Die Zerstörung der EU

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Die Zerstörung der EU
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PETER MICHAEL LINGENS

Die Zerstörung der EU

Deutschland als Sprengmeister Österreich als Mitläufer

FALTER VERLAG

© 2019 Falter Verlagsgesellschaft m.b.H.

1011 Wien, Marc-Aurel-Straße 9

T: +43/1/536 60-0, E: bv@falter.at, W: www.falter.at

Alle Rechte vorbehalten. Keine unerlaubte Vervielfältigung!

ISBN ePub: 978-3-85439-654-3

ISBN Kindle: 978-3-85439-647-5

ISBN Printausgabe: 978-3-85439-633-8

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2019

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Die Thesen dieses Buches

Gelbe Karte für Macron

Das Drama Italiens

Das geleugnete Fiasko

Die einzigartige Rettung der Iberischen Halbinsel

Wie der Sparpakt Österreich schadet

Der verschwiegene Vorteil der Briten

Flüchtlinge als fatale Verschärfung

Das neue Deutschland

Wie die Deutschen den US-Dollar missverstehen

Was den Euro vom US-Dollar trennt

Die deutsche Führungsrolle nach der Krise

Was private Schulden von Staatsschulden trennt

Warum muss ein soveräner Staat nie pleitegehen?

Die gefährlichen privaten Schulden

Die Infektion der EU durch die USA

Sparen als protestantische Tugend

Weshalb muss Sparen die Wirtschaft bremsen?

Der Unfug von schwarzen Nullen und Überschüssen

Woher kommen die Schuldengrenzen?

Das fatale Misstrauen gegenüber dem Staat

Warum ist der Staat kein Unternehmen?

Der neoliberale Kampf gegen QE

Das Wunder von Wörgl

Warum wehren sich die Bürger nicht?

Lohnzurückhaltung – die deutsche Wunderwaffe

Die Agenda 2010

Die Wirkung der Wunderwaffe

Ist Freihandel immer das Beste?

Was bedeutet Lohnzurückhaltung zu Hause?

Die politischen Folgen der Lohnzurückhaltung

Der Jammer der Sozialdemokratie

Der rechte Weg, weg von der Sozialdemokratie

Wie Neoliberale den Markt missverstehen

Was bedeutet Neoliberalismus in der Praxis?

Wo bleibt eine neue Wirtschaftspolitik?

Epilog: Gregor Gysi zur Einführung des Euro

Der Autor

Endnoten

Für Anna, Max, Michael, Noah und Ben,

die in einer erfolgreicheren EU leben sollen

DIE THESEN DIESES BUCHES

Umfragen zu Ende des Jahre 2018 bescheinigen der EU die größte Zustimmung der Bevölkerung seit 25 Jahren. Dieses Buch bescheinigt ihr zu Beginn des Jahres 2019 die schwerste Krise ihrer Geschichte. Die Erklärung für dieses Paradoxon ist die mediale Aufbereitung des Brexit: Nachdem die Briten ihn 2016 beschlossen hatten, befassten sich Europas Zeitungen und Fernsehstationen von Monat zu Monate weniger mit dieser dramatischen Schwächung der EU, stattdessen immer intensiver mit den gewaltigen Problemen, die sich Großbritannien mit dem Verlassen der EU angeblich einhandelt. Das hat Leser und Zuhörer entsprechend beeindruckt und sie ziehen daraus den Kurz-Schluss, dass es doch ein entscheidender Vorteil sei, der EU anzugehören. Selbst Heinz-Christian Strache, Marine Le Pen oder Matteo Salvini fordern nicht mehr den Austritt ihrer Heimatländer aus der Europäischen Union, sondern nur ihre Reform.

Das tut auch dieses Buch – wenn auch aus anderer Perspektive. In denkbar ungewollter Gemeinsamkeit mit Matteo Salvini halte auch ich die aktuelle Wirtschaftspolitik der EU, voran der Eurozone, für katastrophal und vertrete in diesem Zusammenhang folgende drei Thesen:

