Einführung in die Tierethik

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Einführung in die Tierethik
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa


UTB 4917

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage

W. Bertelsmann Verlag · Bielefeld

Böhlau Verlag · Wien · Köln · Weimar

Verlag Barbara Budrich · Opladen · Toronto

facultas · Wien

Wilhelm Fink · Paderborn

A. Francke Verlag · Tübingen

Haupt Verlag · Bern

Verlag Julius Klinkhardt · Bad Heilbrunn

Mohr Siebeck · Tübingen

Ernst Reinhardt Verlag · München

Ferdinand Schöningh · Paderborn

Eugen Ulmer Verlag · Stuttgart

UVK Verlagsgesellschaft · Konstanz, mit UVK/Lucius · München

Vandenhoeck & Ruprecht · Göttingen

Waxmann · Münster · New York

Philipp Bode

Einführung

in die Tierethik

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR · 2018

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.

Umschlagabbildung:

Stock-Fotografie-ID: 187935436/damedeeso

© 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Wien Köln Weimar

Kölblgasse 8–10, A-1030 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig.

Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart

Korrektorat: Rebacca Wache, Castrop-Rauxel

Satz: büro mn, Bielefeld

EPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

UTB-Band-Nr. 4917 | ISBN 978-3-8252-4917-5 | eISBN 978-3-8463-4917-5

Für Matthias und Inga,

die mich fortwährend lehren,

was Freundschaft ist.

