Psychodelica

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Patrik Knothe

Psychodelica

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

Patrik Knothe, geboren 1987 in Singen am Hohentwiel, lebt nach Kaufmannslehre und Philosophiestudium in Ehingen im Hegau. Mitglied des Konstanzer Künstlerzirkels „Eule“ sowie der Meersburger Autorenrunde. Beiträge für das literarische Jahresheft „Der Mauerläufer“ und die alemannische Muttersprach-Gesellschaft. Veröffentlichung von Gedichten in diversen Anthologien. 2014 erschien sein erster Roman „Der gefesselte Dionysos“. 2015 folgte „Schwarzweiß – oder eine Geschichte über den Tod“.

Bibliografische Information durch die

Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Coverfoto © Kevin Knothe

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

„Elende Sicherheit gibt von Elenden selber die Bürgschaft.“

Homer, Odyssee

„Bringt Honig mir, eis-frischen Waben-Goldhonig!

Mit Honig opfr’ ich Allem, was da schenkt,

Was gönnt, was gütig ist –: erhebt die Herzen!“

Friedrich Nietzsche, Das Honig-Opfer

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Zitate

Von Fischen und Pyramiden

Versuch über das Gestell

Vom kleinen Sommer und dem großen Postwagenraub

Von einsamen Minaretten und dem Sternenweg zur Sonne

Letzter Versuch über das Gestell

Die Freude in d-moll

Epilog

VON FISCHEN UND PYRAMIDEN

I

Ich war hier und die Erde rauschte an mir vorüber. So wollte ich es … Als schwebte ich draußen beim Mond, versteckt im endlosen Dunkel, die leuchtenden Sterne Lichtjahre entfernt … Ich sah den strahlenden blauen Ball mit seinen ihn umziehenden weißen Schleiern, mit seinen Gebirgen, Gletschern, Steppen, Wäldern und Wüsten, durchmischt mit Milliarden umhertollender Pünktchen. Meine Augen konnte ich nicht abwenden, doch wieder hinuntergehen … – Gott bewahre und gesegnet sei mein Dunkel!

II

„So wollte ich es“, sagte ich, doch blieb mir denn eine Wahl? War es denn freier Wille, der mich hier nach draußen geführt hatte, weit weg vom Werken und Treiben, vom Fließen und Hämmern, vom Klicken und Schlucken? Oh, könnte ich klicken und schlucken, nicken und tun, so wäre ich vielleicht nie hier draußen gelandet. Das Schlimmste: Zumeist auch noch war ich so schamlos, aus meiner Not eine Tugend zu machen und glücklich darüber zu sein, es nicht zu können!

III

Für meine Schamlosigkeit und Schwäche auch noch Verständnis zu erwarten, war nicht wenig verlangt. Zumindest versuchte ich mich darin, für alles fehlende Verständnis ein wenig Verständnis aufzubringen. Verständnis zum Beispiel für meinen Chef von damals, der mich aus der – wie sagte man? – Mittellosigkeit zog und mir an einem Montagmorgen die Regeln seines Paketlieferdienstes einzubläuen versuchte.

Vor der Halle musste ich warten, bis jemand kam, der die Kombination für das Zahlenschloss der massiven Metalltür kannte. Auf mein Klingeln hatte niemand reagiert. Was mich verwunderte. Denn während draußen mit mir der Morgen sang und seine rosa Finger über den Horizont streckte, alles erst erwachte und man das frische, neue Licht willkommen hieß, war der Tag beim Paketlieferdienst schon in vollem Gang. Aus der Halle hörte ich Krachen, Poltern, ratternde LKW-Motoren und ein Meer von Stimmen. Direkt an dieser Schwelle zu stehen, zwischen Morgen und Tag, zwischen Gesang und Gepolter, konnte ich nicht ertragen. Mit beiden Händen hielt ich mir die Ohren zu, beobachtete den Himmel und fragte mich, wieso dort drinnen bereits der Tag wütete, wenn es doch erst Morgen war.

Irgendwann tippte mir jemand auf die Schulter. Ich nahm die Hände von den Ohren, versuchte nicht auf den Lärm aus der Halle zu achten – schließlich war es immer noch Morgen! – und drehte mich um.