Erstens: Sparen des Staates, wie der Vertrag von Maastricht es fordert, wie Deutschlands vormaliger Finanzminister Wolfgang Schäuble es predigt und wie Kanzlerin Angela Merkel es via Sparpakt der gesamten EU mit Ausnahme Großbritanniens und Tschechiens unter Strafandrohung verordnet hat, ist wirtschaftlich maximal kontraproduktiv. Denn Wirtschaftswachstum kann nur zustande kommen, wenn mehr verkauft wird, und es kann aus Gründen der Mathematik nur mehr verkauft werden, wenn zugleich mehr eingekauft wird. Wenn von den drei großen potenziellen Einkäufern einer Volkswirtschaft – Konsumenten, Unternehmen und Staat – einer, nämlich der Staat, seine Einkäufe zum Zweck des Sparens einschränkt (ohne dass Konsumenten und Unternehmer ihre Einkäufe ausgeweitet hätten), ist es denkunmöglich, dass der Gesamtverkauf wächst. Wenn er es, wie etwa in Deutschland, dennoch tut, dann zulasten anderer Volkswirtschaften, deren Konsumenten, Unternehmen und staatliche Stellen sich an Deutschlands Stelle verschulden. Sofern es EU-Mitglieder sind, verstoßen sie damit gegen den von Deutschland initiierten Sparpakt. Diese absurde Konstellation ist verantwortlich für die, verglichen mit Großbritannien oder den USA, so schleppende Erholung der Eurozone.

Zweitens: Deutschlands „Lohnzurückhaltung“, die seine Unternehmen seit der rot-grünen Regierung Gerhard Schröders im Jahr 2000 üben, verdient die Bezeichnung „Lohndumping“: Die Waren deutscher Unternehmen nehmen den Waren aller anderen Volkswirtschaften, voran jenen Norditaliens und Frankreichs, immer mehr Marktanteile weg, ohne dass sich die Qualität deutscher Waren oder die Effizienz ihrer Herstellung erhöht hätte. Vielmehr subventionieren Deutschlands Arbeitnehmer Deutschlands Warenpreise durch real sinkende Löhne. Damit vermindert sich zugleich Deutschlands Kaufkraft, so dass weder deutsche noch gar französische oder italienische Unternehmen auf dem deutschen Markt mit ausreichendem Warenabsatz rechnen können. Das erschüttert Europas Wirtschaftsgefüge gleich doppelt. In den Ländern, die solcherart Marktanteile an Deutschland verlieren, kommt es zwingend zu hohen Arbeitslosenraten und explodierender Jugendarbeitslosigkeit, während in Deutschland Arbeitskräfte-Knappheit eintritt. Das deutsche Verhalten ist unvereinbar mit den Regeln fairen Wettbewerbs auf einem freien Markt und verstößt gegen die in der EU vereinbarte Zielinflation von 1,9 Prozent.

Drittens: Der „Neoliberalismus“ als Wirtschaftsideologie begünstigt das in „erstens“ und „zweitens“ angeführte Fehlverhalten. Er ist voller ökonomischer Missverständnisse bezüglich jener wirtschaftlichen Bedingungen, die er selbst für wirtschaftlich optimal hält. Neoliberale Vorstellungen vom Sinn „betriebsspezifischer“ Lohnverhandlungen oder bezüglich der Funktion von Gewerkschaften sind ebenso falsch wie die neoliberale Vorstellung vom maximalen Wohlergehen der Bevölkerung oder vom Entstehen gefährlicher Inflation.

Leider konzentrieren sich alle drei Fehlverhalten in der Politik von deutschen Regierungen, die ich bezüglich ihrer sonstigen Außen-, Innen- und Umweltpolitik durchaus schätze. Angela Merkel ist für mich eine der wenigen Staatschefs, die Wladimir Putin mit der nötigen Reserve begegnen, und ihr Verhalten anlässlich der in Budapest gestrandeten Flüchtlinge habe ich in einem Kommentar für Profil „ein deutsches Märchen“ genannt, auch wenn ich heute erkennen muss, dass das Zusammentreffen des Flüchtlingsproblems mit den Problemen der europäischen Wirtschaft zu einer extrem explosiven Gemengelage geführt hat. Aber diese Gemengelage wäre ungleich weniger explosiv, wenn die Wirtschaftspolitik der EU – in Wahrheit die Wirtschaftspolitik Angela Merkels und Wolfgang Schäubles – keine so katastrophale wäre.