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungsverzeichnis

1.Einleitung

2.Grundpositionen der Tierethik

2.1Positionen theoretischer Tierethiken

2.1.1Anthropologische Differenz

2.1.2Reichweite moralischer Relevanz

2.1.3Moralisch relevante Eigenschaften

2.1.4Aufnahme in die moralische Gemeinschaft

2.1.5Gewichtung moralisch relevanter Belange

2.2Positionen praktischer Tierethiken

2.2.1Die traditionelle Tierschutzethik

2.2.2Abolitionismus

2.2.3Reformismus

2.2.4Tierbefreiung

3.Ethische Grundbegriffe

3.1Deontologische und utilitaristische Ethik

3.2Positive und negative Pflichten

4.Egalitaristische Positionen

4.1Tierrechte

4.1.1Moralische Rechte

4.1.2Formen des Egalitarismus

4.2Schwacher Egalitarismus

4.2.1Der präferenzutilitaristische Ansatz: PETER SINGER

4.2.2Der autonomiebasierte Ansatz: ALISON HILLS

4.3Erweiterter Egalitarismus

4.3.1Der fähigkeitsbasierte Ansatz: MARTHA NUSSBAUM

4.3.2Der mitleidsethische Ansatz: URSULA WOLF

4.4Starker Egalitarismus

4.4.1Der deontologische Ansatz: TOM REGAN

4.4.2Der kontraktualistische Ansatz: MARK ROWLANDS

4.5Absoluter Egalitarismus

4.5.1Politische Rechte

4.5.2Der zoopolitische Ansatz: SUE DONALDSON/WILL KYMLICKA

4.6Kritik an Tierrechten

4.6.1Strukturelle Kritik

4.6.2Begriffliche Kritik

5.Hierarchische Positionen

5.1Interessenshierarchismus

5.1.1Der interessenfundierte Ansatz: NORBERT HOERSTER

5.1.2Der tugendethische Ansatz: LAWRENCE C. BECKER

5.2Gemeinschaftshierarchismus

5.2.1Der affektiv-kommunitaristische Ansatz: MARY MIDGLEY

5.2.2Der kausal-kommunitaristische Ansatz: CLARE PALMER

5.3Artenhierarchismus

5.3.1Der gerechtigkeitstheoretische Ansatz: MICHAEL WREEN

5.3.2Der kategoriale Ansatz: CARL COHEN

6.Moralischer Anthropozentrismus

6.1Der kontraktualistische Ansatz: PETER CARRUTHERS

6.2Der Nicht-moralische Interessen-Ansatz: TIMOTHY HSIAO

7.Schluss

8.Glossar

Literatur

Danksagung

Abkürzungsverzeichnis


AA IVImmanuel Kant. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.
AHRDo Animals Have Rights? (Alison Hills)
ALAnimal Liberation (Peter Singer)
ARThe Case for Animal Rights (Tom Regan)
ARTPAnimal Rights. Moral Theory und Practice (Mark Rowlands)
CCWhy Animals Do Not Have Rights (Carl Cohen)
CPAnimal Ethics in Context (Clare Palmer)
EIEthik und Interesse (Norbert Hoerster)
EMTBEthik der Mensch-Tier-Beziehung (Ursula Wolf)
GGGrenzen der Gerechtigkeit (Martha Nussbaum)
LBDer Vorrang menschlicher Interessen (Lawrence Becker)
MBWie lässt sich Moral begründen? (Norbert Hoerster)
MM1Beast and Man (Mary Midgley)
MM2Animals and Why They Matter (Mary Midgley)
MM3Personen und Nicht-Personen (Mary Midgley)
MW1In Defense of Speciesism (Michael Wreen)
MW2My Kind of Person (Michael Wreen)
PCWarum Tiere moralisch nicht zählen (Peter Carruthers)
PEPraktische Ethik, 3. Auflage (Peter Singer)
SRTIn Sachen Rechte der Tiere (Tom Regan)
TGTheorie der Gerechtigkeit (John Rawls)
THIn Defense of Eating Meat (Timothy Hsiao)
UTUngerechtigkeit und Tiere (Cora Diamond)
TWHaben Tiere eine Würde? (Norbert Hoerster)
UWHaben wir moralische Verpflichtungen gegenüber Tieren? (Ursula Wolf)
ZOZoopolis. Eine politische Theorie der Tierrechte (Sue Donaldson/Will Kymlicka)

1.Einleitung

 

Was möchte dieses Buch erreichen? Es möchte eine systematische Einführung in die Tierethik geben. Das Gewicht liegt auf dem Wort Einführung. Das Buch ist gedacht für alle, die mit tierethischen Argumentationen bisher nicht oder nur sehr oberflächlich in Berührung gekommen sind und eine Orientierung wünschen, worum es hier eigentlich geht. Diesen Anspruch zu erfüllen, ist deswegen nicht ganz einfach, weil die moderne Tierethik eine Vielzahl wichtiger und zum Teil sehr ausdifferenzierter Argumente hervorgebracht hat, die sich unmöglich noch im Rahmen einer solchen Einführung bändigen und bündeln lassen.

Die Tierethik teilt sich traditionell in zwei thematische Kernbereiche: (1) in theoretische Fragen nach moralischem Status, moralischen Rechten, Würde und Geist von Tieren, also Fragen danach, ob und, wenn ja, in wie weit wir es überhaupt mit moralisch relevanten Wesen zu tun haben, und (2) in anwendungsorientierte Fragen, was traditionell Tiere zu Nahrungszwecken sowie Tiere zu Wissenschaft- und Ausbildungszwecken betrifft, also Fragen danach, was wir mit Tieren tun und wie wir sie zu unseren Zwecken gebrauchen dürfen. Ein begrüßenswerter Trend ist dahingehend zu vernehmen, dass immer häufiger auch Tiere zu Unterhaltungszwecken ethisches wie öffentliches Thema werden, man denke an Zoos, Zirkusse, Wettkämpfe und, was selten beachtet wird, auch an Haustiere.

Es ist vermutlich offenkundig, dass der zweite Bereich, die anwendungsorientierten Fragen, den ersten zur Voraussetzung hat. Eine solche Einführung muss also über weite Strecken theoretisch sein, da sie eine Einführung in die Tierethik ist, die Ethik eine philosophische Disziplin ist und philosophische Disziplinen der Sache nach zunächst theoretisch sind. Argumente müssen entwickelt und begründet werden. Und hinter manchen Begründungen stehen ganze philosophische Traditionen. Das ist ein theoretischer Vorgang, der manchmal fraglos anstrengend ist. Doch ist dies ein Vorzug: Es zeigt wie ernst viele Tierethiker*innen ihre Sache nehmen und wie viel Mühe sie sich mit der Begründung ihrer Argumente geben. Das gilt es zu würdigen.

