oft, als bestünde zwischen christlichem Abendland und christlicher Nächstenliebe ein unüberbrückbarer Gegensatz – dabei ist beides doch untrennbar miteinander verbunden. Während aber die einen Ersteres retten wollten, versuchten die anderen, Letzteres zu leben.

Natürlich ist nicht nur in der Flüchtlingsfrage das Christentum als normativer Bezugspunkt unterschiedlicher politischer Weltanschauungen präsent. Es gibt kaum eine gesellschaftliche und politische Debatte, die heutzutage ohne einen Rückgriff auf ‚Christliches‘ auskommt. Die einst totgeglaubte Religion ist quicklebendig, und das trotz schwindender Mitgliederzahlen. Inwieweit es aber redlich ist, dass in außerkirchlichen Auseinandersetzungen ‚christlich‘ zu einem Attribut politischer Anschauungen wird, ist eine alte Frage, die sich nicht pauschal beantworten lässt.

Unbestreitbar ist, dass der Inhalt des Wortes ‚Christliches‘ gegenwärtig nicht fest umrissen ist, im Gegenteil. Mitunter werden gegensätzliche politische Positionen vertreten und gleichsam als ‚christlich‘ etikettiert. Deutlich ist das besonders, seitdem Rechtspopulisten die bundesrepublikanische Gesellschaft aufmischen, wie das Beispiel vom christlichen Abendland, das scheinbar in Gegensatz zur christlichen Nächstenliebe geraten ist, zeigt. Den Fragen, ob es christliche Inhalte in politischen Parteien geben darf, was eine christliche Position auszeichnet und wann es sich um einen Etikettenschwindel handelt, haben die Veränderungen in der deutschen Parteienlandschaft jedenfalls neue Brisanz verliehen.

Auch an den Kirchen gehen diese Entwicklungen nicht spurlos vorüber. Zwar haben die Kirchen kein Deutungsmonopol auf das Christentum. Ihre amtlichen Vertreter sehen sich aber doch immer wieder dazu gezwungen, mit Wortmeldungen in diese politischen Debatten einzugreifen, auch wenn die Ansichten darüber, ob das die Aufgabe der Kirchen ist, auseinandergehen. Die ‚Arbeitshilfe zum kirchlichen Umgang mit rechtspopulistischen Tendenzen‘ mit dem Titel ‚Dem Populismus widerstehen‘, die im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz erarbeitet und am 25. Juni 2019 vorgestellt wurde, ist ebenfalls im Licht der geschilderten Zusammenhänge zu sehen. Leider konnte die Arbeitshilfe selbst im Folgenden nicht mehr berücksichtigt werden.

In Bausch und Bogen beantworten lassen sich die aufgeworfenen Fragen nicht, und das nicht zuletzt deshalb, weil etwaige Antworten sich mit wandelnden gesellschaftlichen und politischen Kontexten ändern können. Um mehr als einen Konsens der widerstreitenden Ansichten kann es sich dabei ohnehin nicht handeln. Damit sind Antworten auf die gestellten Fragen aber notwendig Teil eines fortwährenden Ringens, zu dem der vorliegende Band einen bescheidenen Beitrag zu leisten versucht. Es handelt sich dabei nicht um eine erschöpfende Abhandlung des Themas, sondern um eine schlaglichtartige Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Umstände in Gesellschaft, Politik und Kirche. Der Band versteht sich als Debattenbeitrag und darf auch nur als solcher gelesen werden. Dass in diesem zwar versucht wurde, beide großen Kirchen zu betrachten, am Ende aber doch ein gewisses Ungleichgewicht zugunsten der katholischen Kirche festgestellt werden muss, soll durch die biografische Prägung des Verfassers versucht werden, zu entschuldigen.

In einem anderen Kontext hatte ich mich im Juli 2018 mit den eben aufgeworfenen und weiteren Fragen beschäftigt (www.feinschwarz.net/missbrauchter-gott, Abruf 15. Juni 2019). Daraufhin trat der Echter Verlag mit dem Wunsch an mich heran, das dort abgehandelte Thema in den Kontext der satirischen Broschüre ‚Christliches in der AfD‘ und des Sammelbands ‚Christliches in den Parteien‘ zu stellen, ohne aber eine Fortsetzung zu schreiben. Diesem Wunsch habe ich gerne versucht, nachzukommen.