 

Weil Deutschland eigentlich nie von der D-Mark lassen wollte, war der Euro von Beginn an falsch – ganz anders als der US-Dollar – konstruiert. Aus den gleichen deutschen Missverständnissen heraus wird er von einer von Deutschland angeführten EU so katastrophal verwaltet. Deutschlands Schuldenphobie würgt die Konjunktur der Eurozone ab und behindert ihre nachhaltige Erholung. Die von der SPD mit der Agenda 2010 initiierte deutsche Lohnpolitik verhindert faire unternehmerische Konkurrenz. Voran durch dieses doppelte Fehlverhalten Deutschlands ist die EU akut von der Zerstörung bedroht. Dass das innerhalb der EU voran an der Eurozone liegt, hat damit zu tun, dass dort das Gros der großen „alten“ Volkswirtschaften angesiedelt ist, während für neu hinzugestoßene, meist exkommunistische, ein günstigeres Investitions- und Nachfrageverhalten gilt.

Österreich hat sich der deutschen Politik teils zwangsläufig – weil Deutschland sein größter Handelspartner ist –, teils aus Sebastian Kurz’ neoliberaler Überzeugung angeschlossen und wird damit als ihr Mitläufer langfristig nicht gut fahren.

Das – in groben Zügen – will ich in diesem Buch belegen. Dazu den mangelnden Widerstand einer Sozialdemokratie, die sich ebenfalls zunehmend neoliberalen Wirtschaftsmissverständnissen hingegeben hat und so ihren Niedergang zementiert. Denn die ökonomischen Missverständnisse des Neoliberalismus sind für die deutsche Politik ebenso verantwortlich wie die schwäbische (protestantische) Überzeugung, dass „Schuld“ auf sich lädt, wer Schulden macht. Obwohl diese beiden Ideologien – denn das, und nicht ökonomische Theorien, sind sie – einander vielfach widersprechen, machen sie weltweit Furore und verantworten das auch weltweit größte ökonomische Problem: die immer gewaltigere Konzentration von Vermögen und Macht in einem immer winzigeren Teil der Bevölkerung.

Zur Entstehung dieses Buches

Ein paar Hinweise zur Gedanken- und Datenbasis dieses Buches: Ich nutze gerne fremde Erkenntnisse, denn im Grunde bin ich nicht mehr als ein recherchierender Reporter. Bei allen meinen Überlegungen zum „Sparen des Staates“ habe ich der Aussage des emeritierten Professors für Finanzwissenschaften der Universität Wien, Erich W. Streissler, vertraut, der anlässlich eines Seminars erklärte: „In einem hat Keynes sicher recht – in einer Krise darf und kann der Staat nicht sparen.“ Dem „Traktat“ von Richard Winter habe ich Überlegungen zum Unterschied von Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft, zur Funktion des Geldes und zur Inflation entnommen. Und Professor Heiner Flassbeck, von 1998 bis 1999 Staatssekretär im deutschen Bundesministerium für Finanzen und von Januar 2003 bis Ende 2012 Chef-Volkswirt der UN-Organisation für Welthandel und Entwicklung, hat mich auf die überragende Bedeutung der deutschen „Lohnzurückhaltung“ aufmerksam gemacht. Sein Wirtschafts-Nachrichtendienst Makroskop ist zu meiner täglichen Lektüre geworden. Neben der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als Reibebaum: Ihre Kommentare sagen zwar fast durchwegs das Gegenteil von dem, was ich im Falter schreibe – aber man findet dort immer auch Berichte, Analysen, Gastbeiträge und Fakten, die es erleichtern, ihnen zu widersprechen.

Nicht zuletzt ist das meiste dessen, von dem ich in diesem Buch nachweise, dass es leider eigetreten ist, vor zwanzig Jahren vorhergesagt worden: In einer Rede des deutschen PDS-Abgeordneten Gregor Gysi anlässlich der Einführung des Euro. Prophetisch sagte er voraus, dass es unmöglich sei, Europa durch den Euro zu einen – nur ein bereits solidarisch geeintes Europa könne schlussendlich eine gemeinsame Währung beschließen. Ich habe Gysis Rede dem Buch daher als Epilog angehängt.

Soweit ich in meinen Texten Zahlen bezüglich des realen, „kaufkraftbereinigten“ BIP pro Kopf (BIP/Kopf PPP), der Arbeitslosigkeit oder der ominösen (wenig sinnvollen) „Staatsschuldenquote“ verwende, stammen sie aus der Datenbank der Weltbank, der OECD oder von statista.de. Wenn sie – selten genug – aus einer anderen Quelle stammen, führe ich diese an.