Die vorliegende Einführung versteht sich als systematisch oder, um diesen etwas unattraktiven Begriff nochmal zu gebrauchen: theoretisch. Sie möchte einen Überblick über die Moraltheorien geben, die sich in den vergangenen 50 Jahren der Tierethik angenommen haben. Diese Moraltheorien stehen vor allen anwendungsorientierten Fragen. Wenn wir zu den dringlichen Problemen unseres Umgangs mit Tieren fundiert Stellung beziehen wollen, und das sollten wir fraglos tun, dann müssen wir unsere Position begründen können. Begründen können wir sie aber nur, wenn uns eine Basis für diese Begründung zur Verfügung steht, eine theoretische und begriffliche Basis, damit unsere Argumente widerspruchsfrei und stabil werden. Hierfür eine Anleitung an die Hand zu geben, ist das Anliegen dieser Einführung.

Die Tierethik hat sich in den letzten Jahren im akademischen Betrieb etablieren können (vgl. Ferrati/Petrus 2015; Böhnert/Köchy/Wunsch 2016–2017; Grimm/Wild 2016). Gegenwärtig drängen nahezu im Wochentakt neue Arbeiten zu den verschiedensten tierethischen Fragestellungen auf den Markt. Hier einen Überblick zu behalten, ist kaum noch möglich.1 Daher verstehe ich dieses Buch als Vorschlag für ein grundsätzliches Raster tierethischer Positionen. Dieses Raster ist notwendig vorläufig, wiewohl ich glaube, dass es die Basis tierethischer Debatten gut darzustellen vermag. Zweifellos werden neue, originäre Positionen entwickelt werden, die eine Reformulierung dieses Rasters früher oder später erforderlich machen, doch für den Moment mag es als Orientierung dienen.

Das (zu begrüßende) Überangebot an tierethischen Beiträgen zwingt mich zu einer Begrenzung der hier vorzustellenden Argumentationen. Wiewohl meine Auswahl natürlich subjektiv bleibt, scheinen mir die vorgestellten Autor*innen eine sinnvolle Mixtur aus ‚klassischen‘ tierethischen Texten und solchen neueren Datums zu sein. Kenner der Materie werden trotzdem manche Autorin oder manchen Autor vermissen. Das lässt sich nicht vermeiden. Insofern bleibt die folgende Übersicht meine Auswahl, obgleich mir die Häufigkeit der Zitationen und manches Mal auch die Originalität der Argumente die Auswahl zu rechtfertigen scheint.

Ebenso fallen die Darstellungen unterschiedlich umfangreich aus. Manche Argumentationsstrategien benötigen eine ausführlichere Darstellung als andere, manche sind komplexer als andere, manche lassen sich auch nur einfach besser zusammenfassen. Hier spiegelt sich also keine eigene Bewertung dieser Positionen wieder.

Ich möchte in einem ersten Schritt aufzeigen, wie wir die Tierethik grundsätzlich strukturieren können. Anschließend gebe ich einen groben Überblick über die philosophischen Begriffe, die uns durch das Buch hindurch begleiten werden. Alsdann erfolgt der eigentliche Akt, die Darstellung der sich im Raster befindlichen Argumentationsstrategien. Ich habe mir dabei gestattet, jede dieser Strategien, die zugleich auch als allgemeine ethische Einführung in die jeweilige Moraltheorie gelesen werden können, an einen bestimmten Namen zu knüpfen. Damit ist nicht ausgesagt, dass nur diese Autorinnen oder diese Autoren eine solche Position vertreten. Ich versuche auf möglichst viele weitere zu verweisen, derer sich Leser*innen dann im Selbststudium annehmen können.

Was ich in diesem Buch nicht behandeln werde, sind historische und kulturelle Exkurse sowie theologische Positionen. Ebenfalls unerwähnt lasse ich naturalistische Argumente in der Tierethik, also Argumente, die unseren Tiergebrauch mit Verweis auf menschliche Kulturleistungen, ‚die Evolution‘, ‚Arterhaltung‘, ‚Nahrungsketten‘ oder das Verhalten von Tieren untereinander zu rechtfertigen versuchen. Diese Argumente laufen allesamt ins Leere und finden daher keine Berücksichtigung (vgl. Bode 2017).

