Die Steuersünder

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Aus der Reihe: TatortSchweiz #6
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Die Steuersünder
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Peter Mathys

Die Steuer­sünder

Roman

Limmat Verlag

Zürich

Für Nuria und Linda

1

An diesem schönen Märzmorgen war es Rechtsanwalt Michael Kellenberger nicht ums Arbeiten. Sein Fenster ging auf den Rhein, und er sah, wie die Sonne goldbronzene Spiegelsplitter aufs Wasser zauberte, die ständig aufeinander zu trieben, ohne sich je zu vereinen. Die Fähre war bereits in Betrieb und brachte erste Fahrgäste ans andere Ufer.

Tanja, seine Assistentin, hatte ihm die Post gebracht, geöffnet, mit dem Eingangsstempel versehen, in einer Mappe sauber geordnet. Daneben lag die Zeitung. Er schob die Mappe beiseite und griff nach der Zeitung.

Neue Schwierigkeiten der größten Schweizer Bank in den USA. Pädophile Priester, die sich an ihren Chorknaben vergriffen. Weitere Schlagzeilen; lauter Probleme ohne Lösungen, Kellenberger wollte nichts davon wissen, er stopfte die Zeitung in den Papierkorb.

Auf dem Rhein zog jetzt ein Tankschiff flussabwärts. Das Heck liess eine Furche aufgewühlten Wassers zurück, der schwarzweiße Kamin glänzte im Sonnenlicht. Der Anwalt schaute zu, wie das Schiff unter der Mittleren Brücke verschwand, und er dachte, wie schön es wäre, jetzt an nichts zu denken.

Als das Telefon läutete, nahm er ab, ohne den Blick vom Wechselspiel der Farben im Fluss abzuwenden.

«Ein Herr Matter», meldete Tanja.

«Was will er?»

«Mit Ihnen persönlich sprechen.»

«Dann verbinden Sie bitte.» Als es klickte, sagte er höflich neutral: «Kellenberger.»

«Matter, von der Steuerverwaltung. Spreche ich mit Rechtsanwalt Dr. Michael Kellenberger?»

«Ja. Was kann ich für Sie tun?»

«Ich bin für die Kontrolle und Veranlagung Ihrer Steuererklärungen zuständig», fuhr Matter fort. «Es gibt da einige Fragen, die geklärt werden müssen.»

«Bitte sehr – schießen Sie los», antwortete der Anwalt, immer noch gut gelaunt.

«Ich fürchte, das ist zu kompliziert für ein Telefongespräch», erklärte Matter. «Es wäre gut, wenn Sie in den nächsten Tagen bei uns vorbeikommen könnten.»

«Wenn Sie meinen …»

Sie fanden rasch einen Termin; nächsten Donnerstag, drei Uhr nachmittags. Der Anwalt legte die Agenda weg und lehnte sich zurück. Eine Wolke war vor die Sonne gekrochen. Der Tag war nicht mehr schön. Kellenberger blätterte abwesend in der Postmappe.

Was, zum Teufel, wollte der Steuerheini von ihm?

Zum Gespräch am Donnerstag nahm Kellenberger die Kopie seiner letzten Steuererklärung mit. Das Rathaus am Marktplatz strahlte frisch renoviert in leuchtendem Rot. Dort wurde das Steuergesetz ausgebrütet und alle paar Jahre revidiert. Verschiedene seiner Berufskollegen saßen dort im Parlament. Kellenberger überlegte, wen er um Hilfe angehen konnte, falls dieser Matter schwierig werden sollte.

Die Steuerverwaltung belegte mehrere Stockwerke in einem Bürogebäude an einem kleinen Platz, der sinnig Fischmarkt hieß. Kellenberger stellte sich vor, wie vor hundertfünfzig Jahren feiste Händler mit roten Backen ihre stinkende Ware auf Holztischen feilboten und wie die Dienstmädchen mit ihren weißen Häubchen aus dem zappelnden Angebot in den Blecheimern die schönsten Felchen oder Regenbogenforellen aussuchten und zusahen, wie der Verkäufer ihnen die Köpfe abhackte.

