Im Licht der Horen

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Aus der Reihe: Im Licht der Horen #1
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Im Licht der Horen
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Inhalt

1  Cover

2  Titel

3  PROLOG

4  1. Kapitel

5  2. Kapitel

6  3. Kapitel

7  4. Kapitel

8  5. Kapitel

9  6. Kapitel

10  7. Kapitel

11  8. Kapitel

12  9. Kapitel

13  10. Kapitel

14  11. Kapitel

15  12. Kapitel

16  13. Kapitel

17  14. Kapitel

18  15. Kapitel

19  16. Kapitel

20  17. Kapitel

21  18. Kapitel

22  19. Kapitel

23  20. Kapitel

24  21. Kapitel

25  22. Kapitel

26  EPILOG

Petra E. Jörns

Im Licht der Horen

Auge – Erstes Licht


Space Opera

Jörns, Petra E.: Im Licht der Horen. Auge – Erstes Licht. Hamburg, Plan9 Verlag 2020

1. Auflage 2020

ISBN: 978-3-948700-03-4

Dieses Buch ist auch als eBook erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

ePub-eBook: 978-3-948700-07-2

Lektorat: global:epropaganda Michael Haitel

Korrektorat: Aileen Hiecke

Satz: 3w+p GmbH, Rimpar

Umschlaggestaltung: Christl Glatz, © Agentur Guter Punkt, München

Umschlagmotiv: © Sylphe_7/GettyImages, Bildnummer: 538337660 (Raumschiff)

© vjanez/GettyImages, Bildnummer: 619672888 (Planet)

© dottedhippo/GettyImages, Bildnummer: 911448766 (Metorit

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Der Plan9 Verlag ist ein Imprint der Bedey Media GmbH,

Hermannstal 119k, 22119 Hamburg und Mitglied der Verlags-WG:

https://www.verlags-wg.de

© Plan9 Verlag, Hamburg 2020

Alle Rechte vorbehalten.

https://www.plan9-verlag.de Gedruckt in Deutschland

PROLOG

Ein heller Punkt zog seine Bahn zwischen den Sternen. Während sie ihm mit dem Blick folgte, wechselte die Perspektive. Persephone tauchte im Hintergrund auf, eine blaue Kugel mit hellen Wolkenbändern vor der Schwärze des Alls. Der helle Punkt bewegte sich von ihr fort, auf eine Stelle in der Umlaufbahn zu, wurde größer und größer und entpuppte sich als Raumfähre der Kolonialen Flotte – und zerplatzte vor ihren Augen in einer Garbe aus gleißenden Funken!

Dee schreckte hoch. Ihr Herz raste, kalter Schweiß stand auf ihrer Stirn. Einige Augenblicke blieb sie einfach so sitzen, damit beschäftigt, sich in dem fremden Zimmer zurechtzufinden. Bis sie sich erinnerte.

Sie hatte in der kleinen Pension von Mistress Kiriakidis eingecheckt. Weil sie die Leere in ihrer Wohnung nicht ertragen konnte, die in der City von New Haven durch die bodentiefen Fenster auf die Glaspaläste der Umgebung starrte. Einer Wohnung, die noch leerer war, seit sie sie allein bewohnte.

Langsam stand sie auf. Der Holzboden unter ihren nackten Füßen war rau. Sie ging zu der doppelflügeligen Tür, die auf einen winzigen Balkon führte. Sie öffnete die Türflügel, trat hinaus und hob den Blick zum Himmel. Der Wind, der vom Meer her blies, fing sich in ihren Haaren und brachte einen Hauch von Kühle.

Endlich fand sie den Punkt zwischen den Sternen, der die CFF Nyx markierte. Das erste Schiff einer neuen Serie, das die Jäger der Erde vom Himmel fegen würde.

Morgen. Morgen würde sie an Bord gehen, um dort ihren Dienst als Chefingenieurin und Zweiter Offizier anzutreten. Ein Anflug von Stolz erfüllte sie. Hunderte hatten sich für die Stelle beworben, doch sie war ausgewählt worden. Nicht ohne guten Grund, da sie an der Entwicklung der neuen Gelmatrix mitgearbeitet hatte.

War es nicht Ironie, dass Paul indirekt seinen Anteil daran trug? Paul, der Sternenpilot, der ihr vorgegaukelt hatte, eine Familie gründen zu wollen, um sie so von Bord der CFF Achilles nach New Haven in die Forschungslabore zu locken – nur damit er bei der Admiralität Karriere machen konnte. Ein Pilot, der Akten schleppte! Lachhaft. Und sie war darauf reingefallen, hatte alles für ihn und den Kleinmädchentraum von einer heilen Welt aufgegeben. Einen Traum, der nie wahr geworden war, mit diesem Mann nicht wahr werden konnte, da der der Falsche war.

