Die weise Schlange

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Die weise Schlange
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Petra Wagner

Die weise Schlange


„Die weise Schlange“ wird fortgesetzt durch den Roman „Der mondhelle Pfad“

Impressum

Umschlaggestaltung und Titelbild: Hauke Kock, Kiel

1. Auflage 2021

ISBN 978-3-95966-596-4

Lektorat: Anne-Cathrin Rost, Jena

Innenlayout: Verlag Rockstuhl, Bad Langensalza

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.


Inhaber: Harald Rockstuhl

Mitglied des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels e.V.

Lange Brüdergasse 12 in D-99947 Bad Langensalza/Thüringen

Telefon: 03603 / 81 22 46 Telefax: 03603 / 81 22 47

www.verlag-rockstuhl.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Initiation

Die Spur der Drachen

Glück im Unglück

Langsame und schnelle Gegner

Heimkehr ist die beste Umkehr

Die Quelle

Das Experiment

Zauber der Klänge

Wolfstochter – Hirschmutter

Elektra

Jäger und Gejagte

Der neue Geheimbund

Verschlafen

Beltane beginnt

Drei Dinge, die auf einem guten Markt nie fehlen: gute Ware, gute Unterhaltung, gutes Essen

Eier und Speck

Wo ein Wille, da ein Weg

Was – außer Geister – soll man in einem Geisterzug erwarten?

Freudenfeuer

Glücksbrot, Spiele, Sonnenschein

Wenn zwei sich streiten …

Tanz der Schwerter

Wenn der Schwan singt, lauscht der Löwe

Überrumpelt

Tränen der Angst

Gewissheit

Es gibt Wege, die will man nicht gehen, man muss

List und Taktik

Was braucht ein Späher mehr zum Leben? Mehr Glück als Verstand. Mehr Sinn als Verstand. Mehr Gegner ohne Verstand.

Wenn Drachen Netze spinnen

Das Gold der Berge

Schaukampf

Sieh nicht hin!

Guter Rat kommt oft auf alten Beinen

Falscher Verdacht

Rückkehr

Personenverzeichnis

Die Autorin

Initiation

Schlafend liegt das Land, bedeckt von dunkler Stille. Nur die Tiere der Nacht streifen umher, und so sind sie es, die den leisen Hauch vernehmen: „Brüder und Schwestern, ihr, freut euch und tanzt mit mir, nun endlich bin ich wieder hier.“

Und wie aus dem Nichts erhebt sich der Südwind. Er streift durch Gräser schwer von Reif, kreist um Borke glatt von Eis, küsst jede Knospe, zarte Blüte und schwingt sich weiter, höher, schneller über Wipfel, Berge, Klippen. Er hascht nach den Wellen und wirbelt zurück in die Auen, in die Wälder, ja, sogar in die Träume der Schlafenden.

Laut zerreißt ein Schrei die Stille, markerschütternd, gellend, wild; es ist nichts Menschliches, das kreischt:

„Wacht auf, ihr Schläfer! Hurtig, erwacht! Finsternis weicht, hebt ihre Decke aus tiefer Nacht! Dämmerung ahnt, wer hinsieht und wacht! Dunkel, Hell zu gleichen Teilen, den Anbruch heut besonders macht! Schaut gen Osten, staunt, gebt acht, Ostara, die Göttliche, erwacht! Einmalig jeder Augenblick und Herrlichkeit in reinster Pracht! Wacht auf, ihr Schläfer, und ehrt diesen Tag, Ostara gedacht!“

„Beim Geweih von Cernunnos, ich dreh dem Gallus den Hals um!“ Merdin ballte die Fäuste.

„Hm? Runter von meinem Haar, sonst hast du gleich einen verdrehten Hals.“ Viviane spähte durch die einen Spaltbreit geöffneten Lider. Um sie herum war alles finster, ihr Haar schien befreit, sofort kniff sie die Augen wieder zu. „Noch Zeit.“ Wohlig seufzend kuschelte sie sich tiefer in die weichen Bärenfelle.

„Ja, noch Zeit. Schlaf weiter, Vivian“, murmelte Merdin so leise wie möglich. „Und vergib mir, ich hab dein Haar unter meinem Arm nicht bemerkt.“ Doch seine weit aufgerissenen Augen sagten etwas vollkommen anderes als diese beruhigenden Worte.