Frankfurt am Main, im Juni 2019

Hinführung: Identität

Die von Max Weber prognostizierte „Entzauberung der Welt“ ist ausgeblieben. Aufgeschoben oder aufgehoben, wer weiß das schon. Prognosen sind schwierig, bekanntlich besonders dann, wenn sie die Zukunft betreffen. Zumindest vorerst zieht uns, wie der Soziologe Hans Joas meint, die „Macht des Heiligen“ in ihren Bann. Religiosität ist wieder im Aufwind, und das sicher nicht erst seit gestern, nur eben anders als gestern.

In Europa paart sich religiöser Pluralismus mit scheinbar individuellen Lebensentwürfen, der Maxime einer modernen und aufgeklärten Gesellschaft schlechthin. Das Ergebnis sind spirituelle Sinndeutungen, bei denen der Einzelne sich selbst zum Maßstab erklärt, keineswegs aber gemeinschaftliche religiöse Lehren und auf keinen Fall gar unumstößliche Dogmen. Längst haben sich dabei esoterische Praktiken, magische Rituale und vieles mehr mit christlichen Elementen vermischt. Wir befinden uns mittendrin in einem spirituellen Karneval und die Kirchen feiern kräftig mit, jedenfalls unter Vorbehalt, folgt auf die bunten Tage doch stets die Tristesse des Aschermittwochs. Individualität ist der Maßstab, nach dem sich diese neue Lehre richtet. Ihr Credo wünscht von allem ein bisschen, vielleicht auch das Beste von allem, zumindest aber jedem das Seine.

Daraus resultiert eine mittlerweile nicht mehr ganz so „neue Unübersichtlichkeit“ (Jürgen Habermas), die aber nicht nur Konfetti und Kamelle auf ihre Jünger regnen lässt. Das Maß an religiöser und individueller Freiheit befremdet zugleich, provoziert Abwehrhaltungen und Gegenbewegungen. Besonders Zuwanderer aus dezidiert islamischen Staaten können mit einem religiösen Laissezfaire oft nur wenig anfangen.

In den letzten Jahren und Jahrzehnten warf dieser Gegensatz einen disparaten Schatten. Einerseits scheint Religion die Welt zu verzaubern. Während mit dem Maß an individueller Freiheit unausweichlich auch die eigene Unsicherheit wächst, ist Religion der rettende Anker im Hafen der Weltentwürfe. Denn Religion vermag zu leisten, was Politik nicht kann: Antworten, mitunter auch unfertige, auf die Fragen zu geben, mittels derer der Künstler Paul Gauguin die gesamte Krisis menschlicher Existenz einfing: ‚Woher kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir?‘ Diesen auszuweichen auf Lebenszeit, das ist schlicht und einfach unmöglich. Die Welt bleibt verzaubert, weil irdische Existenz ohne transzendente Referenz an der Welt zerbricht.

Andererseits aber verhext Religion, oder vielmehr deren Perversion, die Welt. Eine religiös plurale Gesellschaft in einem weltanschaulich neutralen Staat birgt von sich aus ein gewisses Spannungspotential. Vermengt sich dieses mit fundamentalistischen Strömungen, zeigt sich die schreckliche Fratze des religiösen Irrationalismus, die einen jeden erschaudern lässt. Berlin, London, Nizza, Paris: mitten ins Herz des europäischen Leibes, immer wieder, immer öfter. Und das Schlimme: kein Ende in Sicht. Ein leidiges Thema. Ein trauriger Höhepunkt aus christlicher Sicht sind Märtyrer mitten in Frankreich. Nicht die verdorbene Blutzeugenschaft islamistischer Attentäter, sondern die des wahrscheinlich bald seligen Priesters Jacques Hamel, dem bei einem Anschlag zweier Islamisten im Jahr 2016 die Kehle durchgeschnitten wurde, als er im kleinen, in der Normandie gelegenen Städtchen Saint-Étienne-du-Rouvray die heilige Messe feierte.