GELBE KARTE FÜR MACRON

Die Situation hätte symbolischer nicht sein können: Emmanuel Macron, Europas „Jupiter“, wie Medien ihn getauft hatten, der strahlende „Hoffnungsträger“ der Europäischen Union, dem man zugetraut hatte, ihr wieder Kraft zu verleihen, sie wieder mit dem einstigen Geist von Aufbruch in eine bessere Zukunft zu erfüllen, musste sich bei seiner Bevölkerung entschuldigen, ihr eine Erhöhung der Mindestlöhne und Mindestpensionen zugestehen, die nach Ansicht der EU die Defizitgrenzen des Sparpaktes sprengt, und dennoch den „sozialen Notstand“ ausrufen.

Nur so konnte er sich gerade noch im Amt halten.

Denn die Proteste hunderttausender „Gelbwesten“, die ihn zu diesen Zugeständnissen gezwungen haben, dürften sich zwar, zunehmend von Rowdies und Wirrköpfen gekapert, langsam totlaufen, aber die überwältigende Mehrheit der Franzosen – je nach Umfrage sechzig bis siebzig Prozent – hat sich mit ihren Zielen identifiziert. Zielen, die man, so unterschiedlich, wirr und widersprüchlich sie auch waren – so wurden gleichermaßen höhere und niedrigere Steuern gefordert oder katholische „Gelbwesten“ verlangten etwa das Ende der Homo-Ehe –, ökonomisch auf einige wenige simple Ansprüche reduzieren kann: Wir wollen Löhne und Pensionen, von denen wir leben können! Wir wollen nicht täglich Angst um unseren Job haben! Wir brauchen dringendst Arbeit für unsere Jugend! Und wir halten nichts von Macrons Rezepten zur Verbesserung unserer Lage – er ist ein Präsident der Reichen!

Dass so viele der „Gelbwesten“ Macrons Kopf fordern, muss ihn besonders nachdenklich stimmen, denn 52 Prozent von ihnen haben ihn ursprünglich gewählt.

In Deutschland glauben Ökonomen die wahren Gründe der Revolte gegen Macron zu kennen: dass Frankreich nämlich wirtschaftliche Reformen, wie sie in Deutschland stattgefunden haben, durch Jahrzehnte versäumt hätte; dass die Bevölkerung nicht verstünde, wie dringend diese Reformen wären; dass die Strukturen Frankreichs eben zu verkrustet wären.

In Zeitungen und Zeitschrift Deutschlands und Österreichs kann man lesen, worin diese Verkrustung besteht: im viel zu großen Zentralismus; in den zu starken kommunistischen Gewerkschaften; in zu vielen versäumten „Hausaufgaben“; im noch immer zu großen Anteil der Landwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt; in der mangelnden Flexibilität des Arbeitsmarktes; in der zu großen Kluft zwischen Stadt und Land; in der zu geringen Bereitschaft einer abgehobenen Elite, sich mit den Problemen des „kleinen Mannes“ auseinanderzusetzen. Und natürlich auch in der Verschonung dieser Elite vor Strafverfolgung wegen Korruption.

Eine Menge davon ist richtig. Dennoch hatte dieses Frankreich noch 2005, vor nur 13 Jahren, trotz all dieser seiner behaupteten oder wirklichen Fehler ein reales, kaufkraftbereinigtes BIP pro Kopf, das mit 36.505 US-Dollar nur um 1198 US-Dollar unter dem deutschen von 37.703 US-Dollar lag.

2017 lag es mit 38.605 US-Dollar um 6624 US-Dollar unter dem deutschen von 45.229 US-Dollar. Der Abstand hat sich in 13 Jahren mehr als verfünffacht. Dazwischen liegen 18 Jahre deutscher Marktanteilsgewinne dank „Lohnzurückhaltung“, die ich, wie ich begründen werde, Lohndumping nenne. Und dazwischen liegt ein Sparpakt, der die deutsche Wirtschaft, aus Gründen, auf die ich eingehen werde, weit weniger Wachstum als alle anderen Volkswirtschaften Europas gekostet hat.

Natürlich ist das kaufkraftbereinigte BIP pro Kopf keine perfekte Kennzahl wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit, schon deshalb nicht, weil zum Beispiel eine Feuerkatastrophe, deren Schäden behoben werden müssen, es ebenso erhöht wie Rettungsaktionen für bankrotte Banken. Aber im Großen und Ganzen kennzeichnet das BIP/Kopf PPP diese wirtschaftliche Leistungsfähigkeit sehr wohl.