Entsetzt starrte er auf Viviane hinab. Sehen konnte er sie nicht – es war noch zu dunkel im Raum – aber er wusste, sie lag genau unter ihm. Unter ihm! Wie war das passiert? Er konnte ihren warmen Atem an seinem Mund spüren. Und was noch schlimmer war: Er konnte auch ihre Arme und Beine fühlen, ihren Bauch und ihre weichen … bei allen Göttern, ihre Haut war so heiß! Sie glühte – nein, das war er, er brannte! Keine Panik.

Keine Panik.

Vorsichtig, ganz vorsichtig stemmte er sich auf die Zehen, auf die Fingerspitzen, spannte sämtliche Muskeln an … sachte, sehr sachte hievte er sich hoch, höher, weg von ihr. Oh nein, ihre Haut haftete an seiner, klebte fest, wollte einfach nicht abgehen. Lag das am Nussöl, mit dem sie sich gestern eingerieben hatten? So eine starke Haftung? Vielleicht in Kombination mit Schweiß? Nein, da klemmte irgendwas, fragte sich bloß … Oh, er steckte wirklich fest, genauer: Er steckte in der Klemme.

Diese Hitze an dieser Stelle, beim Geweih von Cernunnos, wieso merkte er das jetzt erst? Egal. Stillhalten. Nachdenken. Keine falsche Bewegung.

Wie war sie unter ihn gekommen? Nein, wie war er in sie gekommen? Schwachsinn. Er war nicht direkt in ihr. Jedenfalls nicht so tief. Das waren hoffentlich bloß ihre warmen, eingeölten Oberschenkel, die ihn festklemmten und ihm dieses Gefühl vermittelten. Eng und rutschig, so gut, so wunderbar. Nein, halt, das war gar nicht wunderbar, das war fatal. Er musste schleunigst nachdenken. Wie sollte er von ihr loskommen? Er hatte schließlich nicht um Erlaubnis gefragt und jetzt war eine ganz schlechte Zeit, um das nachzuholen. Wer wusste, wie Viviane reagieren würde, sie hatte viel Stolz in dieser Hinsicht. Obwohl, im Augenblick schien sie sehr zufrieden, geradezu glücklich. Er konnte es genau an ihrem Gesichtsausdruck sehen, langsam dämmerte es nämlich.

Oh weh. Er sollte sich in Sicherheit bringen …

Überaus sanft begann er, sich von Viviane zu lösen, den Blick fest auf ihre gesenkten Lider geheftet. Was würde sie von ihm denken, wenn sie jetzt die Augen aufschlüge? Er – einen Fingerbreit über ihr, lang ausgestreckt, mit gierigem Blick und dem mächtigen Drang, sich abwärts zu bewegen, statt aufwärts. Obwohl, aufwärts war auch nicht schlecht. Ihre Schenkel waren so schön glitschig. Also. Was machte er sich für Sorgen? Viviane schlief längst wieder tief und fest, sie stand eindeutig noch unter Drogen. Sie befand sich in der Trance, die in dieser besonderen Nacht herbeigeführt worden war – in voller Absicht, genau wie für ihn selbst. Kein Wunder, wenn er nicht gemerkt hatte, wie er auf sie gekommen war, und sie würde genauso wenig merken … Er könnte noch mal abwärts.

 

Nein.

Mit einem Ruck stand Merdin auf den Füßen und drehte sich weg. Sie sollte ihn nicht in dieser Verfassung zu Gesicht bekommen. Er wollte keine Fragen hören. Er wollte seine Stirn an die glatte Lehmwand drücken und tief durchatmen. Er wollte sich entspannen, überall.

„Beim Geweih von Cernunnos“, murmelte Viviane wenig später. „Ich rubble und rubble und bekomm die Augen einfach nicht auf.“ Schnaubend verschränkte sie die Arme unter der Brust und grummelte weiter: „Hm, was fühlt sich da so feucht … Iiiih, ist das schmierig! Wieso klebt das so? Muss an der Wärme hier drin liegen, oder an meinem Traum, oder an beidem. Ich bin mit einem Hirsch um die Wette gerannt, konnte prima mithalten und sogar überholen. Ich bin auch auf ihm geritten! Das scheint zwar überhaupt nicht logisch, aber was solls - echt beeindruckend, so eine Wanderung zwischen den Welten. Unglaubliche Reise. Bergkristalle als Tautropfen, bunte Edelsteine als Regenbogen, der Hirsch und ich vor dem Sonnengott höchstpersönlich; er hatte sogar ein Geschenk für uns. Weiter können die Sinne wohl nicht über sich hinauswachsen. Ah, jetzt endlich …“

Viviane riss die Augen auf. „Oh weh, vorher war es besser, mir schwirrt der Kopf.“ Träge, sehr träge schaute sie sich um.