Er fand Matter in einem kleinen Büro hinter einem großen Schreibtisch mit einem Seitentisch für den Computer. Das Pult war aufgeräumt; er sah nur zwei Aktenstapel und die Rückseite einer postkartengroßen Fotografie mit Silberrahmen. Die Wand gegenüber wurde von Metallschränken eingenommen, und hinter Matters Rücken hing ein großer Farbdruck aus dem Staatlichen Kunstkredit; er zeigte den Rhein mit der ältesten Brücke im 19. Jahrhundert. Originale gab es erst ab Stufe Abteilungsleiter. Dem Büro fehlte jegliche Harmonie, keine Zimmerpflanze rettete das Ambiente. Der einzige sympathische Gegenstand war die Fotografie; Kellenberger war neugierig auf das Bild, das ihm verborgen blieb.

«Herr Dr. Kellenberger, bitte nehmen Sie Platz», begrüßte ihn Matter und wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Lachend fügte er bei: «Danke, dass wir so rasch einen Termin finden konnten.»

Kellenberger mochte Leute nicht, die schon bei der ersten Begegnung ohne ersichtlichen Grund lachten. Er fragte: «Also, Herr Matter, womit kann ich Ihnen dienen?»

Der Beamte klopfte auf eines der beiden Aktenbündel auf seinem Tisch. «Es gibt da einige Fragen zu Ihrer letzten Steuererklärung.»

«Ja, bitte?»

«Wir haben eine Meldung von der Fürstlichen Steuerverwaltung in Vaduz erhalten. Danach bezahlte Ihnen eine liechtensteinische Aktiengesellschaft mit dem interessanten Namen Plus-Minus AG Verwaltungsratshonorare, in den beiden letzten Jahren je 10 000 Franken. In Ihrer Steuererklärung finde ich nichts darüber. Können Sie sich dazu äussern?»

Die kräftige Stimme kam aus einem rundlichen Gesicht mit hellblauen Kulleraugen. Eine hohe Stirne ging über in eine Halbglatze; die verbleibenden braunen Haarbüschel waren straffnach hinten gekämmt. Eine graue Jacke mit Fischgrätemuster, sie war nicht zugeknöpft, enthüllte einen Bauchansatz; darüber baumelte eine orange Krawatte mit Kürbismuster.

«Ich muss das in der Buchhaltung überprüfen», antwortete der Anwalt schließlich. «Plus-Minus AG stimmt. Es kann sein, dass die Position mir beim Ausfüllen entgangen ist. Sie wissen ja, wie das ist.»

«Nein, ich weiß nicht, wie das ist, Herr Dr. Kellenberger», erwiderte Matter. Er lachte wieder. «Wem gehört denn diese Gesellschaft? Einem Mandanten?»

Der Anwalt zögerte, dann nickte er. Matter war sein Zögern nicht entgangen. Wer der Mandant sei, dürfe er ihm vermutlich nicht sagen. Kellenberger schüttelte den Kopf. «Aber», fuhr Matter fort, «um was für eine Art von Gesellschaft es sich handelt, sollte ich schon wissen. Falls Sie damit Probleme haben, kann ich mir die Unterlagen von Vaduz direkt besorgen. Das würde doch schon etwas Licht in die Affäre bringen.»

Matter machte eine Pause. Das Wort «Affäre» gefiel dem Juristen nicht. Es deutete Weiterungen an, Abgründe, die sich noch nicht ansatzweise ausloten ließen. Matter war ein kluger Verhandler. Um Zeit zu gewinnen, sagte Kellenberger: «Ja, ich verstehe.»

«Das ist sehr gut, Herr Dr. Kellenberger.» Matter lehnte sich entspannt zurück. Ein sonniges Lächeln glitt über sein Mondgesicht. Dann beugte er sich nach vorne und zwinkerte mit den Augen. «Oder könnte es gar sein, dass vielleicht Herr Dr. Kellenberger selber der Mandant ist?»

Sollte das der Fall sein, so müsste es natürlich in Ordnung gebracht werden, fuhr er nachdenklich fort. In Dr. Kellenbergers eigenem Interesse. Er schlage eine weitere Besprechung vor. Es wäre viel einfacher, wenn der Herr Doktor die Bilanzen selber mitbrächte, weniger Umtriebe für alle Beteiligten, eine günstigere Erledigung, und so weiter.

Sie vereinbarten ein nächstes Treffen. Kellenberger realisierte, dass er bis zum Hals in der Tinte steckte.