 

Das beeinflusst die politische Diskussion, keine Frage. Schon deshalb ist, anders als hin und wieder behauptet wird, Religion keine Privatsache und kann es, anders als der Glaube des Einzelnen, auch nie sein. Deutschland hatte eine Schonfrist. Vielleicht haben die deutschen Politiker gedacht, der bittere Kelch des Rechtspopulismus würde an der Bundesrepublik vorübergehen, gehofft haben sie es allemal. Weit gefehlt. Wunschdenken. Rassemblement National in Frankreich, Partij voor de Vrijheid in den Niederlanden, Lega Nord in Italien, um von den Nachbarländern Deutschlands im Osten ganz zu schweigen. Alternativen auch für Deutschland?

Doch nicht nur die Parteienlandschaft verändert sich. Mit ihr verschieben sich die Grenzen des Sagbaren, verändert sich auch die Sprache. Das ist die eigentliche Gefahr. Aufschlussreich sind Victor Klemperers Tagebuchnotizen zur Sprache des Dritten Reichs, der Lingua Tertii Imperii. Eine erschreckende Lektion über die Kraft der Sprache und die Macht dessen, der sie beherrscht. Denn sobald sich die Grenzen der Sprache verschieben, verändert sich auch die Realität. Es wird salonfähig, was noch undenkbar scheint, zuerst im Salon, dann auch auf der Straße. Zusehends verroht die Sprache in Teilen der Gesellschaft, leider auch an den politischen Rändern der parlamentarischen Demokratie. Und mit der Sprache verroht der Umgang mit- und untereinander. Das scheint es schier unmöglich zu machen, zu einer gebotenen Sachlichkeit zurückzufinden, ohne die es aber nicht möglich ist, die gegenwärtigen Herausforderungen mit der notwendigen Umsicht anzugehen. In der Folge bleiben die aktuellen Probleme auch die der Zukunft; nur, so viel ist sicher, neue Probleme kommen hinzu.

Wem aber sollte man einen Vorwurf machen? Den Wählern? Ein zweifelhaftes Demokratieverständnis. In der Regel sind Ängste zwar nicht rational, für den Ängstlichen aber sind sie real. Deshalb ist Angst, eines der stärksten Gefühle überhaupt, auch ein starker Antrieb. Und abertausende, wenn nicht sogar Millionen von Menschen in Deutschland haben Angst. Vor Fremden, dem Verlust der eigenen Identität, dem Terrorismus, der Globalisierung und vielem mehr. Längst sind die besorgten Bürger zum geflügelten Wort geworden, leider auch zur standardisierten Phrase verkommen. Denn werden die Ängste der Menschen nur belächelt, unter Verweis auf ihre Irrationalität abgetan oder ignoriert, dann macht sich bei den Ängstlichen das Gefühl der Ohnmacht breit, dann entlädt sich die Angst und es entsteht Populismus, der sich gegen die (vermeintlichen) Eliten richtet. „Populistisch heißt: gegen das Establishment“, wie Alexander Gauland im Oktober 2018 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) feststellte. Er, der es wie kein Zweiter versteht, den populistischen Tiger zu reiten, muss es wissen.

Im besten Fall, so seltsam das derzeit bei einem Blick in die Parlamente der Länder und das des Bundes klingen mag, entladen sich die Ängste der Menschen am Wahltag. Das Versprechen, Ängste ernst zu nehmen, hat die Alternative für Deutschland (AfD) bei der letzten Bundestagswahl beinahe aus dem Stand als drittstärkste Kraft in den Deutschen Bundestag katapultiert, um von den vergangenen Landtagswahlen und der Europawahl erst überhaupt nicht zu sprechen. Jeder Politiker, der dachte, Ängste ignorieren zu können, weil sie mitunter irrational sind, wurde eines Besseren belehrt. Im schlechtesten Fall aber entlädt sich durch Populismus geschürte Angst, gepaart mit Hass und Dummheit, in Chemnitz, in Freital oder in den unzähligen anderen Orten quer durch Deutschland, in denen Flüchtlingsunterkünfte angegriffen oder Hetzjagden auf Asylbewerber gemacht wurden. Und unterdessen schien das größte Problem in der politischen Debatte zu sein, ob eine Hetzjagd auch als solche bezeichnet werden dürfe. Da bleibt einem glatt die Spucke weg.