Alles war wie am Abend zuvor, als sie mit geschlossenen Augen von ihrem Meister Akanthus in diese karge Hütte geführt worden war: Kein Licht, nur Finsternis mit einem Hauch von Violett, aber das reichte für ihre an die Dunkelheit gewöhnten Augen. Es gab ein winziges Fenster gen Westen, eines gen Süden, eines gen Osten und eine hüfthohe Tür gen Norden. Ansonsten nichts außer vielen weichen Bärenfellen auf dem Fußboden und an der Decke eine Öllampe.

„Ach.“ Viviane blinzelte. Merdin war ja auch noch da. Gestern, bei Tag betrachtet, hatte er allerdings besser ausgesehen. Mit dem Geradestehen hatte er noch keine Probleme gehabt. Oder?

„Tut dir was weh?“ Viviane legte sachte ihren Kopf schief, damit sie einen anderen Blickwinkel bekam. „Ich meine, ich sehe dich zwar nicht ausreichend, ist noch recht düster, aber hast du dir gestern im Kampf was gezerrt oder geprellt? Oder hast du dir gar was gebrochen?! Kriegst du gut Luft? Fühlt sich irgendetwas steif an?! Wird was dick?“ „Kaum der Rede wert.“ Merdin grinste die braune Lehmwand an und presste sich die Hände auf den Rücken. „Sind bloß Prellungen. Hab ein paar tiefe Faustschläge einstecken müssen. Unterer Rippenbogen hinten rechts. Genau hier.“ Er schob seine fünf langen Zöpfe zur Seite und deutete auf besagte Stelle.

„Wenn’s weiter nichts ist, ich guck mal nach. Dein Hals ist ja nicht lang genug.“ Schwerfällig rollte sich Viviane auf den Bauch.

Sie wollte gerade die Arme aufstützen, da machte Merdin eine wegwerfende Handbewegung und gluckste: „Du wälzt dich auch nicht gerade behände herum. Also lass sein, Vivian, und ruh dich aus. Ich kann warten, bis es richtig hell ist. Im Moment haben Veilchen Tarnfarbe und wir sollten lieber diese wunderbare Fußbodenheizung genießen. Vielleicht ist nachher alles wieder gut.“

„Mir recht.“ Schwer sackte Viviane in die Felle zurück und schaute mit verdrehtem Kopf zu, wie Merdin seine Muskeln bewegte. „Scheint alles heil geblieben, von meiner Warte aus“, rief sie ihm zu. „Ein paar Schwitzbäder und du fühlst dich bald wieder wohl. Prüfung bestanden. Deine Torques stehen dir gut zu Gesicht. Herzlichen Glückwunsch. Selbst deine Frisur sitzt immer noch perfekt. Weck mich, wenn die Hühnerbrühe fertig ist.“ Seufzend schloss Viviane die Augen und streckte alle Glieder von sich.

„Du hast übrigens recht“, murmelte sie nunmehr mit schwerer Zunge. „Diese Feuerstätte unter dem Boden ist dermaßen praktisch…“ Sie gähnte, bevor sie weitersprach: „Vom Prinzip her ist dieses mickrige Grubenhäuschen wie ein Backofen. Erst von außen anfeuern, dann die Ahnungslosen rein, Tür zu und warten, bis der Inhalt fertig ist. Eine Druiden-Krieger-Backwerkstatt sozusagen.“ Sie seufzte tief und ihre nächsten Worte wurden immer leiser: „Das Backwerk vorher natürlich gut durchkneten, damit … ein ordentlicher … Drachenkrieger draus …“

Merdin drehte sich zaghaft um. Sie war tatsächlich noch mal eingeschlafen.

Bestens.

Einen Moment kämpfte er mit dem Gedanken, sich wieder auf sie zu legen. Ihre Rückansicht war dermaßen verlockend … Noch ein rascher Blick auf das Fenster gen Osten, schon kniete er zu ihren Füßen. Ihre helle Haut schimmerte bläulich, so wie das Meer in seinem ständig wiederkehrenden Traum. Ihre sanften Rundungen waren wie die Wellen, anschmiegsam und warm, nur für ihn. Sie war sein, seine Vivian. Er würde es ihr sagen.

Und jetzt musste er sich beeilen, der Morgen war nah.

Das schmale Pergament im Fenster gen Osten wechselte von Nachtblau zu einem tiefen Dunkelblau.