Am Dienstag strahlte die Morgensonne über Matters Schreibtisch bis hinüber zur Aktenwand. Das Buchenholz der Tischplatte glänzte; Kellenberger sah darauf nur eine einzige Akte, und das Foto drehte ihm immer noch den Rücken zu. Matter trug jetzt eine hellbeige Jacke, ein marineblaues Hemd, eine knallgelbe Krawatte und dunkelblaue Hosen. Er lächelte verbindlich, als er Kellenberger Platz anbot.

«Nun», begann er, «haben wir diese Unterlagen?»

«Ja. Hier.»

Während Matter die Zahlen studierte, musterte Kellenberger sein Gesicht. Seine feisten Wangen glänzten rötlich, man sah kaum Bartspuren. Eine kurze Stupsnase ließ das Gesicht flach erscheinen, und aus den Nasenlöchern standen dunkle Härchen hervor. Der Mund war klein, umrahmt von schmalen, farblosen Lippen. Seine blassblauen Augen starrten intensiv, fast böse auf das Papier.

«Also», sagte Matter nach langen Minuten. «Da geht es ja um wesentlich mehr als bloß einige Verwaltungsratshonorare. Plus-Minus AG verfügt über Wertschriften von mehr als vier Millionen Franken; allein im letzten Jahr wurden über zwei Millionen einbezahlt. Woher stammen diese Zahlungen, Herr Doktor?»

«Zum größten Teil von Geschäftsleuten aus Litauen, zum kleineren Teil aus der Schweiz.»

«Aha.» Matter lächelte verbindlich, dann holte er zum entscheidenden Schlag aus. «Also nochmals, Herr Doktor: Gehört diese Gesellschaft Ihnen?»

Kellenberger versuchte, klar zu denken. Wenn er verneinte, konnte Matter in Vaduz nachfassen. Er brauchte dort bloß einen Amtskollegen ein wenig besser zu kennen, und schon funktionierte die informelle Amtshilfe. Kellenberger hatte gepfuscht. Wenn er jedoch alles gestand, bestand die Möglichkeit, über die Höhe der unvermeidlichen Nach- und Strafsteuern zu verhandeln. Matter hatte im ersten Gespräch selber von einer günstigeren Erledigung geredet.

Kellenberger schluckte. «Ja», sagte er.

Matter wiegte den Kopf hin und her. «Das ist eine heikle Angelegenheit. Als Anwalt wissen Sie, Herr Kellenberger», jetzt ließ er den Doktortitel weg, «dass da mit beträchtlichen Nach- und Strafsteuern zu rechnen ist.»

«Ja.»

«Bei vier Millionen», dozierte Matter, «verteilt auf, sagen wir, drei Jahre, ist für die Nachsteuer bei der Bundessteuer und der kantonalen Steuer und für die Strafsteuer mit bis zu neun Millionen Franken zu rechnen. Plus Verzugszinsen natürlich.»

Jetzt machte Matter eine Pause. Seine Kugelaugen fixierten sein Gegenüber; zweifellos wollte er beobachten, was seine kleine Rechnung auslöste. Vielleicht erwartete er, dass Kellenberger zusammenbrach und anfing, um Milde zu betteln. Aber der Anwalt schwieg einfach.

 

Der Raum um ihn herum, Matter, das Pult, das Fenster mit dem Blick ins Freie verschwammen. Stattdessen flimmerte wie ein Film seine Lebenssituation über einen inneren Bildschirm. Sein Vermögen erreichte bei weitem nicht Matters neun Millionen. Er war geschieden und hatte seiner Ex noch während Jahren Alimente in astronomischer Höhe zu zahlen. Dass die ausfallen würden, erfüllte ihn mit bitterer Befriedigung. Seine beiden Töchter hatten sich auf die Seite ihrer Mutter geschlagen und mieden ihn seit Jahren, als hätte er die Beulenpest. Also brauchte es ihm nicht leidzutun, wenn er ihnen kein Erbe hinterließ.

In dieser kurzen Schweigeminute wurde ihm klar, dass er ein ziemlich unnützes Leben führte. Da war nicht einmal eine feste Freundin, für die er sich ein wenig verantwortlich fühlen konnte. Und seine Haushälterin aus dem nahen Elsass fand ohne weiteres eine neue Stelle, wenn das Geld für ihren Lohn nicht mehr reichte.