Fast immer geht es bei diesen Konflikten auch um Religion. Selbsternannte ‚Patriotische Europäer‘ wenden sich ‚gegen die Islamisierung des Abendlandes‘ (Pegida). ‚Hooligans‘ kämpfen ‚gegen Salafisten‘ (Hogesa). Fast magisch wird die christliche Kultur beschworen, der Kontrast schlechthin, wie ein Mantra hallt der Ruf nach den jüdisch-christlichen Wurzeln des Okzidents nicht nur durch die Straßen, sondern auch durch die Bierzelte und die Talkshows der Republik. Nur, dass die christliche Religion in solchen Fällen beschworen, ansonsten aber an den Rand gedrängt wird und allenfalls noch folkloristische Bedürfnisse bedient, ist mehr als ein Scheinwiderspruch. Irrsinnig wird es gar, werden auf Demonstrationen von Pegida Kreuze in die Lüfte gereckt, getüncht in Schwarz, Rot und Gold. Oder, wie auf dem Titelbild dieses Bandes zu sehen ist, bei dem Pegida-Ableger in Düsseldorf (Dügida) ein Kruzifix, unter dem die Mutter Gottes betet. Über dem Kreuz weht nicht der Heilige Geist, sondern ein Deutschlandfähnchen, das ironischerweise aus dem Kreuzestitel herauswächst. Jesus von Nazareth, König der Deutschen?

Fast könnte man Derartiges denken, werden doch zugleich ausländische Priester, die in großer Zahl in deutschen Gemeinden eingesetzt sind, um die als Priestermangel schöngeredete Glaubenskrise abzufedern, aufgrund ihrer Hautfarbe und Herkunft angefeindet und rassistisch beleidigt. Olivier Ndjimbi-Tshiende, der als Pfarrer von Zorneding zu trauriger Berühmtheit gelangte, steht nur stellvertretend für eine große Schar.

Welcher andere als dieser Schluss sollte sich daraus ziehen lassen: Der Konflikt um Religion ist kein Konflikt um Religion. Der Konflikt um Kultur ist auch nur bedingt ein Konflikt um Kultur. Beide Konflikte sind zuallererst Konflikte um Identität, um Identitätskonstruktion. Nicht zuletzt zeigt sich das auch daran, dass in regelmäßigen Abständen erbittert um die Frage gestritten wird, ob es in Kindergärten oder in Schulmensen Schweinefleisch geben sollte. Heraufbeschworen wird der Untergang des Abendlandes. Nicht, weil die Trinität auf dem Spiel stünde, mit der Muslime bekanntlich ihre Probleme haben. Nein, ein Mittagessen bringt Europas Kultur zu Fall. Sei’s drum.

Es geht also um Identität. Genauer: um Identität durch Abgrenzung. Das christliche Abendland, das christliche Europa, die christlichen Wurzeln unserer Väter und Großväter, unserer Mütter und Großmütter. Christliche Werte sind in aller Munde, nur für die verfolgten Christen im Morgenland, in Syrien und im Irak, deren Gemeinden nach Einschätzung der Gesellschaft für bedrohte Völker sogar in ihrer Fortexistenz bedroht sind, interessiert sich kaum jemand. Mit Glauben hat das erst einmal wenig zu tun.