_______________

1Einen sehr hilfreichen Versuch stellen allerdings die Buchbesprechungen der Zeitschrift TIERethik dar: www.tierethik.net (Zugriff: 17. 07. 2017). Ebenfalls empfehlenswert ist folgende Übersicht über tierethische Publikationen: http://www.tier-im-fokus.ch/info-material/literatur_und_links/tierrechte#zwischentitel_a06 (Zugriff: 17. 07. 2017).

2.Grundpositionen der Tierethik

2.1Positionen theoretischer Tierethiken

Mit den theoretischen Elementen der Tierethik sind jene gemeint, die für unseren tatsächlichen Umgang mit Tieren den systematischen theoretischen Unterbau ausformulieren. Sie befassen sich in der Hauptsache mit vier Fragen: Welche Dinge auf dieser Welt sind überhaupt moralisch von Belang? (→ Kap. 2.1.2, S. 20) Welche Eigenschaften muss ein Lebewesen aufweisen, um moralische Berücksichtigung zu verdienen? (→ Kap. 2.1.3, S. 22) In welcher Form kann die Aufnahme in die moralische Gemeinschaft vorgenommen werden? (→ Kap. 2.1.4, S. 23) Und schließlich: Wie lassen sich menschliche und tierliche Belange moralisch gewichten? (→ Kap. 2.1.5, S. 25)

Dies sind die Fragen, die diese Einführung prägen, an ihnen orientiere ich mich in der Folge. Die in Kap. 2.2, S. 27 vorgestellten Positionen praktischer Tierethiken befassen sich mit den konkreten gesetzlichen Handlungsanleitungen oder Handlungsforderungen, die aus einer Theorie folgen. Sie dienen in dieser Einführung aber zuvorderst der Vollständigkeit und werden nur vereinzelt wieder aufgegriffen. Praktische Aspekte werden insbesondere dann bedeutsam, wenn sich die Tierethik im Detail den Anwendungsfragen zuwendet (Massentierhaltung, Tierversuche, Tiere zu Forschungs- oder Unterhaltungszwecken etc.). Nicht jede Tierethik bietet allerdings ausgearbeitete Konsequenzen der eigenen Theorie an. Folglich kann und will diese Einführung in die Details der Praxis aber nur bei Bedarf eintauchen. Ihr Ziel ist vielmehr die systematische Entfaltung tierethischer Positionen und diese organisiert sich entlang der im Folgenden skizzierten vier Fragestellungen. Dort, wo sich theoretische Tierethiken indes deutlich zu praktischen Konsequenzen positionieren, lassen sie sich in aller Regel einer der vier praktischen Tierethiken zuordnen.

2.1.1Anthropologische Differenz

Aus tierethischer Sicht gab es einmal eine Zeit, in der die Mensch-Tier-Beziehung relativ einfach organisiert war. Dort herrschte, zumindest in westlichen Traditionen, lange die Überzeugung vor, es gäbe eine klare Grenze zwischen den Menschen (also uns) und den Tieren (den anderen). Begründet wurde diese Grenze mit dem Verweis auf bestimmte Eigenschaften bzw. Fähigkeiten, die der Mensch dem Tier voraushabe, und die eine asymmetrische moralische Hierarchie rechtfertigten, sprich: die den Menschen wertvoller machten als das Tier und damit die Nutzung von Tieren zu menschlichen Zwecken moralisch zulasse.

Die traditionellen Kandidaten für derart ausschlaggebende Eigenschaften bzw. Fähigkeiten waren für gewöhnlich Werkzeuggebrauch, Sprachvermögen, Selbstbewusstsein, die Fähigkeit zu moralischem Handeln und immer wieder die Rationalität. Insbesondere die Rationalität hatte (und hat womöglich immer noch) die größte Anhängerschaft.

Man spricht in diesem Zusammenhang von der sog. anthropologischen Differenz. Dieser Begriff bringt eben jene Annahme zum Ausdruck, dass es zum Wesen des Menschen gehöre, aufgrund des Besitzes spezieller Fähigkeiten oder Eigenschaften in einer grundsätzlichen Weise wertvoller zu sein als ein Tier. Die moralische Grenze zwischen Mensch und Tier ist in dieser Annahme absolut und Tiere seien, wenn überhaupt, nur indirekt zu schützen, etwa damit ihr Nutzen für den Menschen nicht Schaden nehme. Viele große Namen westlicher Philosophie haben in der einen oder anderen Weise eine solche anthropologische Differenz angenommen, etwa RENÉ DESCARTES (1596–1650), DAVID HUME (1711–1776) oder Immanuel Kant (1724–1804).