„Dürfen wir auch mal rein?“

Zwei Frauen, ebenso wie ich mit der Jacke der Firma bekleidet, standen vor mir. Ihren Augen nach zu urteilen, befanden sich die beiden, konträr zum Morgen hier draußen und dem Tag in der Halle, noch in tiefster Nacht.

„Nachts geht man nicht nach draußen“, sagte ich und machte schelmisch lächelnd den Weg frei.

Die beiden warfen sich einen missmutigen Blick zu, zogen die Augenbrauen zusammen und ihre faltigen, nachtdurchtränkten Gesichter verwandelten sich in die Fratzen wütender Bulldoggen, bereit, zuzubeißen und mich in Stücke zu reißen. Ob ich denn hier angestellt sei, bellte eine mit gefletschten Zähnen.

„Ich warte hier, bis mich jemand hineinlässt. Ich wollte mich nirgendwo anstellen“, antwortete ich und zu meinem Pech nahmen sie mich tatsächlich ernst.

Ihr hämisches Lachen, das daraufhin ertönte, klang wie ein krankes Hecheln. Ich dachte, es sei wohl das Beste, überhaupt nichts mehr zu sagen und folgte den kopfschüttelnden Bulldoggen mit klopfendem Herzen in die Halle. Vielleicht hätte ich nach der Kombination für das Türschloss fragen oder sie mir einprägen sollen, doch wer vermochte schon inmitten dieser verwirrenden Mixtur aus Morgen, Tag und Nacht seine fünf Sinne beieinander zu halten …

IV

„Sie sind der neue Angestellte?“, fragte der Schichtleiter kurze Zeit später.

Zu meiner Erleichterung hatte ich sein Büro gleich hinter dem Eingang gefunden und war darum herumgekommen, die zwei Bulldoggen noch einmal anzusprechen.

Ich bejahte zögernd und wollte zugleich fragen, wo ich mich denn bitteschön anstellen solle.

Aber ich fragte nicht.

Die glasigen, beinahe durchsichtig wirkenden Augen des Mannes, tief eingegraben in den aufgedunsenen, geröteten Fleischwulsten seines Gesichts, verweilten irgendwo hinter mir. Nervös wippte er dazu in seinem Drehstuhl vor und zurück, nahm einen tiefen Schluck aus seiner Kaffeetasse und erhob sich unter Ächzen und Stöhnen. Die Nacht schien hier nichts Ungewöhnliches zu sein.

„Gut“, antwortete er und schüttelte meine Hand. „Willkommen! Ich erkläre Ihnen das Wichtigste und bringe Sie anschließend zu Ihrem Einweiser.“

Sowie ich ihm durch die doppelflügelige Tür in die Verlade- und Sortierstation folgte, vermochte ich keinen klaren Gedanken mehr zu fassen. Ich war in eine stürmische, graue See gelaufen, deren Wellen nun mit Gewalt über mich hereinbrachen. Überall wimmelte es von kleinen, gelben Fischen, so wie auch ich nun wohl zu solch einem Fisch geworden war. Der Schichtleiter begann zu sprechen, doch seine Worte verschwanden im Tosen des Meeres. Es rummste, knallte und krachte zwischen den eng aneinander liegenden Sortierstationen, die wie Felsen aus dem wütenden Gewässer hervorragten. Jeder der gelben Fische hatte eine eigene Station, wo er die Lieferungen seiner Route gemäß einordnete – so viel jedenfalls verstand ich. Dann schnappte ich das Wort Gestelle auf und sah, wie der Schichtleiter dazu auf die circa einen Ster fassenden Metallkästen neben uns zeigte. Was hatte ich damit zu tun? War es meine Aufgabe, mich zu ihnen zu stellen? Wäre ich dann, neben den Gestellen, endlich das, was sie einen An-gestellten nannten? Gesichter blickten neugierig in unsere Richtung und ich fand, dass das Gelb sich nicht mit ihrer Hautfarbe vertrug und es sie blass und kränklich aussehen ließ. Vielleicht waren sie auch krank … Jedenfalls nahm ihr Fisch-Charakter deutlich ab, je näher man ihnen kam und es wurde mir immer schwerer, mich in der See zurechtzufinden. All die zupackenden und loslassenden Hände, das müde Stöhnen, all die gebückt Schlurfenden und aufrecht Laufenden, die Schleppenden und Schiebenden. All die feinen, süßen Düfte und der beißende Gestank.