Endlich ergriff Matter wieder das Wort. Er schien zu ahnen, dass er lange auf eine kluge Bemerkung warten konnte. Wenn man in Betracht ziehe, begann er, dass Herr Kellenberger die Unterlagen freiwillig vorgelegt und eingeräumt habe, dass die Gesellschaft ihm gehöre, komme das einer Selbstanzeige recht nahe. Da könne man sich eine stattliche Reduktion der Strafsteuer auf vielleicht das Doppelte der hinterzogenen Steuer vorstellen. «Das macht dann noch knapp fünf Millionen.»

«Also spare ich vier Millionen», sagte Kellenberger, um nicht weiter schweigen zu müssen. «Vielleicht könnte man die Strafsteuer in Anbetracht des hohen Betrages weiter reduzieren auf das Anderthalbfache.»

«Möglich – alles möglich», nickte Matter. Sachlich fuhr er fort: «Es besteht natürlich auch die Möglichkeit, eine solche Schuld in Raten abzuzahlen.»

«Klar, wer kann schon fünf Millionen aus der Schublade ziehen!»

«Eben.» Matter versank wieder in Nachdenken. «Oder – ganz theoretisch – man könnte sich eine unbürokratische Regelung vorstellen, die wesentlich weniger kosten würde.»

«Wie denn das?», fragte der Anwalt, neugierig geworden. Die Verwaltung von Basel war nicht bekannt für unbürokratische Lösungen.

Matter lehnte sich zurück und fingerte an seiner Krawatte.

«Wie wäre es denn –», Matter richtete seinen Blick zur Zimmerdecke, «wenn Herr Kellenberger oder die Plus-Minus AG jemandem ein Darlehen über zwei Millionen einräumen würde, rückzahlbar in fünf Jahren. Die böse Meldung der Fürstlichen Steuerverwaltung aus Vaduz könnte ja in der Post verloren gegangen sein, das kommt immer wieder vor. Dann wäre das ganze Thema bei uns hier vom Tisch, und der Darlehensgeber hätte nochmals drei Millionen gespart.»

Kellenberger verstand ihn sofort. Diese Sprache kannte er von seinen litauischen Klienten.

«Kommen Sie zu mir in die Kanzlei», sagte er. «Dann regeln wir die Einzelheiten.»

2

Das nächste Opfer war Paul Regenass. Es war Freitag, der 21. März, Frühlingsanfang, und die Sonne putzte den Himmel sauber wie für ein schönes Fest.

Regenass werkelte an seinen Rosensträuchern links und rechts vom Eingang zu seinem Haus auf dem Bruderholz. Er trug ein offenes Flanellhemd und alte Kordhosen, ein Kranz von Schweißperlen umrahmte seine Stirne. Die Sommersprossen in seinem Gesicht leuchteten mit dem roten Bürstenhaarschnitt um die Wette. Den Mann, der ihm über die Buchsbaumhecke hinweg zuschaute, bemerkte er erst, als dieser anfing zu sprechen.

«Die geben bestimmt viel Arbeit.»

«So ist es – aber es macht auch viel Freude, wenn sie dann wieder blühen.»

«Gewiss.» Der Mann auf dem Gehsteig trug eine schmale Aktentasche. Er sagte: «Sie sind nicht zufällig Herr Regenass?»

«Doch, der bin ich. Und Sie?»

«Matter. Herbert Matter von der Steuerverwaltung. Ich bin froh, Sie hier anzutreffen. Es ist diskreter, als wenn ich telefoniere und vielleicht jemand anderer das Gespräch entgegennimmt.»

Jetzt richtete sich Regenass auf, strich sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirne und trat zur Hecke. Zum ersten Mal nahm er den runden Kopf mit der Halbglatze des anderen wahr.

«Und was gibt es denn Diskretes zwischen uns?», fragte Regenass.

«Ich bearbeite Ihre Steuererklärungen. Über die Deklarationen der letzten beiden Jahre müssen wir reden; es gibt da einige Unklarheiten. Ich würde gerne mit Ihnen einen Termin abmachen für eine Besprechung in meinem Büro.»

«Warum besprechen wir das nicht gleich hier?»

Matter nickte. «Auch recht.»

«Kommen Sie.»