Der Kerngedanke der anthropologischen Differenz besagt also, dass es eine moralisch relevante Eigenschaft (oder Eigenschaftsgruppe) gibt, die allen, und zwar ausschließlich Menschen zukommt. Die US-amerikanische Philosophin Lori Gruen, eine der wichtigsten tierethischen Stimmen im englischsprachigen Raum, hat daraus zwei Implikationen destilliert. (1) Zum einen impliziert diese Annahme, dass auch tatsächlich kein nichtmenschliches Tier (also kein Lebewesen, das nicht zur Spezies Homo sapiens gehört) diese Eigenschaften ebenfalls aufweist. (2) Zum anderen impliziert diese Annahme, dass keinem Mitglied der Spezies Homo sapiens selbst diese Eigenschaften fehlt (vgl. Gruen 2011).

Es ist unschwer zu erkennen, wie attraktiv eine solche Position ist, will man die Mensch-Tier-Beziehung möglichst überschaubar gestalten. Im ‚besten‘ Fall wird damit jede tiefere Tierethik überflüssig. Doch spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts war es um diese Überschaubarkeit geschehen. Seitdem ist es kompliziert geworden, sehr kompliziert (vgl. Petrus 2013).

Plötzlich wurde eine moralisch relevante Vergleichbarkeit der eigentlich doch dem Menschen vorbehaltenen Eigenschaften mit denen der Tiere propagiert. Und damit standen auch die von Gruen skizzierten zwei Implikationen der Annahme einer anthropologischen Differenz in der Kritik, denn es wurde immer offensichtlicher, dass auch etliche Tiere über jene Eigenschaften bzw. Fähigkeiten verfügen, die man lange nur dem Menschen eigen wähnte. Die Verhaltensforschung konnte Verhaltensformen bei etlichen Tieren nachweisen, die denen der Menschen erstaunlich nahe kamen (manche sogar übertrafen), sei es der Werkzeugbau, die Kommunikation, das soziale Netz oder die Fähigkeit zu strategischen Verhaltensweisen.

 

Und auch die zweite Implikation wurde durch die Zulassung eines Vergleichens (und damit eines moralischen Abwägens) zwischen menschlichen und tierlichen Eigenschaften bzw. Fähigkeiten im Fundament erschüttert, denn gibt es nicht auch Menschen, denen die entsprechenden exklusiven Eigenschaften (etwa Selbstbewusstsein oder Vernunft) fehlen? Denken wir nur an Embryonen, Komapatienten, stark geistig behinderte oder schwer demente Menschen (die Ethik spricht mit Blick auf diese Gruppe von Menschen von den sogenannten nicht-paradigmatischen Fällen oder auch Grenzfällen). Müssten wir diese Menschen dann nicht ebenso moralisch ein-, also herabstufen, wie wir es mit den Tieren tun?

Es stand nun also eine sehr gewichtige ethische Frage in neuem Facettenreichtum im Raum: Gibt es nicht vielleicht doch gute Gründe für die moralische Berücksichtigung von Tieren, und wenn ja, welche sind das und auf welche Tiere treffen sie zu?

2.1.2Reichweite moralischer Relevanz

An dieser Stelle ist es sinnvoll, das Bild etwas weiter aufzuziehen und das bisher Gesagte in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Ich möchte die Leser*innen an dieser Stelle mit ein paar Begriffen vertraut machen, die ich in der Folge immer wieder gebrauchen werde und deren Klärung daher früh vorgenommen werden muss.

Der Tierethik, wie auch der Bio-, Umwelt- oder Naturethik (wie auch immer sie im ethischen Theoriespektrum untereinander eingeordnet werden) liegt die Frage zugrunde, ob und in welchem Umfang wir Dingen ‚der Natur‘ einen Wert zusprechen. Ich habe ‚die Natur‘ in einfache Anführungszeichen gesetzt, weil eigentlich nicht wirklich klar ist, was wir damit meinen. Zumeist wird der Begriff der Natur eher intuitiv gebraucht und sich darauf verlassen, dass jeder in etwa weiß, was gemeint ist.