Und doch stand sie nur seinetwegen jetzt an dem vielleicht bedeutendsten Punkt ihres Lebens. Verrückt.

Ihr Blick glitt vom Himmel auf die Bucht, wo die Wellen unablässig an den weißen Strand rauschten. Wegen dieser Aussicht war sie hier, in ihrer letzten Nacht auf Persephone. Das war die Aussicht, an die sie sich in der Enge des Schiffes erinnern wollte, die künftig ihre Heimat sein würde. Und nicht an die glitzernden Glaspaläste und die Leere der ehemals gemeinsamen Wohnung in der City.

Hier. Hier wollte sie hingehören. Dort war nie ihr Zuhause gewesen.

Und morgen, ab morgen würde die Nyx ihr Zuhause sein.

Ihr Blick fand wieder den hellen Punkt zwischen den Sternen. Eine Fähre. Die vor Persephone zerplatzte. Ihre Fähre?

Sie fröstelte, und es war nicht nur der Nachtwind. Nein, sie war keine Seherin. Nur eine minderklassifizierte Maschinenversteherin, gerade genug, um sich einen Ruf als besonders begabte Ingenieurin zu erwerben. Mehr nicht.

Nein, wäre sie imstande gewesen, die Zukunft vorauszusehen, dann hätte sie auch Pauls Betrug sehen können.

Ein Albtraum also.

Mit einem letzten Blick zurück auf das Meer ging sie wieder zu Bett. Und obwohl sie dachte, nicht einschlafen zu können, tat sie es doch.

1. Kapitel

Das Pad neben ihrem Bett weckte sie viel zu früh. Sie setzte sich auf und rieb sich die Augen.

Heute war der große Tag.

Vorfreude und ein Hauch von Nervosität erfasste sie. Wie lange war sie nicht mehr an Bord eines Schiffes gewesen? Sechs Jahre? Ganz automatisch ging sie die Rangabzeichen noch einmal durch, rief sich die Namen der Personen in Erinnerung, die mit ihr gemeinsam auf der Nyx dienen würden.

Captain Coulthard, Commander De Sutton, Doktor Tipton, Lieutenant Hawk, Lieutenant Watanabe, Junior Lieutenant Nayiga.

Und ihre Leute, die Crew im Maschinenraum: Chief Petty Officer Riley, Petty Officer Peres ...

Aufhören! Sie machte sich damit nur nervös.

Um sich zu beschäftigen, duschte sie, putzte sich die Zähne und ging zu ihrem Koffer. Die dunkelgraue Uniform nach all den Jahren wieder anzuziehen, jagte einen Schauer über ihren Rücken. Nun, da sie wieder Dienst auf einem Kriegsschiff haben würde, durfte sie sie wieder tragen. Mit Stolz. Sie war keine Angestellte im Forschungslabor mehr. Sie gehörte wieder dazu. Zu jenen Männern und Frauen, die tagtäglich im seit Jahrhunderten währenden Krieg gegen die Erdregierung ihr Leben für die Kolonien riskierten. Zu denen die Bürger der Kolonien zu Recht mit Stolz aufsahen.

Die Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, war ihr fremd. Sie studierte ihr Gesicht, die dunklen, glänzenden Haare, die es umrahmten, die blauen Augen, die wach und neugierig wirkten. Nicht wirklich hübsch, aber auch nicht unattraktiv. Zu wenig Brust; die Uniform betonte den Mangel noch. Paul konnte sich darüber nicht mehr beschweren.

Sie packte ihre Sachen zusammen, schloss den Hartschalenkoffer und trat ein letztes Mal auf den kleinen Balkon hinaus, berauschte sich noch einmal am Anblick des Blaus und der Weite.

Weshalb verkaufte sie die Wohnung in der City eigentlich nicht, um sich hier etwas zu suchen?

 

Wenn sie zurückkehrte, würde sie sich darum kümmern. Jetzt war die Zeit, einen neuen Anfang zu wagen.

Als sie die knarrende Holztreppe hinunterging, näherte sich das Geräusch klappernder Absätze. Dee unterdrückte ein Seufzen.