Regenass winkte Matter zur Eingangstür und bat ihn herein. Zu diesem Zeitpunkt war es immer noch bloße Neugier, die ihn veranlasste, den Fremden in den Garten einzuladen. Im Unterschied zu Kellenberger plagte ihn keinerlei schlechtes Gewissen wegen seiner Steuerangelegenheiten; sie interessierten ihn nicht, und er verstand nichts davon. Er war sechsunddreißig Jahre alt, ein besessener Computer- und Internetspezialist mit einer eigenen Beratungsfirma, die ihm einen Haufen Geld einbrachte. Er führte Matter ums Haus herum zu einem Sitzplatz unter einem Vordach mit Blick über den ganzen großen Garten.

«Möchten Sie etwas trinken?»

Dieses freundliche Angebot verwirrte Matter. «Nein, danke. Ich bin ja gewissermaßen in amtlicher Funktion hier.»

«Wie Sie wollen. – Also, was ist mit meinen Steuererklärungen los?»

Matter räusperte sich. Er sagte: «Ihre Verbrauchsrechnung über die letzten zwei Jahre geht nicht auf.»

Paul Regenass lachte.

«Das ist nichts Neues. Meine Verbrauchsrechnung geht nie auf. Meine Frau wirft mir immer vor, dass ich zu viel verbrauche. Aber irgendwie arrangieren wir uns. Bis jetzt wenigstens.»

«Das ist gut!» Jetzt lachte auch Matter, dasselbe zu laute Lachen, das schon Kellenberger beim ersten Besuch in seinem Büro geärgert hatte. «Das ist sehr gut», sagte er zu Regenass. «Aber ich glaube, wir reden von verschiedenen Dingen. Ihr Geschäftsgang ist ausgezeichnet, Herr Regenass.»

«Ich darf zufrieden sein.»

«Ja, für die beiden letzten Jahre haben Sie ein Einkommen von zusammen 674 000 Franken deklariert. In derselben Zeit hat Ihr Vermögen gemäß Ihren eigenen Angaben um 650 000 Franken zugenommen. Also haben Sie vom Einkommen dieser zwei Jahre ganze 24 000 Franken verbraucht. Das kann nicht sein. In den Jahren zuvor deklarierten Sie ebenfalls Einkommen von je rund 300 000 Franken, ohne dass Ihr Vermögen zugenommen hat. Demnach gehen wir davon aus, dass Sie auch in den letzten zwei Jahren nicht weniger verbraucht haben. Das heißt, dass Sie in Wirklichkeit zweimal 280 000 Franken mehr verdient haben, als Sie uns deklariert haben.»

Nun geriet Matter in Fahrt. Er erläuterte Regenass die Folgen seines Vergehens mit derselben pedantischen Präzision, mit der er am Dienstag schon Kellenberger den Tag verdorben hatte. Seine Berechnung führte diesmal zu Nach- und Strafsteuern von 1 170 000 Franken. Er untermauerte seine Ausführungen damit, dass er das Steuergesetz aus der Aktentasche zog und Regenass die einschlägigen Bestimmungen unter die Nase hielt. Dieser schüttelte nur den Kopf und willigte am Ende sehr rasch ein, anstelle der Nachzahlung an den Staat Matter ein Darlehen von 350 000 Franken zu gewähren, zinsfrei für eine Dauer von fünf Jahren.


Am folgenden Mittwoch suchte Matter den Neurologen Dr. Hubert Huber auf. Er meldete sich bei der Praxishilfe als Patient für eine Konsultation, am liebsten gegen Ende des Nachmittags. Der Arzt lud ihn in sein Ordinationszimmer und bat ihn, Platz zu nehmen. Matter sah sofort den gestickten Teppich mit Wildtieren an der Wand neben dem Eingang und die hohe Glasvitrine an der Wand hinter Huber. Andenken aus Afrika, zierlich geschnitzte Schalen aus Ebenholz, eine Maske mit rötlichem Haar, ein Nashorn aus grünem Seifenstein, eine kunstvoll bearbeitete Kugel aus Elfenbein und ein nackter Krieger mit wurfbereitem Speer verleiteten ihn zu einem Kommentar.

«Herrlich! Haben Sie die alle selber gesammelt?»

«Ja, in Südafrika.» Damit war das Thema auch schon erledigt für Dr. Huber. «Was führt Sie zu mir, Herr …?»

«Matter, Herbert Matter.»