Gemeinhin werden die Positionen in der Natur- oder Umwelt- und Tierethik nach ihrer Reichweite unterschieden, also nach der Frage, wie viel oder welche Objektgruppen der Natur wir moralisch berücksichtigen müssen.

Die radikalste Form wäre hier der Anthropozentrismus (gr. άνθρωπος, ánthropos, Mensch), der allein Menschen um ihrer selbst willen als moralisch wertvoll erachtet und die Gemeinschaft moralisch schützenswerter Wesen auf den Menschen beschränkt. Der deutsche Philosoph KLAUS PETER RIPPE hat den Vorschlag eingebracht, besser von Ratiozentrismus zu sprechen, was etwas präziser die alleinige moralische Relevanz vernünftiger Lebewesen zum Ausdruck bringen soll (vgl. Rippe 2008).

Eine etwas weiter gefasste und vermutlich die am häufigsten anzutreffende Form der Tierethik ist der Pathozentrismus (gr. πάθος, páthos, das Leid). Gelegentlich wird diese Position auch Sententismus (lat. sentire, empfinden, fühlen) genannt. Ihr zufolge besitzen nicht nur Menschen, sondern alle empfindungsfähigen Lebewesen, also Wesen, die leiden können – worunter auch viele Tiere fallen –, einen moralischen Wert, den es zu berücksichtigen gilt. Die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft moralisch zu berücksichtigender Entitäten hängt also von der Fähigkeit ab, leiden zu können.

Der Biozentrismus von (gr. βίος, bíos, Leben) geht noch einen Schritt weiter und spricht nicht nur empfindungsfähigen Lebewesen, sondern allem Lebendigen einen moralischen Eigenwert zu, was insbesondere die gesamte Pflanzenwelt miteinschließt. Die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft moralisch zu berücksichtigender Entitäten hängt in diesem Fall also von dem Umstand ab, lebendig zu sein.

Dem Anthropozentrismus bzw. Ratiozentrismus am anderen Ende des Spektrums gegenüber steht schließlich der Physiozentrismus. Dieser kann als individueller Physiozentrismus tatsächlich jedem einzelnen Gegenstand einen moralischen Eigenwert zusprechen, also belebter wie unbelebter Materie, womit alles Existierende ein Recht auf Fortbestand hätte. Oder er kann als Holismus (gr. ὅλος, holos, ganz) die umfassendste Position einnehmen und die Natur als Ganzes für moralisch wertvoll erachten.

Soweit so gut. Es muss an dieser Stelle nun allerdings eine wichtige Unterscheidung getroffen werden. Bisher habe ich die vier möglichen Objektgruppen benannt, denen wir moralische Berücksichtigung zukommen lassen können. Diese Objektgruppen zeichnen sich, erinnern wir uns an das im vorherigen Teilkapitel Gesagte, durch bestimmte Eigenschaften aus, als da wären: ein menschliches Lebewesen zu sein (Anthropozentrismus), ein leidensfähiges Lebewesen zu sein (Pathozentrismus), überhaupt ein Lebewesen zu sein (Biozentrismus) und allgemein existent zu sein (Physiozentrismus).

Solche natürlichen Eigenschaften sagen allerdings noch nichts über irgendeine moralische Relevanz aus. Oder genauer gesagt: Die alleinige Benennung der moralisch relevanten Objektgruppen sagt noch nichts darüber aus, warum wir diese Objektgruppen moralisch berücksichtigen sollten. Wenn ein Anthropozentrist also sagt, dass nur menschliche Lebewesen moralisch zu berücksichtigende Objekte darstellen, muss er sich die Frage gefallen lassen, warum dies so sei. Gleiches gilt auch für den Pathozentristen, den Biozentristen und den Physiozentristen.

Ethiker müssen an dieser Stelle Argumente vorlegen, die ihre moralisch schützenswerte Objektgruppe begründen. Was zeichnet den Menschen für den Anthropozentristen als moralisch relevant vor allen anderen Lebewesen aus? Was zeichnet leidensfähige Wesen für den Pathozentristen als moralisch relevant vor allen anderen Lebewesen aus, usw.?