»Aah, Mistress MacNiall! Einen wunderbaren guten Morgen!« Im Morgenlicht, das durch die bunten Scheiben des Eingangsbereichs gefärbt wurde, kam ihr Mistress Kiriakidis entgegen. Graue Strähnen wanden sich durch die pechschwarzen Haare, die sich in einer Hochsteckfrisur auf ihrem Kopf türmten. Sie trug ein billiges geblümtes Kleid, das die Hälfte ihrer trotz des Alters immer noch schlanken Oberschenkel freiließ, und dazu viel zu hochhackige Pantoletten, die in Dee die Angst weckten, sie könne sich bei jedem Schritt den Knöchel brechen.

»Haben Sie gut geschlafen?« Sie lächelte und entblößte dabei eine Reihe ebenmäßiger Zähne, die eine Spur zu weiß waren.

»Ich möchte bezahlen.« Dee reichte ihr die Magnetkarte ihres Zimmers.

Die Magnetkarte wie eine Trophäe in die Höhe gehalten, klackerte Mistress Kiriakidis Richtung Theke.

»Es war wieder in den Nachrichten, dass ein Botschafter der Erdregierung hier ist. Hier. Auf Persephone! Ein Botschafter der Erde!« Mistress Kiriakidis schüttelte den Kopf. »Glauben die wirklich, wir könnten so einfach Frieden schließen? Nach ... wie lange dauert jetzt schon dieser unselige Krieg?«

Zweihundertelf Jahre. Eigentlich wollte Dee nur die Magnetkarte für das Zimmer abgeben und die Rechnung begleichen.

»Was denken die sich eigentlich? Nichts, möchte ich wetten. Erst schicken sie uns ihre Mutanten, um uns kleinzukriegen. Und dann schießen sie auf uns, weil wir diese Leute angeblich beschützen. Dabei wären wir selber froh, sie wieder loszuwerden. Wenn Sie mich fragen, ist dieses ganze Gerede vom Frieden doch auch nur wieder eine Masche, um uns reinzulegen. Damit wir uns in Sicherheit wiegen, während sie in Ruhe den nächsten Angriff planen.«

Mistress Kiriakidis hatte die Theke erreicht und begann Zahlen in den Geldkartenautomaten einzugeben. »So ist es doch, oder nicht?«

Wortlos reichte Dee ihr ihre Geldkarte.

»Was sagen Sie dazu?«, tönte Mistress Kiriakidis, während sie die Karte in den Schlitz des Automaten steckte. »Sie sind doch bei der Flotte. Sie müssen doch wissen, was die vorhaben.«

Fast hätte Dee gelacht. Das wünschte sie sich selber – zu wissen, was der Senat plante. Aber wer wusste das schon?

»Es geht um ein Waffenstillstandsabkommen. Und ich wette, dass die Erde als Preis die Auslieferung aller hoch eingestuften Mutanten verlangt.«

»Dann sollte der Senat zustimmen. Das würde viele Probleme beseitigen. Wenn Sie mich fragen.«

Dee dankte Gott im Stillen dafür, dass Mistress Kiriakidis nicht gefragt wurde. Auch wenn sie selber schon einige Male diesen Gedanken gehabt hatte. Sie war nur ein unbedeutender Klasse-fünf-Mutant. Ihre Auslieferung würde die Erdregierung bestimmt nicht verlangen. Hoffte sie. Mit Bestimmtheit aber die von etwa hundert Mutanten der Klasse eins und zwei.

Der Gedanke, auf sie zu verzichten, war verführerisch. Ohne sie wäre es sicherer in den Kolonien. Nur hieße das, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Und das gehörte sich nicht. Und es bedeutete auch, dass es niemanden mehr geben würde, der Schiffe mit der neuen Gelmatrix fliegen und warten konnte. Und das war fast noch wichtiger. Nur würden Menschen wie Mistress Kiriakidis das alles nie verstehen.

Dee seufzte. »So einfach ist das nicht. Was, wenn die Erdregierung sie tötet? Glauben Sie, die Untergrundbewegung ließe das so einfach zu?«

Das war das einzige Argument, das Mistress Kiriakidis vielleicht überzeugen konnte. Vor der Untergrundbewegung der Mutanten hatten alle Angst.

Mistress Kiriakidis zuckte mit den Schultern und zog die Karte wieder aus dem Schlitz. »Eben. Ausliefern. Alle miteinander. Soll die Erdregierung sich doch mit ihnen herumschlagen.« Mit einem Lächeln reichte sie Dee die Karte zurück. »Einen guten Flug wünsche ich Ihnen.«

Dankbar darüber, dem Wortschwall der Frau endlich entkommen zu können, steckte Dee die Karte ein und nahm ihren Koffer. »Auf Wiedersehen«, sagte sie im Gehen.