«Also, Herr Matter?»

Der Steuerbeamte spürte die höfliche Zurückhaltung. Er musterte das schmale Gesicht mit dem gewellten schwarzen Haar und die grauen Augen, die unbewegt seinem Blick standhielten. Der Arzt wiederum versuchte aus dem Mondgesicht mit den wässrigen Kulleraugen auf das Naturell seines neuen Patienten zu schließen. Die Finger seiner linken Hand trommelten ganz fein auf die Glasplatte des Pultes und verrieten eine leichte Ungeduld. Matter begriff, dass dieses Gespräch schwieriger würde als die fast spielerische Konversation mit Regenass. Er erwog kurz, sein Vorhaben aufzugeben und stattdessen über Schmerzen im linken Knie zu reden.

Aber schließlich siegte die Geldgier über die Vernunft. Matter griff in die Brusttasche, beugte sich vor und legte einen Ausweis auf den Tisch. Sehr förmlich sagte er:

«Ich bin Veranlagungsbeamter der Steuerverwaltung. Zu meinen Aufgaben gehören unter anderem die Kontrolle Ihrer Steuererklärungen und die Veranlagung Ihrer Steuern. Ich habe mich bei Ihnen angemeldet, um Ihnen die Unannehmlichkeit eines Gangs zu unserer Amtsstelle zu ersparen.»

«Seit wann nehmen unsere Beamten derart Rücksicht auf die gewöhnlichen Bürger? Was ist der Grund?», fragte der Arzt. Seine Stimme klang rau und ungläubig.

«Es ist der Steuerverwaltung bekannt geworden, dass Sie über bedeutenden Immobilienbesitz in Frankreich verfügen», erwiderte Matter sachlich. «Davon erscheint nichts in Ihren Steuererklärungen. Gibt es dafür eine Erklärung?»

Der Arzt zuckte die Achseln. «Ich ging davon aus, dass ausländische Liegenschaften nur im Ausland steuerpflichtig sind.»

«Das stimmt im Großen und Ganzen», bestätigte Matter. «Aber es stellt sich die Frage, aus welchen Mitteln die Objekte erworben worden sind. Vielleicht gibt es ja eine Erklärung, die mir bis jetzt entgangen ist.»

Langsam dämmerte es Huber, dass er ein Problem hatte. Er sagte:

«Das Bauernhaus im Burgund wurde mit einem Darlehen meines Schwiegervaters finanziert, 280 000 Euro.»

«Na also!» Jetzt lachte Matter, zum ersten Mal, seit er die Arztpraxis betreten hatte. «Da ist ja schon ein Teil des Rätsels gelöst. – Aber Sie leben von Ihrer Frau getrennt. Und trotzdem ein Darlehen des Schwiegervaters?»

«Das Darlehen war vor der Trennung.»

«Aha. Ich nehme an, dass darüber Dokumente bestehen.»

«Selbstverständlich. Und eine Hypothek zugunsten meines Schwiegervaters. Das Haus gehört praktisch ihm.»

«Und das Geschäftshaus in Straßburg?» Jetzt war Matter in seinem Element. «Auch vom Schwiegervater finanziert?»

«Nein. Vor zwei Jahren gekauft.»

«Der Preis?»

«Eine Million achthunderttausend Euro. Aber hören Sie –»

Auf der Stirn des Arztes erschienen zwei Zornesfalten. «Hat Sie meine Frau –»

Matter hob abwehrend die Hände. «Aber ich bitte Sie, Herr Doktor!»

Huber ließ den Rest seiner Frage unausgesprochen. Er dachte an Marianne. Wie sie vor anderthalb Jahren mit dem Spaniel ausgezogen war und außer ihrem Mercedes-Coupé demonstrativ nichts mitgenommen hatte. Er wolle ja nichts mehr von ihr. Und sie gedenke ihr Leben nicht damit zu verplempern, sich seine Krankengeschichten anzuhören. Auf seine Frage, ob sie einen Freund habe, erklärte sie, das gehe ihn nichts an. Und jetzt kam dieser Matter mit seinen geschmacklosen Kleidern und seiner Schnüffelei.

Da Huber schwieg, fuhr Matter fort: «Dann wurde das Haus in Straßburg aus Einkommen finanziert, das man vergessen hat zu deklarieren. Sehe ich das richtig?»