Königsblau.

Kornblumenblau.

Trommeln begannen zu dröhnen wie Donner aus weiter Ferne.

Ein dumpfer Schlag, ein zweiter, dritter …

Schon krachten viele Schläge gegen die hüfthohe Tür. „Aufwachen, Initianten! Tagesanbruch! Frisch polierte Drachenschwerter harren eurer!“

„Meister Akanthus?!“ Merdin riss die Augen auf und starrte gegen die Dachbalken. Verwirrt drehte er den Kopf - er war tatsächlich eingeschlafen, auf Vivianes Hinterteil. Hastig sprang er hoch, warf einen Blick abwärts … Gerade hatte er sich wieder an die Wand geflüchtet, da stand sein Meister bereits neben ihm und feixte.

Akanthus‘ Lächeln wurde noch breiter, als er Viviane auf die Füße zog und ihr tief in die Augen schaute.

„Gut, schön stehen bleiben, Vivian, und lächeln. Heute ist schließlich dein großer Tag. Was sollen deine Drachenbrüder und -schwestern von dir denken, wenn du durchs Spalier torkelst wie eine Betrunkene?“

„Ich bin nicht betrunken, Akanthus, ich bin nur müde“, verbesserte Viviane und zog ihre fünf Zöpfe lang. „Ich kann prima gerade stehen, guck!“

Sie schaffte es tatsächlich – trotz wild schwankender Lehmhütte –, gerade zu stehen. Akanthus schien das sehr zu amüsieren. Viviane hob neckend den Finger und kam prompt wieder ins Wanken.

„Ja, lach nur, Akanthus! Sei froh, dass das Zeug aus der Öllampe verflogen ist, sonst würde ich mich bald über dich amüsieren. Obwohl, vielleicht ist noch ein winziges Tröpfchen …“ Den Blick hinauf zum obersten Deckenbalken hätte sie sich lieber sparen sollen, denn nun kippte sie vollends um.

Akanthus stand schon zum Auffangen parat.

„Immer mit der Ruhe, Töchterchen. Am besten konzentrierst du dich auf den Klang der Trommeln und deinen alten Meister, das hilft beim Austarieren von Körper und Geist. Ich hatte schließlich auch mal eine Initiation fürs Drachenschwert, wenn ich dich erinnern darf.“

Sorgsam prüfte er Vivianes Stehvermögen mittels Schulterklopfen, dann hob er lachend die Hände und fuhr sich – da sie artig stehen blieb – durch seine Löwenmähne. „Nun ja.“ Nachdenklich betrachtete er den Silberanteil im Kupferrot seiner langen Haare. „Das ist zwar schon eine ganze Weile her, aber ich kann mich noch bestens erinnern. Genauer gesagt, ich kann mich an meine Wanderung zwischen den Welten erinnern. Daran, was hier passierte …“

Er ließ seinen Blick von der Öllampe am Deckenbalken zu den Bärenfellen am Boden schweifen und klatschte in die Hände. „Gut, eure Zeit hier ist um und deshalb: Hurtig, hurtig, ab durch die Mitte, ihr beiden!“ Mit großer Geste deutet er auf die hüfthohe Tür.

„Ducken nicht vergessen.“

„Oh weh, ich sehe alles doppelt. Ich versuch es mal mittendurch“, seufzte Viviane und setzte sich schwankend in Bewegung. Merdin tappte stöhnend hinterher.

Wer von ihnen mehr Schräglage hatte, war schwer zu sagen, doch kaum hatte sich Viviane unter dem niedrigen Türstock hindurchgebückt, fühlte sie sich besser. Die Morgenluft war mild, viel wärmer als gestern, und sie roch einfach wunderbar nach sprießenden Knospen, Blüten, Gras, goldener Wärme, neuem Leben …

„Phänomenal.“ Genüsslich sog sie die Brise ein. „Jetzt habe ich schon zwanzig Lenze erlebt – zwanzig Mal Ostara, vier davon in Britannien, aber dieses fünfte hier … diese laue Luft, dieses üppige Grün und Blüten über Blüten auf weiter, weiter Flur!“ Bewundernd ließ Viviane ihren Blick schweifen.

Gestern hatte auf der gesamten Wiese bis hinter zum Waldrand noch eine dünne Schneedecke gelegen. Heute blühten massenweise Schneeglöckchen und Primeln zwischen zarten Gräsern, alles erstrahlte in Weiß, Gelb und Grün so weit das Auge reichte, darüber ein Himmel in prachtvollem Gold-Blau.