Doch Mistress Kiriakidis klapperte bereits wieder Richtung Speisezimmer.

So groß hatte sie den Raumhafen gar nicht in Erinnerung. Sie frühstückte in der Kantine, zwischen all den fremden Männern und Frauen in Uniform, mit Blick auf das Startfeld mit den Raumfähren. Folgte mit ihrem Blick den silbernen Gebilden, die im Blau des Himmels verschwanden.

Mit einem Frösteln erinnerte sie sich an den Traum der letzten Nacht. Sie nahm einen Schluck Kaffee, ließ den Becher stehen und griff nach dem Koffer, um sich auf den Weg zu machen, bevor aus dem mulmigen Gefühl mehr werden konnte.

Noch eine Viertelstunde. Sie hatte gedacht, dass es kein Problem sein konnte, die Fähre in dieser Zeit zu finden. Doch die Zahlen der vielen Gates brachten sie durcheinander, sodass sie am Ende doch in Eile geriet. Völlig außer Atem kam sie zwei Minuten zu spät am Gateway an.

Ein junger Mann erwartete sie. Groß, breitschultrig, braun gebrannt und gut aussehend, das Klischee eines Piloten. Er lächelte sie breit an, während er pflichtschuldig, wenn auch ein wenig nachlässig salutierte. »Lieutenant Hawk, zu Ihren Diensten, Ma’m!«

Ma’m. Dee schauderte bei der Anrede. »Verzeihen Sie die Verspätung. Ich habe mich verlaufen.«

Er lachte und griff nach ihrem Koffer. »Das passiert allen hier, Ma’m.« Aus der Nähe wirkte er indianischer, als das Bild in seiner Akte es hatte vermuten lassen. »Folgen Sie mir.« Ganz selbstverständlich, als wäre er hier zu Hause, ging er voraus.

Dees Blick irrte durch die Fenster des Gateways auf die Fähre. Ihre Hände wurden feucht.

Nur ein Albtraum. Es war nur ein Albtraum. Mehr nicht.

»Hier entlang. Alles in Ordnung, Ma’m?«

Sie zuckte zusammen. »Ja, ja.« Einen Herzschlag lang starrte sie ihn verwirrt an, ehe sie ihm endlich ins Innere der Fähre folgte und sich auf den Sitz setzte, den er ihr zuwies.

Elegant ließ Hawk sich danach vor ihr in den Pilotensessel gleiten. Seine Finger betätigten verschiedene Schalter und die Luke schloss sich mit einem Zischen. Dann konnte Dee das statische Rauschen hören, das aus dem Komm drang. Ihre Finger verknoteten sich.

»Schließen Sie den Gurt, Ma’m«, sagte er, bevor er eine Anfrage aus dem Komm beantwortete.

Sie gehorchte, ertappte sich dabei, dass ihre Hände zitterten, und verschränkte sie wieder ineinander. Sie waren eiskalt.

Raus hier! Raus, solange noch Zeit war!

Wie in Watte gepackt, lauschte sie dem Gespräch zwischen dem Lieutenant und der Flugüberwachung. Es war, als würde sie einem Dialog in einer fremden Sprache folgen, so wenig verstand sie. Die Worte ergaben einfach keinen Sinn, bis Hawk sagte: »Bestätige: Starterlaubnis erteilt.« An Dee gewandt setzte er hinzu: »Wir starten, Ma’m!«

Ihr war, als habe Hawk damit ihr Todesurteil gesprochen. Aber bevor sie etwas erwidern konnte, zeigte ihr das leichte Heben ihres Magens, dass die Fähre bereits abgehoben hatte.

Das Blau des Himmels wich der Schwärze des Alls. Langsam, kaum merklich, bis es nicht mehr zu leugnen war. Hinter ihnen fiel der blaue Ball Persephone zurück.

Dee fühlte, wie Hawk die Fähre in eine Umlaufbahn schwenkte. Jetzt. Jetzt, war es passiert. Unwillkürlich schloss sie die Augen.

»Da ist sie!« Der Stolz, der aus Hawks Stimme sprach, brachte Dee dazu, die Lider zu öffnen. Die silberne Silhouette eines Raumschiffs hob sich vor dem Samtschwarz des Weltalls ab. Unwillkürlich entwich Dee ein leises Seufzen, während sie sich vorbeugte, um besser sehen zu können. Ihre Finger umklammerten die Lehne von Hawks Sessel.