Frankreich ist keine schwache Volkswirtschaft. Es hat viele gute, ausreichend große Unternehmen, seine Klein- und Mittelbetriebe könnten noch besser – den österreichischen oder deutschen vergleichbarer – sein, aber dafür hat es eine große, nicht konjunkturabhängige Luxusindustrie, und seine Banken sind sehr viel stärker als deutsche Geldinstitute. Frankreich hat gute Patente, sehr gute Schulen und sehr gute Universitäten.

Nur für Deutsche sind Renault-Motoren, trotz zweier Weltmeistertitel für Red Bull in der Formel 1, ganz unvergleichlich schlechtere Motoren als jene von Mercedes oder BMW. Das reale BIP pro Kopf als übliche Kennzahl wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit war es im Jahr 2005 jedenfalls nicht – mit seinen 36.505 US-Dollar war es nur um 3,1 Prozent geringer als das deutsche.

Wie fast überall in Europa ist dieses BIP bis 2009 kontinuierlich gewachsen und mit der Wirtschaftskrise ist es in Frankreich beträchtlich, von 37.755 auf 36.324 US-Dollar, in Deutschland wegen seiner Exportabhängigkeit sogar noch stärker, von 40.989 auf 38.784 US-Dollar, eingebrochen. Danach erholten sich die beiden Volkswirtschaften bis 2011 deutlich – in Frankreich auf 37.440 US-Dollar pro Kopf, in Deutschland dank massiver Investitionen im Sinne Keynes sogar auf 42.692 US-Dollar. Danach bremste der Sparpakt beider wirtschaftliche Erholung deutlich ein, aber Deutschland steigerte sein BIP/Kopf dennoch in den folgenden sechs Jahren bis 2017 (dem letzten Jahr, für das bei Redaktionsschluss exakte Zahlen vorliegen) auf 45.229 US-Dollar. Frankreichs BIP hingegen legt nur mehr auf 38.605 US-Dollar zu.

Aus einem Abstand von nur rund 1200 US-Dollar zugunsten Deutschlands im Jahr 2005 ist einer von rund 6600 US-Dollar im Jahr 2017 geworden (siehe Grafik).


Quelle: The World Bank

Die Entwicklung des deutschen realen BIP pro Kopf im Verhältnis zum französischen: Bei beiden bremst der 2012 beschlossene Sparpakt die Erholung massiv. 2017 ist der Abstand dank Deutschlands Lohnpolitik mehr als fünf Mal so groß wie er 2005 gewesen ist.

Der so dramatisch vergrößerte Abstand hat sicherlich mehrere Gründe, aber zweifelsfrei einen Hauptgrund, der in deutschen und österreichischen Medien so gut wie keine Erwähnung findet: Während Frankreich seine Löhne jedes Jahr um den Produktivitätszuwachs plus Inflation erhöhte und so, wie in der EU vereinbart, eine Inflationsrate von ca. 1,9 Prozent einhielt, tat Deutschland das seit Gerhard Schröder nicht mehr. Daher die Reallohnverluste der deutschen Arbeitnehmer. Daher freilich der gewaltige Konkurrenzvorteil der mit relativ immer weniger Lohnkosten belasteten deutschen Produkte. In acht Jahren hat er sich zu einem Lohnstückkosten-Vorsprung deutscher Waren gegenüber französischen Waren von rund zwanzig Prozent addiert.

Entwicklung der Lohnstückkosten in Deutschland und Frankreich

Im Vergleich zur „Goldenen Lohnregel“, wie sie seit Einführung des Euro im Jahr 1999 gilt. Die Goldene Lohnregel drückt aus, dass die Lohnstückkosten in den einzelnen Euroländern um jährlich 1,9 Prozent steigen müssen – das ist die Zielinflation der Europäischen Zentralbank.


Quelle: iAGS 2017/taz

Die Lohnstückkosten Deutschlands verringerten sich gegenüber jenen Frankreichs ständig – 2017 betrug der Abstand zulasten Frankreichs zwanzig Prozent.