Erschrocken fuhr ich zusammen, als ich sah, dass es gar nicht mehr der Schichtleiter war, der neben mir stand, sondern ein Fisch wie ich, der mich mit sanfter Gewalt weiter in die Tiefe zu einer der Sortierstationen zog. Fasziniert beäugte ich die vielen Straßennamen und Hausnummern unter den im Halbkreis angeordneten Fächern. Dahinter konnte ich erkennen, wie ein schwer schnaufendes Seeungeheuer in maschinellem Rhythmus und schier unglaublicher Geschwindigkeit seine eigenen Fächer mit Briefen und Päckchen füllte. Überhaupt hatten es die Meeresbewohner überaus eilig, als sei morgen schon kein Wasser mehr da, durch das sie ihre Bahnen ziehen könnten. Vielleicht hätte ich den Fisch neben mir danach fragen sollen. Doch nach der schlimmen Erfahrung mit den zwei Bulldoggen, die sich inzwischen bestimmt dem Leben im Wasser angepasst hatten, beschloss ich, dass es besser war, den Mund zu halten.

 

„Okay?“, schrie mir plötzlich der Fisch ins Ohr.

„Was?“, schrie ich zurück.

Es sah ganz so aus, als könne man nur schreien.

„Jetzt fängst du mal mit der hier an“, brüllte er weiter und stieß mit dem Fuß gegen eine gelbe Kiste. „Wenn du Fragen hast: Ich bin nur zwei Stationen weiter.“

Der Fisch zeigte mit dem Daumen hinter sich, zwinkerte kumpelhaft und war mit einem Satz verschwunden. Ungeachtet all der Stürme und Schreie war ich froh darum, nun ganz in Ruhe das schnaufende Seeungeheuer beobachten zu können. Dergleichen hatte ich noch nirgendwo gesehen und es machte ganz den Anschein, als käme dieses Wesen überhaupt nicht aus dem Meer, sondern von dort, wo man sich die Gestelle besorgte. Gebannt beobachtete ich das Ungeheuer und wartete darauf, zumindest einmal eine klitzekleine rhythmische Unregelmäßigkeit in seinen Gebärden zu finden. Aber offensichtlich waren hier Dinge am Werk, die ich nicht verstand. Nein! So sehr ich mich auch bemühte – es gelang mir nicht, Verständnis aufzubringen. Nicht für die Begebenheiten in dieser Halle und erst recht nicht für das Seeungeheuer. Stets war es dasselbe: Es bückte sich, zog ein Päckchen aus einer gelben Kiste und steckte es in das dazu gehörende Fach.

Bücken – rausziehen – reinschieben.

Bücken – rausziehen – reinschieben.

Allmählich begann ich, in Gedanken eine Melodie über diesen Atomuhr-genauen 3/4-Takt zu legen, und möglicherweise wäre ein ganz hübsches Stück entstanden, wenn nicht plötzlich wieder der Schichtleiter neben mir gestanden und mich angeschrien hätte. Ja, das Schreien war in der Halle ganz normal und ich begriff natürlich nichts davon, was er schrie. Doch das extrem dunkle, fast schon ins Schwärzliche übergehende Rot seiner Fleischwulste war eindeutig: Etwas schien ganz und gar nicht so zu laufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Ich war verzweifelt! Auf Worte, die ich nicht verstand, konnte ich selbstverständlich auch nichts erwidern. Mein Schweigen aber machte ihn nur noch rasender. Einige der Fische – das Seeungeheuer ausgenommen – unterbrachen schon ihre Arbeit und drehten sich nach uns um. Irgendwann, nachdem der Schichtleiter wild, als könne er nicht mehr schwimmen, durch die Wellen gefuchtelt hatte, packte er mich grob am Arm und zog mich zurück zu seinem Büro, wo er mir einen Stapel Papiere – er sagte, es seien „meine Papiere“ – in die Hand drückte und mich zur Eingangstür hinausschob.

Endlich befand ich mich wieder beim Morgen, so wie sich das gehörte. Meine Sinne wurden klar und es gelang mir, die Dinge zu verstehen, die er mir auf den Weg gab:

„Sie nutzloser Drückeberger!“, sagte er. „Und ich wollte Ihnen einen Gefallen tun … Kommen Sie niemals wieder und verarschen Sie jemand anderen!“

Er brauchte sich keine Sorgen zu machen, dachte ich und blickte zum Himmel, wo die rosa Finger einem zarten Blau gewichen waren. Wiederkommen würde ich auf gar keinen Fall. Ich hatte auch nicht Eindruck, als habe er mir einen besonderen Gefallen damit getan, mich zu einem Gestell zu machen.