Zu nah, rief eine Stimme in ihrem Kopf. Aber sie ignorierte sie. Vergaß alles. Sogar die Angst, die sie eben noch im Griff gehalten hatte.

Ihr Blick folgte den eleganten Linien. Verliebte sich in Details, fand endlich die Anordnung der Triebwerke. Suchte die Zeichnungen auf ihrem Schreibtisch mit dem vollendeten Werk in Übereinstimmung zu bringen. Und scheiterte. Versagte kläglich angesichts dieses Wunderwerks aus Menschenhand.

»Kleiner Rundflug?«, fragte Hawk mit einem Grinsen auf dem Gesicht.

Sie wollte »Nein« sagen, doch Hawk hatte seinen Vorschlag bereits in die Tat umgesetzt. Eigentlich war das einen Tadel wert. Aber immer neue Ansichten der Nyx versetzten Dee in Staunen, ließen ihr keine Zeit für eine Rüge.

Da! Hätten die Gurte sie nicht gehalten, wäre sie von ihrem Sitz aufgesprungen. Oh ja, so sollte es sein! Die nahe Anordnung der Konvektions- und der Sprungtriebwerke zueinander musste die Energieausbeute und damit die Wendigkeit und Schnelligkeit des Schiffes immens erhöhen. Zusammen mit der neuen Gelmatrix würde sich kein herkömmliches Schiff mit diesem messen können.

Das musste den Wendepunkt in diesem leidigen Krieg markieren. Zugunsten der Kolonien. Die Erdregierung konnte nicht mehr behaupten, sie wüsste von nichts, wenn koloniale Schiffe einfach verschwanden. Dann würden sie es der Erdflotte heimzahlen. Schiff für Schiff. Was kümmerten da noch Waffenstillstandsabkommen?

Jetzt verstand sie Hawks Stolz. Er gehörte dazu, zur handverlesenen Crew dieses außergewöhnlichen Schiffes auf seiner Jungfernfahrt.

Auch Hawk war nicht durch Zufall hier. Sie erinnerte sich daran, dass er die Bellerophon geflogen hatte, das Schiff mit der Testmatrix, nachdem dieser andere Pilot – wie hieß er doch gleich? – einen Teil der Forschungsdaten für den Widerstand gestohlen hatte. Demnach musste Hawk ein Mutant sein. Denn nur Mutanten konnten eine Gelmatrix fliegen.

»Schönes Schiff, nicht wahr?«, fragte Hawk, ohne sich umzudrehen.

Ob er wusste, dass sie an der Entwicklung der Gelmatrix mitgearbeitet hatte? »Ja, das ist sie.« Sie versteckte den Stolz in ihrer Stimme nicht.

Als sei es das Signal für ihn gewesen, den Rundflug zu beenden, steuerte Hawk eine dunkle Öffnung an, hinter der ein Hangar liegen musste. In einem Bogen flog er durch die offenen Luken und setzte sacht auf dem Stahlboden auf. Die Hangartore schlossen sich hinter ihnen wie das Maul eines großen Fisches.

In Sicherheit. Es war nichts passiert.

Dee begriff es erst, als ihr Blick auf eine Anzeige der Konsole fiel. Sie zeigte an, dass Atemluft in den Hangar gepumpt wurde, der sich den Blicken durch die Frontscheibe als hoher, kahler Raum darbot. Ihnen direkt gegenüber durchbrach ein Schott das Grau der Wände. Hinter einer Glasscheibe befand sich die Beobachtungskabine für den Hangar, in der in sterilem Licht die Silhouette einer Frau auszumachen war.

Als die Konsolenanzeige für die Atemluft das Skalenende erreichte, öffnete die Frau das Schott der Beobachtungskabine und kam auf sie zu. Sie trug die dunkelgraue Uniform der Flotte mit Selbstbewusstsein, als wäre sie damit auf die Welt gekommen. Breitbeinig blieb sie vor der Fähre stehen.

Hawk stand auf und öffnete die Luke. »Nach Ihnen, Ma’m.« Mit einem Grinsen ließ er Dee den Vortritt.

»Ich danke Ihnen für den Flug.« Nach einem Nicken in Hawks Richtung kletterte Dee nach draußen.

Ozongeruch stach ihr in die Nase. Hoch aufgerichtet schritt sie auf die Frau mit den Rangabzeichen eines Captains zu, die im Hangar wartete. Vor ihr salutierte Dee so zackig, wie sie es nach den Jahren in den Forschungslabors noch zuwege brachte. »Chefingenieurin Lieutenant Commander Deirdre MacNiall meldet sich zum Dienst, Ma’m.« Die so lange nicht mehr benutzten Worte hörten sich aus ihrem Mund fremd an.