«Ja.»

Matter rückte in seinem Patientenstuhl nach vorne, nahe zu Hubers Pult. Leise, wie um das Problem zu verkleinern, sagte er: «Wissen Sie, Herr Dr. Huber, das passiert sehr oft. Da hat man irgendwo ein kleines Konto. Und weil es klein ist, vergisst man es bei den Steuern. Dann taucht ein unerwartetes Nebeneinkommen auf, und ganz von selber landet es auf dem kleinen vergessenen Konto. So kommen manchmal ganz ordentliche Beträge zusammen, und plötzlich ist es nicht mehr möglich, diese Beträge in den offiziellen Kreislauf zurückzuführen.» Er machte eine Pause und musterte den Arzt. Dessen Gesicht sah mit einem Mal müde aus; es verriet lautlos Zustimmung, und der kämpferische Ausdruck war verschwunden. Matter ergänzte seine Ausführungen:

 

«Aber jetzt müssen wir uns mit dem Problem der Nach- und Strafsteuern befassen, verstehen Sie, Herr Doktor?»

«Ja.»

Damit war der Augenblick gekommen, der Herbert Matter am meisten Freude bereitete. Sein Gesicht belebte sich, und er fing an, Dr. Huber die vom Gesetz vorgesehenen Nach- und Strafsteuern vorzurechnen. Etwas bescheidener als bei Kellenbergers Fall lautete die Endsumme auf lediglich siebeneinhalb Millionen Franken. Weil Herr Huber nichts abgestritten und somit eigentlich aktiv an der Aufklärung mitgewirkt habe, ließe sich das Ganze auf, sagen wir, viereinhalb Millionen reduzieren. Es sei denn, hier machte Matter eine effektvolle Pause, es sei denn, Herr Huber sei daran interessiert, über eine andere, noch flexiblere Variante nachzudenken.

«Und das wäre?», wollte der Arzt wissen.

Wenn man den starren, eidgenössisch-bürokratischen Weg für einen Augenblick vergesse, dann könnte eine Lösung darin bestehen, dass Herr Dr. Huber an einen Empfänger, der noch zu benennen wäre, ein Darlehen von anderthalb Millionen ausrichte. Zinsfrei, für eine Dauer von fünf Jahren. «Es könnte ja sein», schloss Matter, «dass die Information über die französischen Liegenschaften gar nie in den Akten aufgetaucht ist.»

«Oh!»

Huber war sichtlich verblüfft. Mit einem Kugelschreiber fing er an, Kringel auf seinen Rezeptblock zu malen. Matter sah ihm an, dass er intensiv nachdachte. Endlich hob der Arzt den Kopf.

«Ihr Vorschlag ist in der Tat ungewöhnlich. Er tönt zu gut, um wahr zu sein. Ich werde meinen Anwalt konsultieren. Wenn er mir nicht abrät, werde ich Ihr Angebot annehmen.»

Jetzt geriet Matter aus der Fassung. Er sagte: «Das würde ich an Ihrer Stelle nicht tun, Herr Huber.»

«Und warum nicht?»

«Meine Anregung zur Erledigung Ihrer Steuerhinterziehung ist ein Entgegenkommen von mir, um es klar auszudrücken. Wenn eine Drittperson eingeschaltet wird, ist mein Vorschlag hinfällig. Ich werde Sie für das hinterzogene Einkommen samt Verzugszinsen veranlagen.»

«Dann zeige ich Sie wegen Erpressung an!», rief der Arzt. Vor lauter Empörung hatte er Mühe mit dem Atmen, und sein Gesicht lief rot an.

«Vergessen Sie’s», erwiderte Matter, jetzt wieder gefasst und ruhig. «Wenn Sie das tun, zeige ich Sie an wegen versuchter Beamtenbestechung. Sie haben mir vorgeschlagen, mir anderthalb Millionen zu zahlen, wenn ich Ihre Steuerhinterziehung unter den Tisch fallen lasse. Zeugen haben wir beide keine. Aber Ihr Dossier liegt sicher in meinem Büro am Fischmarkt.» Matter stand auf. «Ich glaube, ich gehe besser.»

«Setzen Sie sich bitte», versuchte Huber einzulenken. «Wir sollten das in Ruhe besprechen. Ich habe nicht jeden Tag mit Steuerbeamten zu tun.»