Entsprechend massiv haben französische Unternehmen allenthalben, in der EU, in Russland, den USA, Südamerika oder China, Marktanteile an deutsche Unternehmen verloren. Mit Deutschland selbst wuchs Frankreichs Handelsbilanzdefizit allein zwischen 1998 und 2007 um den Faktor 30 von 1.317.100.000 US-Dollar (1998) auf 40.461.100.000 US-Dollar (2008). Deutschlands Exporte nach Frankreich selbst sind 2017 um 41,04 Milliarden höher als seine Importe aus Frankreich.

 

Dem entspricht die schlechte Auslastung französischer und die perfekte Auslastung deutscher Unternehmen. Dem entsprechen 3,75 Prozent Arbeitslosigkeit in Deutschland und 9,4 Prozent Arbeitslosigkeit in Frankreich, obwohl dort viele Menschen die Arbeitssuche längst aufgegeben haben. Dem entspricht ein Anteil jugendlicher Arbeitsloser (zwischen 15 und 24 Jahren) von 6,76 Prozent in Deutschland gegenüber 22 Prozent in Frankreich.

Dem entspricht die Stimmung in Frankreich.

Emmanuel Macron hat versucht, bei Angela Merkel gegen Deutschlands durch Lohndumping bedingten Handelsbilanzüberschuss zu argumentieren – erfolglos. Er hat versucht, Deutschland zu einem Milliarden-Investitionsprogramm zu bewegen, das Deutschland selbst, der gesamten EU und natürlich auch dem benachbarten Frankreich durch Aufträge zugutegekommen wäre und gleichzeitig den Lohnstückkosten-Abstand verringert hätte, weil Deutschlands Löhne stärker gestiegen wären. Vergebens. Denn Deutschland produziert lieber Überschüsse oder wenigstens schwarze Nullen, als massiv zu investieren. Zuletzt hat Macron versucht, der EU selbst ein Milliarden-Investitionsprogramm schmackhaft zu machen, das ein eigener EU-Finanzminister (er wird dabei wohl an einen Franzosen gedacht haben) bewilligen könnte und einmal mehr auch Frankreich zugutegekommen wäre. Wieder wegen deutschen, aber auch heftigen österreichischen Einspruchs vergebens. (Kurz wollte das EU-Budget angesichts des Ausscheidens der Briten eher verringert wissen.)1

Nur mithilfe massiver Mehrverschuldung Frankreichs könnte Macron die Aufträge bereitstellen, die Frankreichs Unternehmen fehlen, was ihm nicht nur der Sparpakt, sondern auch sein eigenes neoliberales Wirtschaftsverständnis verbietet: Auch Macron selbst glaubt, dass Sparen des Staates ein richtiges Rezept zur Überwindung einer wirtschaftlichen Schwächephase ist.

Die Möglichkeit, Deutschland die verlorenen Marktanteile wieder abzujagen, ist eine rein theoretische. Denn dazu müsste es Macron gelingen, Frankreichs Lohnstückkosten durch „Hartzige“ Bestimmungen am Arbeitsmarkt um 25 Prozent abzusenken, weil man Marktanteile nur zurückgewinnen kann, indem man die Preise seines Konkurrenten unterbietet. Frankreich müsste sein Lohnniveau also um mindestens 25 Prozent senken.

Das provozierte eine Revolution, an der gemessen die Revolte der „Gelbwesten“ ein harmloser Kinderjausen-Zwischenfall wäre. Gleichzeitig verminderte es Frankreichs Inlandskaufkraft, die die Konjunktur derzeit aufrechthält, in einem Ausmaß, das sie in kürzester Zeit zusammenbrechen ließe.

Ich sehe nicht, wie sich Macron ohne Hilfe Deutschlands – durch massive deutsche Investitionen, die angesichts des dort herrschenden Arbeitskräftemangels die deutschen Löhne deutlich steigerten, zugleich aber auch französischen Anbietern zugutekämen – aus dieser desolaten politischen Lage befreien soll. Zumal Le Pen sehr geschickt agiert: Sie hat die „Gelbwesten“ ihrer „unverbrüchlichen Unterstützung“ versichert, sich aber, anders als die Führer der linken Opposition, nicht an ihren Demonstrationen beteiligt, so dass sie nicht mit brennenden Autos und eingeschlagenen Scheiben identifiziert wird. Wie Heinz-Christian Strache, der sich nie mit den braunen Ausrutschern seiner Funktionäre identifiziert, wirkt sie auf diese Weise „staatsmännisch“ und wurde auch schon von Macron ins Elysée geladen.

Ich sehe sie nach den nächsten Wahlen dort residieren.