Das dunkle, kinnlange Haar der Frau vor Dee wurde von ersten grauen Strähnen durchzogen. Sie bot ihr eine sehnige Hand. Das Lächeln auf dem energischen Gesicht wirkte fehl am Platz, dem Blick der eisblauen Augen schien nichts zu entgehen. »Captain Penelope Coulthard. Ich freue mich, Sie als meinen Zweiten Offizier an Bord zu begrüßen.«

Wieder erinnerte sich Dee an ihren Traum.

Wenn es nicht ihre Fähre gewesen war, die sie gesehen hatte, wessen Fähre war es dann?

2. Kapitel

Auf den Plänen hatte alles viel größer gewirkt. Die Kommandozentrale war winzig. Alle Räume in der Nyx waren winzig, als hätte man versucht, alles zu verdichten, um so viel Platz wie möglich zu sparen. Und alles war grau, als hätte man auch bei der Farbauswahl Sparsamkeit walten lassen. Wenigstens war das allgegenwärtige Grau der Schiffswände deutlich heller als das der Uniformen, sonst wäre die Mannschaft Gefahr gelaufen, zu Schatten zu verblassen.

 

Captain Coulthard öffnete ein weiteres Schott. »Der Maschinenraum!«

Zögernd trat Dee hindurch. Ein wenig fürchtete sie, auch der Maschinenraum könne ähnlich vollgestopft wie der Rest des Schiffes sein.

Es war noch schlimmer, als sie erwartet hatte. Gleich hinter dem Zugang befanden sich auf der rechten Seite zwei Terminals für die Diagnose. Direkt dahinter lagen die Hyperspulen und der Konverter, der ein sonores Brummen verströmte. Auf der linken Seite fand sie zwei Konsolen für die Überwachung der Lebenserhaltungssysteme. Hier schloss sich unmittelbar die Wasseraufbereitungsanlage an, die von der Atemluftaufbereitung durchbrochen wurde.

Na, herzlichen Dank! Da hatte sich ja jemand außerordentliche Mühe gegeben, ihr die Arbeit zu erschweren. Wie sollte man denn hier etwas reparieren oder warten?

»Darf ich vorstellen?«, sagte Coulthard und wies auf einen Mann und eine Frau in der dunkelgrauen Uniform der Flotte. »CPO Riley und PO Peres. Die zehn Crewmen, die Ihnen ebenfalls unterstehen, werden Ihnen Ihre beiden Unteroffiziere bekannt machen.«

Coulthard deutete bei ihren Worten zuerst auf den Mann, dann auf die Frau und anschließend auf Dee. »Ihre neue Chefin. Lieutenant Commander Deirdre MacNiall.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Ma’m.« Der blonde, gut aussehende Riley trat vor und salutierte forsch. Seine Ähnlichkeit mit Paul war fast ein wenig unheimlich.

»Freut mich ebenso, CPO Riley.« Dee nickte knapp. Insgeheim wurde ihr allein bei der Aussicht mulmig, nun täglich mit diesem Mann zusammenarbeiten zu müssen.

»Sie haben an der Entwicklung der Gelmatrix mitgearbeitet?«, fragte Riley mit glänzenden Augen.

»Das ist richtig.« Die Verehrung, die Dee in Rileys Augen zu erkennen glaubte, behagte ihr nicht. »PO Peres?«

Peres grüßte mit Verspätung. »Chief.« Auch auf ihrem flächigen Gesicht glaubte Dee, Ehrfurcht zu erkennen. Peres’ graue Haare waren kurz geschoren, kürzer als Rileys, dem eine blonde Strähne ins Gesicht hing. Trotzdem trug Peres ein rotes Stirnband. Sie war klein, aber reichlich kompakt, und Dee stellte sich lieber nicht vor, wie sie durch einen Wartungsschacht robbte.

»Angenehm«, sagte Dee.

Um den Blicken von Peres und Riley auszuweichen, trat sie an die Hyperspulen heran und versuchte, dem Verlauf der Plasmaleitung zu folgen.

Als hätte Peres Dees Gedanken erraten, zeigte sie nach oben. »Das Sanktum ist da oben, Chief. Aber das wissen Sie sicherlich.«

Eine Galerie zog sich auf der nächsten Deckebene um den Maschinenraum. Gegenüber dem Eingang auf der unteren Ebene war oben ein Schott zu erkennen.