Doch wie sollten sich die Kirchen dazu verhalten, wenn der Name des Messias und seine Botschaft in gesellschaftlichen und politischen Diskussionen herumgereicht und angebetet werden wie einst das Goldene Kalb, er sonst aber zerschmettert am Boden liegt? Inwiefern ist es legitim, wenn sich Politiker christliche Inhalte aneignen, wenn in Landesbehörden Kreuze aufgehängt werden und so weiter, und wann ist das Christentum politisch vereinnahmt, die Grenze des Tolerablen überschritten? Wie sollten sich die Kirchen bei politischer Indienstnahme des christlichen Glaubens verhalten?

Aber auch andersherum kann ein Schuh daraus werden. Jens Spahn hat in der Flüchtlingsfrage mehrfach die Kirchen angewiesen, sie sollten sich aus der Politik heraushalten und statt moralinsaurer Predigten lieber den Glauben verkünden. Ins gleiche Horn blies 2016 ausgerechnet Markus Söder, damals war er noch Finanzminister im Freistaat. Sind diese Forderungen mitunter gerechtfertigt, ist der Vorwurf, Kirchenvertreter greifen zu stark in die Tagespolitik ein, begründet?

Diese Fragen stellen sich in einer Gesellschaft, deren staatlicher Rahmen ein sehr enges Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften vorgibt und die beiden großen Kirchen faktisch privilegiert. Eine strikte Trennung von Staat und Kirchen ist, anders als etwa im laizistischen Frankreich, weder politisch angestrebt noch durch das Grundgesetz vorgesehen. Zugleich aber ist der Staat zu weltanschaulicher Neutralität verpflichtet und die religiöse Heterogenität der Gesellschaft nimmt fraglos zu. Damit wird auch das Kooperationsmodell von Staat und Religionsgemeinschaften verstärkt hinterfragt, der Status quo faktisch privilegierter Kirchen ist so prekär wie schon lange nicht mehr.

Alles das wirft mehrere Fragen auf: Gesellschaft, Politik und Religion, wie geht das noch zusammen? Muss Religion doch Privatsache werden? Oder können Religion und Politik voneinander profitieren? Und falls ja, was ist zu beachten, damit es am Ende nicht heißt: missbrauchter Gott?

I. Gesellschaft

„Reden wir über Religion“, forderte im Spätsommer 2018 der derzeitige Bundesinnenminister Horst Seehofer in der Tageszeitung Die Welt. Und er ist beileibe nicht der einzige Politiker, der sich in diesen Tagen prominent zur Rolle der Religion in Politik und Gesellschaft geäußert hat. Es gibt kaum einen Volksvertreter, der um dieses Thema umhinkäme. Wenn Politiker sagen, wie sie’s mit der Religion haben, ist das immer ein Spiegelbild aktueller gesellschaftlicher Debatten. Das überrascht nicht, schließlich werden Politiker vom Volk gewählt, müssen und sollen diesem daher, um einmal Worte Doktor Martin Luthers zu entlehnen, „aufs Maul schauen“. Das beeinflusst selbstverständlich auch das Verhältnis der Politik zu den Kirchen.

Wie Politiker und Parteien, Kleriker und Kirchen ihr wechselseitiges Verhältnis zueinander bestimmen, ist deshalb stets im Wandel, der analog zu den gesellschaftlichen Veränderungen mal schneller, mal weniger schnell vonstattengeht. Um diesen gerecht zu werden, kommen Politik und Kirchen nicht umhin, ihr Verhältnis fortwährend zu überdenken und notfalls neu zu bestimmen. Wer der Aufforderung des derzeitigen Bundesinnenministers nachkommen und über Religion in der politischen Landschaft sprechen möchte, muss die Bestandsaufnahme also zwangsläufig mit einem Blick auf die Gesellschaft beginnen.

Die Globalisierung des religiösen Marktes

Das Christentum als ästhetisches und intellektuelles Faszinosum hat Navid Kermani als Außenstehender in bunten Bildern einflussreich zu zeichnen vermocht und somit die bleibende Strahlkraft des Numinosen veranschaulicht. Sein ‚Ungläubiges Staunen‘ lässt erahnen, weshalb der Untergang der Religion zugunsten vermeintlich aufgeklärter Gesellschaften, der schon für wahrscheinlich erachtet, zum Teil auch herbeigesehnt wurde, ausbleibt. Totgesagte leben länger. Wir erleben eine Renaissance des Religiösen im Karneval der Weltanschauungen.