2.1.3Moralisch relevante Eigenschaften

Jede Tierethik muss zunächst die eine Grundfrage klären, die verschieden gestellt werden kann: Gibt es überhaupt Gründe, Tiere in die Gesellschaft moralisch relevanter Wesen aufzunehmen? Haben wir Tieren gegenüber überhaupt moralische Verpflichtungen? Müssen wir ihre Belange, sofern sie denn welche haben, überhaupt moralisch berücksichtigen? Diese Frage kann mit Ja oder Nein beantwortet werden.

Wird sie mit Nein beantwortet, dann werden tierliche Belange als moralisch irrelevant eingestuft. In diesem Fall hätten wir lediglich indirekte Pflichten gegenüber Tieren, was bedeutet, dass wir Tiere als Sachen ansehen, die irgendjemandem gehören. Indirekt sind die Pflichten deswegen, weil etwa Tierquälerei dann kein moralisches Vergehen an den Tieren selbst wäre, sondern entweder am Besitzer des Tieres oder an uns selbst, weil unsere Grausamkeit gegen das Tier etwas über unseren eigenen Charakter verriete.

Beantworten wir die Frage indes mit Ja, erkennen wir tierliche Belange zunächst einmal grundsätzlich als moralisch relevant an. Doch welchen Grund könnten wir haben, diese Frage mit Ja zu beantworten? Wie kommen wir darauf, dass Tiere moralisch zu berücksichtigende Wesen sind?

Tierethiken beantworten diese Frage in der Hauptsache mit dem Verweis auf bestimmte moralisch relevante Eigenschaften, welche Tiere in einer dem Menschen hinreichend ähnlichen Ausprägung besitzen. Die Frage ist dann nur, welche Eigenschaften hier die ausschlaggebenden sind.

Die wohl auf häufigsten genannte Eigenschaft ist dabei die Empfindungs- bzw. Leidensfähigkeit. Fühlende Wesen, so die Annahme, verdienen grundsätzlich moralische Rücksichtnahme. Dabei darf allerdings nicht der Fehler begangen werden, die Fähigkeit, etwas empfinden zu können nur auf Schmerzempfinden zu reduzieren. Lebewesen können in vielfältiger Weise empfinden und leiden, auch ohne körperlichen Schmerz (vgl. Rollin 2008, 45). In diesem umfassenden Sinn gelte es folglich, alle Lebewesen, denen es besser oder schlechter gehen kann, moralische Rücksicht zukommen zu lassen.

Viele dieser Tierethiken begründen dies mit dem Hinweis darauf, dass empfindungsfähige Lebewesen ein Interesse am eigenen Überleben haben. Dieses Interesse muss keinesfalls ein bewusstes sein, aber, so die Überlegung, wir haben Grund zu der Annahme, dass empfindungsfähige Lebewesen sich selbst, wenn auch nur rudimentär, als existent ansehen.

Der Bereich moralisch relevanter Eigenschaften kann allerdings auch enger gefasst werden, indem zur reinen Empfindungsfähigkeit weitere hinzutreten. Konkret geht es um die Fähigkeiten des Selbstbewusstseins (Bewusstsein des eigenen Wohls) und Zeitbewusstseins (Erinnerungen und Wünsche). Die Idee dahinter ist, dass nur solche Lebewesen, die diese beiden Fähigkeiten zumindest in rudimentärer Form aufweisen, ein Interesse am eigenen Wohlbefinden ausprägen können. Lebewesen, die diese beiden Fähigkeiten nicht aufweisen, sind zwar immer noch empfindungsfähig, können aber kein Interesse am eigenen wohlbefindlichen Überleben haben, weil sie sich selbst nicht als existent erfahren. Dieser Bereich von Wesen wird in aller Regel mit dem Begriff der Person markiert. Eine derartige Tierethik würde allein Personen einen moralischen Status zuerkennen, eben weil sie über bestimmte (moralisch relevante) Eigenschaften verfügen, die andere Lebewesen nicht aufweisen. Ob es sich bei Personen ausschließlich um Menschen handelt, ist dabei noch völlig offen.