V

Wer aus den Brunnen der Menschen trinkt, der nehme sich in Acht vor schwarzen Löchern, schrieb der Dichter und während ich das Industriegebiet verließ und Richtung Innenstadt schlenderte, war mir, als habe er das vor allem für mich geschrieben.

Noch immer trug ich die gelbe Fischjacke. Auch wenn sie mir viel zu groß war, fühlte ich mich von ihr eingeengt und mir wurde plötzlich furchtbar heiß. Hektisch zog ich die Jacke aus und warf sie so weit weg von mir, wie ich konnte.

VI

Begebenheiten wie jene beim Paketlieferdienst waren mir nicht zum ersten Mal widerfahren. Im Grunde hatte ich mich bereits damit abgefunden, ein Leben im Jenseits zu führen, wo es keine Plastikkärtlein mit Namen und Nummern darauf gab. Keine Stempelkarten und Verträge. Keine mit dem deutschen Adler verzierten Häuser, die mir ein Mindestmaß an Sicherheit und Obdach gewährten. In meinem Jenseits gab es das nicht und ich hätte am liebsten gesagt, dass es gut so war.

VII

War es die Angst, die mich dazu verleitete, ab und an dennoch den Versuch zu wagen, es mir in meinem Jenseits ein wenig behaglicher und sicherer einzurichten? Gut möglich … Doch schlimmer als Angst war Resignation und vor der hütete ich mich. Selbst wenn ich in frostigen Winternächten nach warmen Stuben suchte.

Man darf nicht aufgeben, sagte ich mir, als ich mich wieder einmal beim Zählen erwischte. Inzwischen war ich in der Innenstadt angelangt und die warm leuchtenden, hellroten Pflastersteine, über die ich ziellos hinwegging, zogen mich sofort in ihren Bann. Das Zählen solcher Steine erschien mir als etwas Natürliches – Normales, wenn man so will –, etwas notwendig zu meiner Person Gehörendes, wie das Kratzen des Bartes oder das Aneinanderreiben der Füße, wenn ich keine Schuhe trug. Stets lief der Vorgang nach demselben Muster ab: Je nach Bauart meines Untergrunds erschienen mir zwei Umstände als wichtig: Zum einen war dies der Abstand, der zwischen meinen Schritten lag. Er durfte nie verändert werden. Je nach Größe der Pflastersteine mussten es derer immer zwei, drei oder auch vier sein, die mit einer Bewegung überquert wurden. Zum anderen war von Belang noch die Stelle, auf die ich trat. Am schönsten war das Gehen, wenn der Stein in etwa dieselbe Länge wie mein Fuß aufwies und ich die freie Fläche mit jedem Schritt nur auszufüllen brauchte, wobei ich selbstverständlich zugleich streng darauf achtete, niemals auf eine Rille zu kommen und den perfekten Fluss des Fortkommens, den Einklang, das Gleichgewicht zwischen dem Weg und meinem Körper, zwischen der Umgebung und mir, zwischen Innen und Außen zu unterbrechen.

VIII

Ich glaubte, ich zählte die Pflastersteine in den Städten, um in die Städte selbst ein wenig Ordnung zu bringen, was – wie ich fand – dringend vonnöten war. Lange hatte ich es nicht mehr getan. Wohl vor allem, weil ich lange jeder Stadt aus dem Weg gegangen war. Lag es an den Städtern, dass die Ordnung verletzt wurde? An den mit erhitzten, geröteten Wangen und gefrorenen Augen gnadenlos über die Pflastersteine Rasenden? Oder an der Stadt an sich? An ihrer Enge? Ihrem Zuchthauscharakter? Ihrer kunststöfflichen Abgeschiedenheit vom Leben? An ihrer Leuchtreklame? Oder an den Millionen Glasscheiben, die so durchsichtig wie die Gittertüren von Gefängniszellen waren? War die Stadt für die Städter verantwortlich oder die Städter für die Stadt? Ich wusste es nicht. Zumindest brachte ich Ordnung in die Spelunke, indem ich zählte. Vielleicht hätte ich mehr als das tun können, wenn ich nicht nutzlos gewesen wäre.