Im Gegensatz zu früheren Zeiten hat religiöser und weltanschaulicher Pluralismus die religiöse Homogenität in der Bundesrepublik abgelöst. Ausschlaggebend dafür dürfte – nicht ausschließlich, aber doch entscheidend – die Globalisierung des Marktes sein, von der auch der religiöse Markt nicht verschont bleibt. Neben der Zuwanderung von Muslimen, der einzigen wachsenden religiösen Minderheit in Deutschland wie auch andernorts in Europa, befeuert die globale Vernetzung die Abkehr vom institutionell gelebten Christentum, indem sich die religiöse Angebotspalette stetig erweitert. Glaube wird erstmals, wie Hans Joas sagt, zur „Option“.

Die spirituellen Lehren aus Fernost sind nicht mehr ganz so fern. Nicht mehr nur sinnsuchende Hippies und in die Jahre gekommene Weltenbummler stoßen in unerschlossenen Gebieten Südostasiens, die es ohnehin kaum noch gibt, auf exotisch anmutende Praktiken mit angeblich befreienden Lehren und suchen als deren eifrige Jünger nicht mehr die Erlösung, sondern nur noch die Befreiung, das Glück oder was sonst noch. Bereits das ländliche Idyll der Lüneburger Heide reicht heutzutage aus, um dank neuer Medien die Waren, die auf dem Markt der religiösen Sinndeutungen feilgeboten werden, kennen und lieben zu lernen. Selbst primäre religiöse Erfahrungen außerhalb des Kirchenraums lassen sich nicht nur in den multireligiösen Großstädten, sondern auch bei Yogalehrern in der oberbayrischen Provinz, bei spiritistischen Seelenverführern im Vogelsberg und an vielen anderen Orten quer durch die Republik machen. Und bei alledem ist der zumindest dem Namen nach humanistische Stammtisch in kleinbürgerlichen Bierstuben noch nicht berücksichtigt. Kein Ort, nirgends, an dem das Christentum noch ein Monopol besäße.

In den Anfangstagen der Bundesrepublik war die Ausgangssituation entschieden anders. Weit über neunzig Prozent der westdeutschen Bevölkerung waren einer christlichen Konfession zugehörig. Und auch als die leidvolle Trennung überwunden war, betrug die Kirchenzugehörigkeit der nun geeinten Republik zumindest noch über siebzig Prozent. Seitdem schwinden den beiden großen Kirchen unaufhaltsam die Mitglieder. Schon bald wird sich jeder zweite Deutsche zu keinem oder einem anderen Glauben als dem christlichen bekennen. Und die Tendenz der Kirchenaustritte ist auf unabsehbare Zeit steigend.

 

Immerhin sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch etwas mehr als die Hälfte der Bundesbürger Mitglied einer der beiden großen Kirchen. Doch selbst von denen, die trotz Kirchensteuer und Kindesmissbrauch noch nicht das Handtuch geworfen haben, findet sich nur ein kleiner Bruchteil zum sonntäglichen Gottesdienst zusammen. Sieht man also von diesen U-Boot-Christen einmal ab, die höchstens noch an Weihnachten und gegebenenfalls auch an Ostern in der Kirche auftauchen, bleibt der ernüchternde Befund, dass die religiöse Lehre der beiden großen Kirchen nur noch für einen kleinen Bruchteil der Menschen in diesem Land einen Stellenwert im eigenen Leben besitzt. Die Kirchen in Deutschland befinden sich in einem Zustand andauernder Krisen – des Missbrauchs, des Glaubens, der Glaubwürdigkeit –, ohne dass ein Ausweg aus dem Schlamassel erkennbar wäre.