Dieser eine Tagesanbruch schien besonders und wie für sie gemacht. Er hatte nicht nur den Wandel in der Natur, sondern auch in ihrem Leben gebracht. Hier und heute hatte sie, Viviane, etwas erreicht, was sich nur wenige Menschen überhaupt zutrauten, und dieses Glücksgefühl durchströmte sie nun so stark, dass sie sich kaum bändigen konnte.

Jauchzend breitete sie die Arme aus, tänzelte auf Zehenspitzen einmal im Kreis und warf den Kopf zurück.

„Bei Ostara, wie herrlich! Schaut nur in diesen wunderbaren jungen Morgen! Azurblau mit Streifen aus Gold so zart …“

Unwillkürlich betastete sie ihren Hals, an dem seit gestern ihre beiden Torques in Form von goldenen Schlangen prangten, und lauschte in sich hinein. Ihr Herz klopfte ruhig, ihre Augen sahen wieder bestens, sie stand fest auf ihren Füßen.

„Ja, Vivian, dies alles hat der Südwind in einer Nacht geschafft.“ Merdin atmete tief ein, betastete ebenfalls seine Torques und ließ den Blick über Vivianes nackte Gestalt schweifen.

Am liebsten hätte er mit ihren fünf langen, rotbraunen Zöpfen gespielt, seine Wange an ihre geschmiegt … Stattdessen reckte er sich ausgiebig, schob sich ein wenig näher an sie heran und begnügte sich mit der guten Sicht über ihren Kopf hinweg.

So standen sie hintereinander, mit fast zwei Köpfen Höhenunterschied, die Hände an ihren goldenen Halsreifen, und schauten gen Osten in den klaren, beginnenden Morgen.

„Was der Südwind hierzulande alles vollbringen kann …“ Viviane nickte in stummer Ergriffenheit und tastete nach Merdins freier Hand.

Gemeinsam atmeten sie ein und aus, lauschten dem Säuseln des Windes, dem Dröhnen der Trommeln, dem Klopfen ihrer Herzen, hörten den Klang von wilder Sehnsucht.

Hier und jetzt würde der letzte Abschnitt ihrer Initiation beginnen, die wohlverdiente Aufnahmefeier. Wie auch immer diese vonstattengehen würde – das hatte ihnen niemand verraten wollen. Doch Geduld war ihre Stärke. Sie hatten fünfeinhalb Jahre Heilkunst-Ausbildung absolviert und nebenbei die Kunst des Kampfes erlernt. Sie hatten ihre Prüfungen in Chirurgie, Kräuterkunde, Wundheilung, Arzneiherstellung und all den wichtigen Handgriffen bestanden, die ein voll ausgebildeter Arzt können musste. Danach hatten sie mit allen Sinnen und leerem Magen gegen riesige Krieger in dunklen Wäldern gekämpft, ihre Torques feierlich angelegt bekommen und nun ganz offenbar eine Nacht im Drogenrausch hinter sich gebracht. Was immer jetzt noch auf sie zukam – sie waren bereit.

Das Lächeln rutschte ihnen zeitgleich aus dem Gesicht, als zwischen den Büschen am Ende der Wiese blaue Punkte auftauchten und einen Wimpernschlag später wieder verschwanden.

Hastig trat Merdin an Vivianes Seite, und sie kniffen beide die Augen zusammen, um den Waldrand besser ins Visier nehmen zu können.

Der Wald war von ihrem Standpunkt aus sehr weit weg, doch es gab keinen Zweifel: Dort im Unterholz, zwischen Bäumen und Sträuchern, sammelten sich nackte, blau bemalte Krieger. Drei, fünf, sieben … es wurden immer mehr … Männer, vielleicht auch Frauen, das war auf die Entfernung nicht erkennbar.

Unvermittelt schlugen die Trommeln schneller und eine breite, blaue Woge ergoss sich aus dem Wald. Viviane und Merdin rieben sich die Augen, blinzelten hektisch, doch das Bild blieb: Da tobte ihnen eine wilde Kriegerhorde entgegen. Je näher sie kam, umso deutlicher sahen sie die einzelnen Kämpfer: Männer, Frauen, nackt und blau bemalt von Kopf bis Fuß, mit aufgetürmten Haarmähnen, Halsreifen aus Gold, Gürteln mit Waffen, Speeren, Lanzen … unter lautem Kriegsgeheul erstürmten sie die Wiese.