Langsam fand sich Dee zurecht und schaffte es, die Pläne aus ihrem Kopf mit der Realität in Einklang zu bringen. Da war es also, das Herz des Schiffes. Dee glaubte fast, es fühlen zu können. Ein riesiges Pulsieren, das versuchte, ihr seinen Rhythmus aufzudrängen.

»Können wir es uns ansehen?«

Coulthard zeigte auf Riley. »Riley!«

Riley schenkte Dee ein freundliches Lächeln. »Wenn Sie mir folgen wollen, Ma’m?«

Plötzlich hatte Dee die Vision einer Hand, die ihren Hintern tätschelte. Paul hatte das getan. Nicht nur bei ihr, sondern bei jeder Frau, die in sein Beuteschema fiel.

Aber Paul war weit weg. Er schleppte jetzt Akten für die Admiralität und konnte tun und lassen, was er wollte.

Riley hatte schon die schmale Stahltreppe erreicht, die sich über den Hyperspulen zur Galerie zog. Bevor er die erste Stufe nahm, drehte er sich um und wartete, bis sie zu ihm aufschloss. »Nach Ihnen, Ma’m.«

Die Vision der Hand auf ihrem Hintern wurde übermächtig. Aber sie schaffte es, sich nichts von ihrer Aversion anmerken zu lassen, obwohl Riley ihr viel zu dicht folgte.

Als sie die Galerie erreichten, überholte er sie und streifte dabei mit seiner Hand ihren Oberschenkel. Dee zuckte zusammen.

Als sei nichts geschehen, blieb Riley neben dem oberen Schott stehen und betätigte den Öffnungsmechanismus. »Das Allerheiligste«, sagte er und trat hinein.

Dees Nackenhaare sträubten sich. Ob wegen des blauen Leuchtens, das durch das Schott drang, oder Rileys Berührung, wusste sie nicht. Sie brauchte einen Augenblick, bevor sie es über sich brachte, ihm zu folgen.

Riley stand in der Mitte des kleinen Raums. In der Mitte der Wand gegenüber lag der Zugang zu einem Wartungsschacht, links und rechts transparente Plastscheiben.

Dee gruselte es bei dem Gedanken, diesen Schacht jemals betreten zu müssen. Das Schild, das darauf prangte, war wohl nicht ohne Grund angebracht: »Bryson-Strahlung! Todesgefahr! Max. eine Stunde mit Strahlungsschutzanzug.«

Die Strahlung war das blaue Leuchten, das durch die Scheibe zur Rechten drang. Blau und gefährlich. Wie gebannt trat Dee näher, um das obere Ende des Fusionsreaktors zu betrachten, der sich an dieser Stelle durch den Kern des Schiffes bohrte.

Riley trat hinter sie. »Ist es nicht immer wieder berauschend, wie schön der Tod sein kann?« Seine Stimme klang ehrfürchtig.

Dee konnte seinen Atem in ihrem Nacken spüren. Zu nah. Viel zu nah.

Wortlos trat sie an die andere Scheibe. Ein riesiger Tank befand sich dahinter, der von dem blauen Leuchten gespeist wurde und in einem überirdischen Licht schimmerte. Er war das Interface, mit dessen Hilfe der Pilot die Strings manipulierte, an denen das Schiff entlangglitt. Der Anblick war atemberaubend. »Ist sie das?«

»Die erste Gelmatrix in einem Serienschiff. Ja, Ma’m. Ehrlich gesagt: Ich weiß nicht, ob ich den Piloten, der dieses Geschoss beherrschen will, beneiden oder bemitleiden soll.«

Mit einem Mal stand Riley wieder so nah, dass Dee glaubte, seine Körperwärme fühlen zu können. Mit einem Ruck drehte sie sich zu Riley um.

»Sie sollten hoffen, dass er es beherrschen kann. Sonst enden wir als Hackfleisch im All. Und ich rate Ihnen, künftig Abstand zu mir zu halten. Zwei Schritte. Verstanden?«

Als habe sie ihn geschlagen, wich Riley zurück. »Es tut mir leid, wenn ich Ihnen zu nahe getreten bin, Ma’m. Nehmen Sie meine Entschuldigung an?«

Kein guter Einstieg! »Akzeptiert«, hörte sie sich sagen. »Dieses eine Mal.«

»Ich verspreche, dass es nicht wieder vorkommen wird.« Riley salutierte.

»Das hoffe ich für Sie.« Ohne einen Gruß ließ Dee ihn stehen.