Widersinnig zu diesem Befund scheint die Tatsache, dass den Kirchen, auch wenn diese verfassungsrechtlich nicht privilegiert sein mögen, faktisch eine besondere Stellung unter den Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften zukommt. Ob das religionspolitische Vermächtnis angesichts der gesellschaftlichen Wirklichkeit noch stimmig ist, nicht vielleicht Korrekturen notwendig sind oder gar alte Privilegien aufgegeben werden müssten, darüber gehen die Meinungen auseinander. Stetig prasselt die Gretchenfrage auf die Politik darnieder. Der gegenwärtige Zustand wird hinterfragt und vielfach werden Veränderungen gefordert. Ist es nicht so, dass ein weltanschaulich neutraler Staat, zumal unter dem Umstand einer religiös pluralen Gesellschaft, keine Religionsgemeinschaft und keine Kirche faktisch privilegieren sollte?

Kirche und Politik: Eine zu innige Liebe?

Die Bundesrepublik strebt, anders als etwa das laizistische Frankreich, keine strikte Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften an, sondern pflegt ein Modell wechselseitiger Kooperation. Das Grundgesetz privilegiert zwar nicht die Kirchen, die Tagespolitik aber sehr wohl. Daher ist die gestaltende Kraft der Kirchen in politischen Fragen nach wie vor groß. Nicht nur, weil einige Bischöfe gefragte Gesprächspartner der Politiker sind oder weil diese in unterschiedlichem Umfang und in verschiedener Art und Weise Berateraufgaben wahrnehmen. Auch sind beispielsweise neben anderen „Religionsgemeinschaften“ im Vertrag der Regierungskoalition aus CDU, CSU und SPD ausdrücklich die Kirchen als „Partner des Staates“ genannt. Im scharfen Gegensatz dazu steht die Tatsache, dass sich immer mehr Menschen von der Institution Kirche lossagen. Es braucht keine prophetische Gabe, um zu erkennen, dass die Tage privilegierter Kirchen gegenüber namentlich nicht genannten Religionsgemeinschaften konsequenterweise gezählt sind.

Nicht erst in den nächsten Jahren und Jahrzehnten wird sich vieles verändern, schon heute zeichnet sich ab, dass die Zeiten unhinterfragter kirchlicher Privilegien vorbei sind. Zwar behauptet sich das fragwürdige Kirchensteuermodell noch und auch der konfessionelle, von den Kirchen maßgeblich mitgestaltete konfessionelle Religionsunterricht ist trotz erster Einwände bisher nicht angetastet worden. Aber bereits beim kirchlichen Arbeitsrecht stellt sich die Situation anders dar. Mehrere Gerichtsurteile aus dem vergangenen und dem laufenden Jahr machen deutlich, dass dessen Fundament erste Risse bekommen hat. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis das Gebäude nach und nach in sich zusammenstürzt. Aus kirchlicher Sicht ist das sicherlich ein Ärgernis, aber keineswegs etwas, das die Kirchen in ihrer Existenz bedroht.

Nicht nur auf rechtlicher Ebene, auch in moralischen Fragen mussten die Kirchen zuletzt Niederlagen einstecken. Konsense erodieren, Überzeugungen, die aus einer christlichen Weltsicht herrühren, wurden auf gesellschaftlicher Ebene längst aufgekündigt. Diesem Umstand tragen auch politische Veränderungen verstärkt Rechnung. Das beweist die Ehe für alle, die bereits gesellschaftliche Realität ist, ebenso wie die Diskussion um das Werbeverbot für Abtreibungen, das nur noch besteht, weil die neue CDU-Parteivorsitzende darauf pocht, den Koalitionsvertrag einzuhalten.

Wohin der Weg stattdessen gehen könnte, hat die Arbeitsgemeinschaft der Jungsozialistinnen und Jungsozialisten in der SPD (JuSos) auf ihrem Bundeskongress, der vom 30. November bis zum 2. Dezember 2018 in Düsseldorf stattfand, bewiesen. In einem dort gefassten Beschluss wird gefordert, nicht das Werbeverbot, sondern das Verbot von Abtreibungen generell aus dem Strafgesetzbuch zu tilgen und damit selbstverständlich auch die Fristenlösung, innerhalb derer Schwangerschaftsabbrüche straffrei durchgeführt werden können – auch wenn am Ende angeblich alles nicht so gemeint war.