 

Obwohl sie noch viel zu weit weg waren, wirbelten sie mitten im Lauf Steinschleudern über ihren Köpfen, rissen Pfeil und Bogen hoch, Speere, Blasrohre … Steine, Pfeile, Speere zischten durch die Luft, prasselten ins Gras, rammten sich ins Erdreich. Blasrohrpfeile spickten die Wiese vor ihnen wie mit Nadeln, doch diese weiß-blauen Wilden rannten einfach weiter, immer weiter, sprangen mit langen Sätzen über ihre eigenen Geschosse und johlten, brüllten, kreischten zum Donner der Trommeln – es war der schiere Wahnsinn. Merdin gähnte.

„Einfach grässlich, der ganze Tumult. Und wie die aufstampfen … bei mir vibriert schon der kleine Zeh. Wie steht es bei dir?“

„Krakeelende Drachenkrieger? Sehr fürchterlich. Ich mach mir gleich ins Röckchen.“

„Ins Röckchen?!“ Merdin prustete los und schielte an ihr hinab. Die dicke Ölschicht auf ihrer Haut, vermischt mit dem Schweiß der letzten Nacht, war die reinste Augenweide. Für ihn hätte sie auf ewig nackt bleiben können. „Ach, Vivian“, seufzte er übertrieben schwermütig. „Du hättest wenigstens ein kleines bisschen zucken können. Ich habe es wieder mal vermasselt. Hab aus purem Reflex nach meinen Schwertern gegriffen.“

„Ein komplett nackter Mann hat keine Schwerter.“

„Weiß ich doch, aber ich kann mir das einfach nicht abgewöhnen. Affekt ist Affekt.“

„Merdin, ich muss dich schelten. Erst nachdenken, dann handeln, hat uns Akanthus beigebracht, egal ob beim Kämpfen oder beim Heilen.“

Zum besseren Einprägen wedelte Viviane mit dem Finger und zwickte Merdin in die Nase. „Beim nächsten Mal verpasse ich dir keine Rüge mehr, dann quetsche ich dich gleich woanders. Lass es lieber nicht drauf ankommen.“ Feixend zupfte sie an der erstbesten kupferroten Haarflechte, die sie von ihm zu fassen bekam.

„Das sind Lehrmethoden …“ Lächelnd rieb sich Merdin die Nase und fragte: „Nun gut, Herrin der Reflexe, woran hast du so rasch erkannt, dass der Angriff nicht echt ist?“

„Weiß nicht genau.“ Viviane zuckte die Schultern und beobachtete die Krieger, die immer noch wie die Irren rannten und kreischten. Gerade machten sie sich bereit, einen neuen Geschosshagel in ihre Richtung zu schicken.

„Mein erster Gedanke war …“, rief sie laut in das aufkommende Zischen hinein, „…dass ich zwar niemanden erkenne, aber sie können sich noch so blau anmalen vom Scheitel bis zur Sohle und die Haare mit Ziegenfett steif halten – sie brüllen einfach nicht real genug. Da ist keine Angst, kein Zorn oder Hass herauszuhören, wie man bei einem echten Angriff erwarten dürfte, sondern vielmehr Jux und Übermut. Wahrscheinlich haben sie deshalb einen langen Anlaufweg gewählt, statt sich zuerst näher heranzuschleichen. Ohne Schild ist ein Langstreckenrennen ja auch viel leichter, wenn man sowieso keinen Schutz braucht.“

Viviane nickte in Richtung einer jungen, sehr hochgewachsenen Kriegerin, die an der rechten Flanke allen voran stürmte. Stattlicher Wuchs, üppige Brüste und drei blaue Spiralen im Gesicht waren ihre hervorstechendsten Merkmale, doch mit jedem ihrer ausgreifenden Sprünge in Vivianes und Merdins Richtung gab es mehr von ihr zu sehen.

Ihre langen blonden Haare waren zu einer mächtigen Löwenmähne verzottelt, die sie noch viel größer und wilder erscheinen ließ, als sie sowieso schon war. Auf Brust und Bauch prangte ein riesiger blauer Drache mit scharfen Zähnen und Augen von derart stechendem Blick, dass der Drache zu fliegen schien, als die Kriegerin mitten im Sprung ein ellenlanges Rohr um ihre Finger wirbelte. Der Anblick brachte Viviane zum Schmunzeln.