»... und hier ist Ihre Kabine«, beendete Captain Coulthard den Schiffsrundgang. Mit einer Berührung des Bedienpanels öffnete sie das Schott und gab den Blick auf eine Kabine frei, für die die Bezeichnung Verschlag passender gewesen wäre.

Dees Blick sah ihren Koffer, den jemand dort deponiert hatte, und das Stockbett, auf dem eine Frau saß. Gute Güte, sie musste die Kabine doch nicht etwa teilen?

»Darf ich Ihnen Junior Lieutenant Nayiga vorstellen?« Coulthard deutete auf die dunkelhäutige Schönheit auf dem Bett.

Elegant schob Nayiga ihre langen, schlanken Beine über den oberen Bettrand und ließ sich zu Boden gleiten. Schlanke Taille, beeindruckende Brust.

»Und das ist Lieutenant Commander MacNiall«, setzte Coulthard die Vorstellungsrunde fort.

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Nayigas Stimme war ein samtiger Alt. Mit einem Lächeln bot sie Dee die Hand. »Ich habe Ihnen aufgrund Ihres Ranges und Ihres Alters selbstverständlich das untere Bett überlassen.« Eine Reihe ebenmäßiger weißer Zähne wurde sichtbar, als sie lächelte. Die schwarzen Haare waren im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.

Dee schüttelte die angebotene Hand. Sie war nicht alt!

»Entschuldigen Sie mich.« Coulthard deutete ein Nicken an, bevor sie sich entfernte. »Einsatzbesprechung ist um sechzehn fünfzehn.«

Nayiga lächelte noch etwas breiter. »Ich lasse Sie am besten allein, damit Sie sich in Ruhe umziehen und frisch machen können.«

Sie musste sich nicht frisch machen! Aber Hauptsache, die Andere verschwand endlich. Trotzdem sagte sie: »Danke.«

Immer noch lächelnd überließ Nayiga ihr die Kabine. Das Schott schloss sich hinter ihr. Dee war allein. Endlich. Mit einem Seufzen ließ sie sich auf das untere Bett sinken.

Wunderbar! Nayiga war genau die Art von Frau, auf die Paul flog. Große Brüste, wohl gerundete Körperformen, lange Haare und einen guten Kopf kleiner als Dee. Sexy. Nicht so langweilig und knabenhaft wie sie.

»Vergiss ihn«, rief sie sich einmal mehr Siobhans Worte in Erinnerung. Ihre Schwägerin und beste Freundin hatte recht. Es gab wichtigere Dinge, auf die sich jetzt konzentrieren musste.

Sie war auf diesem Schiff. Weil sie die meiste Erfahrung mit der neuen Gelmatrix mit sich brachte. Weil sie bei ihrer Erforschung und Entwicklung mitgearbeitet hatte.

Weil sie etwas Besonderes war.

So besonders wie dieser Pilot, der dazu in der Lage war, dieses Geschoss zu fliegen.

Mutanten eben.

Sie konnten von Glück reden, dass der Senat die Angst vor den Mutanten nicht wie die Erdregierung schürte. Dabei lagen die Mutantenkriege auf der Erde bereits Jahrhunderte zurück – und auch in den Kolonien gab es einen guten Grund, die Mutanten zu fürchten. Dafür sorgten die terroristischen Aktivitäten der Untergrundbewegung. Da konnte selbst sie als Klasse-fünf-Mutantin froh sein, dass der Senat Mutanten nicht internierte und auslöschte – wie die Erdregierung das einst getan hatte.

Oder gab sich der Senat nur deshalb so liberal, weil die Koloniale Flotte neuerdings auf Gelmatrizen setzte, statt auf die herkömmlichen bioneuronalen Sprunginterfaces der Erdflottenschiffe, die jeder ausgebildete Nichtmutant bedienen und warten konnte? Die Gelmatrix konnte nur durch Mutanten manipuliert und gewartet werden.

Nun gut. Wenn der Senat die Mutanten nur deshalb brauchte, um den Krieg zu gewinnen – umso besser! Dann würde sie ihnen zeigen, dass sie recht daran taten. Bevor vielleicht doch irgendjemand auf den Gedanken kam, die Mutanten einem Friedensabkommen mit der Erdregierung zu opfern.

»Unsere Mission hat sich geändert.« Coulthard blickte sich im Konferenzraum um, als wolle sie sich vergewissern, dass ihr alle Anwesenden zuhörten. Sie hätte die Einsatzbesprechung nicht effektiver beginnen können.

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