Ebenfalls wird eifrig über Sterbehilfe diskutiert, die nichts anderes ist als Euthanasie und nur nicht unter diesem Begriff diskutiert wird, weil die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen die Maske des schönen Todes fallen ließ. Ein Euphemismus jagt den nächsten. Alle Beispiele zeigen, dass heute schon die moralischen Ermahnungen der Kirchen kaum Gehör finden, zumindest solange sie quer zum Zeitgeist stehen. Und es ist lediglich eine Frage der Zeit, bis sich die noch verbliebenen christlichen Imprägnierungen von Wert- und Moralvorstellungen auflösen. Die Kirchen werden sich warm anziehen müssen.

Tragischer als alles das ist es, wird die Kirche vom Staat daran gehindert, den Glauben gemäß ihrer eigenen Regeln zu leben. Auch wenn zu hoffen ist, dass es nie dazu kommt, sieht die Zukunft nicht wirklich rosig aus. Nach Bekanntwerden der zahlreichen Missbrauchsfälle innerhalb der katholischen Kirche ist es bereits in Teilen der USA, Australiens und andernorts dazu gekommen, dass staatliches Recht und Beichtgeheimnis unter Umständen kollidieren. Der Beichtvater, der das Beichtgeheimnis unter keinen Umständen brechen darf, unterliegt schon heute vielerorts aufgrund gesetzlicher Regelungen einer Anzeigepflicht, erlangt er im Rahmen des Beichtgesprächs Kenntnis über strafbare Handlungen. Zeigt der Beichtvater diese nicht an, macht er sich selbst strafbar.

Es steht zu befürchten, dass auch die Kirche in Deutschland von solchen Diskussionen nicht verschont bleiben wird. Spätestens seit im Herbst 2018 die ‚MHG-Studie‘ zum Missbrauch in der katholischen Kirche vorgestellt wurde und ordentlich Furore machte, ist diese Befürchtung berechtigt. Denn in einer Stellungnahme forderte die unabhängige Kommission, welche die Studie erstellte, auch die „kritische Überprüfung des Beichtgeheimnisses“. Es könnte zu einer harten Bewährungsprobe für Klerus wie Laien kommen, die weit schlimmer wäre als Austrittswellen, finanzielle Einbußen und fehlender Einfluss in moralischen Streitfragen. Ob sich das Beispiel des heiligen Johannes Nepomuk, der der Legende nach verhört, gefoltert und anschließend von der Prager Karlsbrücke in die Moldau geworfen wurde, in der er ertrank († 1393), und das nur, weil er das Beichtgeheimnis gegenüber dem König nicht brechen wollte, heute noch verständlich machen lässt, darf bezweifelt werden.

Auch wenn der Bedeutungsverlust der Kirchen also unaufhaltsam scheint, ist ihr politischer Einfluss weiterhin groß und Gott in gesellschaftlichen und politischen Debatten nicht tot, sondern quicklebendig. Das könnte mit der Annahme zu tun haben, die im berühmten Diktum Ernst-Wolfgang Böckenfördes ihren bekanntesten Ausdruck fand, nämlich dass der Staat von Voraussetzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne. Auch wenn Böckenförde einer ausschließlich religiösen Interpretation seines Satzes eine Absage erteilte, scheinen viele ihn so verstanden zu haben.

Die Debatte um Debatten

Neben der Strahlkraft des Numinosen hinterlässt die Zerstörungswut religiöser Fundamentalisten aber auch bleibende Narben und beeinflusst die kollektive Wahrnehmung. Die Annahme, Religionen seien die Wurzel von Krieg und Gewalt, ist alt. Immer wieder haben Religionsskeptiker und -kritiker versucht, Kriege und Konflikte auf Religionen zurückzuführen. Um Jan Assmann und seine These der „intrinsischen Gewalttätigkeit“ des Monotheismus hat sich in dieser Frage sogar eine neue, sachliche Diskussion entwickelt.

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