„Uathach krakeelt immer am lautesten, rennt immer am schnellsten und treibt immer Unfug mit ihrer Speerschleuder.“

„Ganz recht, deine Freundin bringt ihre Speerschleuder mal wieder zum Rotieren. Hatte früher bestimmt keinen Kreisel zum Spielen.“

„Ja, die alten Krieger-Clans hierzulande, müssen immer protzen.“

„Die von der Nebelinsel sind am schlimmsten, kann ich dir versichern.“

Darauf erwiderte Viviane nichts, denn ihre Aufmerksamkeit galt noch immer der blonden Kriegerin. „Oh je, sie wird doch nicht …! Jetzt ist ihr eingefallen, dass sie am weitesten werfen kann! Achtung! Tieffliegender Drache von rechts!“ Mit aufgerissenen Augen verfolgte Viviane, wie Uathach mitten im Rennen ihre Speerschleuder über dem Kopf austarierte. Als sie zum Wurf ansetzte, sah es fast gemächlich aus, doch ihr Speer schoss mit einer solchen Wucht von der Laufschiene weg, dass Viviane tatsächlich glaubte, zwischen zwei Trommelschlägen das typische Zischen zu hören. Ihre Augen folgten der Flugbahn des Speeres, der flog und flog wie von unsichtbarer Hand getragen.

Einschlag zwanzig Schritt rechts vor ihr? Ein Katzensprung!

Jauchzend riss Viviane das Geschoss an sich und rannte auf Ausgangsposition zurück.

Doch Merdin war nicht mehr da, wo er soeben noch gestanden hatte.

Leichtfüßig trabte er ein Stück weit über die Wiese, wo mittlerweile die anderen Wurfgeschosse eingeschlagen waren, und begutachtete die Auswahl. Er schlenderte hierhin, schlenderte dahin, zog einen Pfeil heraus, einen Speer, warf beides wieder weg …

„Holla, du träge weise Schlange! Hurtig, hurtig, wappne dich! Bald sind sie da!“

„Nur keine Hektik, ich will einen schönen Spicker!“

„Wie ein Feinschmecker auf Pilzsuche.“ Grinsend stützte sich Viviane auf ihren erbeuteten Speer und genoss das Spektakel.

Die anstürmende blaue Horde hatte kurz innegehalten, um den Einschlag ihre Geschosse besser zu verfolgen. Nun begannen sie wieder zu rennen. Wie auf Kommando fächerten sie sich zu einer breiten, sichelförmigen Angriffsformation auseinander und ihre äußeren Läufer steigerten sich zu enormer Geschwindigkeit. Manch einer hielt noch Axt oder Messer zum Wurf bereit, als sie wild durcheinander brüllten: „Merdin, ich krieg dich! Ich verpass dir Stummel statt Zöpfe!“ „Von wegen, ich krieg die Haare! Pass auf, gleich kommt meine Axt!“ „Weg da, ich hack ihm zuerst was ab!“ Sie hörten sich ziemlich begeistert an.

Viviane hätte sich krümmen können vor Lachen, wollte aber ihre gemütliche Stellung ‚Kinn auf Hand auf Speer‘ nicht aufgeben.

Merdin geriet nun doch in Eile. Hastig zerrte er zwei Speere aus der Wiese und huschte im Zickzack zu ihr zurück.

„Ein Hase mit Flatterzöpfchen, wie niedlich“, gähnte sie und legte das Kinn wieder auf Ruheposition. „Bin mal gespannt, was als Nächstes passiert.“

„Vivian, gib acht!“ Merdin raste an ihre Seite und schlug seine Speere gegeneinander.

„Die wollen uns in die Zange nehmen! Gerade eben hattest du es noch eilig!“

Viviane gähnte noch ausgiebiger und schaute ihn aus trüben Augen an. „Gib Ruhe, ich amüsiere mich gerade.“

Weil Merdin prompt tat, wie ihm geheißen, musste sie lachen.

„Wollte dich bloß ein bisschen foppen“, gluckste sie und deutete beschwingt gen Wiese.

„So viele gegen uns zwei? Diese Irren werden sich gegenseitig in die Zange nehmen, weil jeder der Erste sein will!“ Demonstrativ machte sie es sich wieder auf ihrem Speer gemütlich. „Weck mich, falls noch ein paar für mich übrig bleiben.“

„Oh.“ Merdin starrte ein wenig traurig auf die wilde Horde. „Dabei hab ich so schöne Spicker parat.“ Schmollend stellte er seine Speere ebenfalls auf Schlafposition.