Tierethiken, die Tieren aufgrund bestimmter Eigenschaften oder Fähigkeiten einen moralischen Status zuerkennen, erkennen damit zeitgleich an, dass es notwendigerweise zu Konflikten zwischen tierlichen und menschlichen Belangen oder Interessen kommen kann, und müssen somit stabile Argumente für eine Lösung dieser Konflikte entwickeln. Moralkonzeptionen, die solche Konflikte nicht zulassen, werden entweder immer zugunsten der Menschen also anthropozentristisch argumentieren (was eigentlich immer der Fall ist) oder sie argumentieren immer zugunsten der Tiere (was eigentlich nie der Fall ist). Die große Mehrheit tierethischer Moralkonzeptionen aber lässt solche Konflikte zu und ist um entsprechende, unterschiedlich verbindliche Lösungen bemüht.

2.1.4Aufnahme in die moralische Gemeinschaft

Wenn Moraltheorien Konflikte zwischen menschlichen und tierlichen Belangen zulassen, dann deshalb, weil sie die prinzipielle Aufnahme bestimmter Tiere in die moralische Gemeinschaft befürworten. Im Wesentlichen nutzen diese Moraltheorien eine von zwei Begründungs-strategien, um diese Aufnahme zu begründen.

(1) Die eine Begründungsstrategie haben wir bereits kennengelernt. Sie versucht die zu Beginn erwähnte anthropologische Differenz durch das Zugeständnis zu überwinden, dass viele Tiere mit Blick auf die zur Debatte stehenden Fähigkeiten bzw. Eigenschaften (Empfindungsfähigkeit, Rationalität, Personalität usw.) dem Menschen hinreichend ähnlich genug sind, um in die Gruppe moralisch zu berücksichtigender Wesen mit aufgenommen zu werden. Statt trennender Merkmale werden nun Gemeinsamkeiten herausgestellt, und zwar in der Absicht, die Speziesgrenze als moralische Trennlinie zwischen Mensch und Tier zu überwinden. Die moralische Gemeinschaft soll folglich, so die Forderung, erweitert werden. Man spricht daher vom Extensionsmodell (vgl. McReynolds 2004).

Es ist also nicht mehr eine Gruppenzugehörigkeit ausschlaggebend für moralische Berücksichtigung (zum Beispiel die biologische Zugehörigkeit zur Spezies Homo sapiens), sondern die jeweiligen individuellen Eigenschaften bzw. Fähigkeiten. Und das bedeutet umgekehrt: Sobald zwei Wesen ungleiche moralische Berücksichtigung erfahren, muss dies auch mit Bezug auf die individuellen Eigenschaften dieser Wesen gerechtfertigt werden (vgl. Rachels 1990, 173). Das Extensionsmodell sagt allerdings noch nichts über die Bedeutung und die Konsequenzen einer solchen Erweiterung aus. Wie wir sehen werden, kann die Erweiterung der moralischen Gemeinschaft durchaus unterschiedlich aussehen, will sagen: unterschiedlich radikal sein. Das ist allein schon deswegen der Fall, weil das Extensionsmodell in jedem Fall eine moralische Begrenzung menschlichen Handelns impliziert.

Die Begründungsstrategie, wonach Wesen nicht mehr aufgrund bestimmter Gruppenzugehörigkeit, sondern aufgrund ihrer individuellen, für eine moralische Berücksichtigung relevanten Eigenschaften zusammengefasst werden, heißt moralischer Individualismus. Wie wir noch sehen werden, ist der moralische Individualismus die mit Abstand am häufigsten anzutreffende tierethische Moraltheorie. Das ist auch nicht überraschend, gestattet sie doch „einen leicht nachzuvollziehenden und übersichtlichen Zugang zu der Frage […], wie Tiere begründet in die moralische Gemeinschaft aufgenommen werden können“ (Grimm/Wild 2016, 52–53).

Tierethiker haben mit Blick auf den moralischen Individualismus also einiges zu tun: Sie müssen nicht nur klären, welche Eigenschaften warum moralisch relevant sein sollen – das sind ethische Fragen. Sie müssen auch angeben können, auf welche Tiere das eigentlich zutrifft – und das sind in erster Linie empirische Fragen. Hier ist also nicht nur philosophisches, sondern auch biologisches, psychologisches und wohl auch kognitionswissenschaftliches Wissen gefragt.