„Kinder, nehmt Haltung an. Was sollen eure Brüder und Schwestern denken, wenn sie für euch Spalier stehen?“

„Spalier?!“ Viviane und Merdin standen sofort gerade und rissen die Köpfe herum. Sie hatten Akanthus vergessen.

Ihr Meister stand hinter ihnen und schien sich köstlich zu amüsieren.

„Ja, sie bilden zwei Reihen. Eine rechts und eine links von euch. Sofern ihr endlich aufhört, auf der Stelle zu schwanken, denn sonst kann ich für eure niedlichen Flatterzöpfchen nicht garantieren.“ Die Lachfalten um seine blauen Augen wurden tiefer. Mit einem Handwedeln wies er sie an, wieder nach vorne zu blicken.

Viviane und Merdin reagierten prompt und japsten vor Schreck. In Pfeilformation rasten ihnen diese Irren nun entgegen und sprengten rechts, links, rechts, links an ihnen vorbei, als hätten sie das tagelang geprobt. Trotz ihres Schwungs wendeten sie fast auf dem Fuß. In Windeseile standen zwei Reihen Krieger parat: Männer und Frauen, alte, junge; nackt, blau und bis an die Zähne bewaffnet. Sie atmeten heftig und grinsten zufrieden beim Anblick der beiden völlig verblüfften Initianten und Akanthus, der hinter deren Rücken feixte und beide Daumen hochhielt.

Nachdem sich ihr Atemrhythmus sehr rasch beruhigt hatte, zogen beide Seiten wie ein Mann die Langschwerter aus den Scheiden und streckten sie auf Brusthöhe von sich, bis sich die Spitzen fast berührten. Abrupt wurden ihre Mienen ernst.

Ein paar Schritte trennten die beiden Seiten voneinander, überbrückt mit dem besten Metall, was es überhaupt gab: Eisen, nicht von dieser Welt. Meteoreisen. Völlig synchron rissen die Krieger ihre Langschwerter nun hoch und zogen noch einmal blank. Diesmal streckten sie mit dem anderen Arm die Kurzschwerter auf Brusthöhe. Der Raum zwischen beiden Seiten schien wie eine ewig lange Kluft, erfüllt von einem fernen Singen, das von Liedern vieler Schlachten kündete – alten und neuen, die erst noch kommen würden. Doch dieser Eindruck währte nur einen Atemzug lang.

Mit einem lauten Aufstampfen rückten die Krieger vor und hoben die Kurzschwerter den Langschwertern entgegen, bis sie knapp unter diesen lagen wie ein Balken unter dem Dach. Und obwohl die Trommeln weiter schlugen, kehrte nun eine Ruhe ein, die nach dem schrillen Kriegsgeheul fast in den Ohren dröhnte.

Viviane war mit einem Schlag hellwach.

Die Stille lastete auf ihren Augen, ihren Ohren, ihren Händen, ja auf ihrem gesamten Körper, als würden alle Krieger auf ihren Schultern stehen; samt Schwertern wogen sie so viel wie ein ganzes Haus bedeckt mit Meteoreisen.

Strahlend fasste sie Merdins Hand und drehte sich nach Akanthus um. Er nickte und Vivianes Füße setzten sich wie von selbst in Bewegung.

Als Viviane dem ersten Paar im Spalier entgegentrat, stiegen ihr vor Rührung Tränen in die Augen; sie verharrte unwillkürlich.

Uathach lächelte ihr aufmunternd zu. Die ersten richtigen Sonnenstrahlen trafen ihre Schwerter, spiegelten sich auf den nächsten Klingen und sprangen weiter, immer weiter, bis die gesamte Strecke reflektierte. Es war, als höben Uathach und ihr Gegenüber ein gleißendes Prisma gen Himmel, ein Symbol aus Licht.

Viviane blinzelte die Tränen weg und strahlte ihre Freundin an. Dann richtete sie den Blick gerade aus und machte den ersten Schritt, Seite an Seite mit Merdin. Beide hielten sie die Häupter stolz erhoben, genau wie Akanthus dicht hinter ihnen. Ja, auch er hatte allen Grund dazu.

Seine Schlangentorques glänzten an seinem Hals, sein weißes Gewand umschmeichelte seine bloßen Füße und der Südwind erzählte jedem, der es hören wollte: Akanthus war der Sohn eines Königs, der oberste Lehrmeister beim Studium der Medizin und Anführer der Drachenkrieger. Es war eine Ehre für Viviane und Merdin, vor ihm zu gehen, über ihnen alles zerschlagende Schwerter und neben ihnen weiß-blaue Mauern aus Körper und Geist.