IX

Oh, was hätte ich nicht alles tun können, wenn ich nicht nutzlos gewesen wäre! Je mehr ich über die Worte des Schichtleiters beim Paketlieferdienst nachdachte, umso mehr wurde mir klar, wie nutzlos ich war! Hatte ich die Schule doch gerade einmal so abschließen können und lief seitdem – es war plötzlich sehr einfach zu formulieren – ziemlich nutzlos durch die Welt. Wie zarte Grübchen sich bildeten, wenn weiche Frauenlippen lachten, wie schmale Bäche in der Mittagssonne glitzerten und sich rauschend durch grüne Wiesen schlängelten – darüber wusste ich eine Menge zu sagen. Doch war dies jemandem von Nutzen? Meiner Familie zum Exempel, meinen Alpen-Eltern, die noch nie eine Stadt betreten und mich zugleich angefleht hatten, in eine zu gehen und etwas aus mir zu machen? Ich glaubte nicht, dass ihnen meine glitzernden Bäche als etwas gelten würden. Was aber hätte ich denn sonst aus mir machen sollen?

Den Vorlesungen an der Universität war ich bereits nach ein paar Wochen ferngeblieben. Was mich an den Wissenschaften interessierte, konnte ich mir auch ohne Doktoren, Professoren, Tutorien oder die benoteten Übungsblätter beibringen. Was mich nicht interessierte, wollte ich auch nicht lernen. Aber wohin nun gehen? Eine Arbeit verrichten, wie es mein Vater im altehrwürdigen Alpen-Rathaus oder meine Schwester bei den Maschinenbauern im Land der Schwaben tat? Nun, da ich mittlerweile wusste, wie nutzlos ich war, brauchte ich wohl nicht weiter darüber zu grübeln. Wieder zurück zu den Alpen-Eltern konnte ich trotzdem nicht, auch wenn ich sie vermisste. Sie und die mächtigen Gletscher auf den Gipfeln der Berge, den kleinen Fichtenwald hinter meinem Geburtshaus und die freie, reine Luft, die die Städter nicht einmal aus Träumen kennen.

X

Die Innenstadt füllte sich immer mehr und ich bekam Lust, mich in eines der vielen Lokale zu setzen und die Gesichter und Regungen der Städter zu beobachten. Wobei ja vielleicht einige auch gar keine Städter waren und nur so aussahen. Würde ich korrekt unterscheiden können?

Ich besetzte einen der letzten freien Tische des Café Bellezza, dessen Außenbereich direkt an einer stark belaufenen Kreuzung lag, und spannte den cremefarbenen Sonnenschirm auf.

Man braucht manchmal Schatten, um sehen zu können.

Weniges ist interessanter und aufregender, als in den Mienen der Männer und Frauen zu lesen und in Gedanken ihre Lebensgeschichten zu spinnen, über ihre Ängste und Leidenschaften zu mutmaßen oder sich anhand ihrer Kleidung vorzustellen, wie wohl ihre Wohnungen und Häuser eingerichtet waren.

Da war der massige Mann auf zwölf Uhr. Weder dick, noch muskulös, machte seine unzerstörbar wirkende Gestalt mit dem überbreiten Kreuz und der weit hinausgestreckten Brust dennoch einen gewaltigen Eindruck auf mich. Ich war allerdings sicher, dass er seinen Lebensunterhalt mit Arbeiten verdiente, zu denen man solch einen Körper gar nicht benötigte. Die wächserne, frisch rasierte Haut, das teure, dunkelblaue Polohemd, eine gut sitzende Jeans sowie ein Paar brauner Lederschuhe ließen auf einen Büro-Krieger schließen, der sich seiner Freundin zuliebe an seinem freien Tag stöhnend von der Ikea-Couch aufgerafft und zu einem Spaziergang durch die Stadt bereit erklärt hatte.

„Du musst mal wieder vor die Tür“, hörte ich die an der Hand des Mannes gehende Frau sagen. „Wir haben schon so lange nichts mehr unternommen. Autorennen kannst du jedes Wochenende gucken!“

Die kleine, blonde Frau strahlte unter ihrer, mir übertrieben vorkommenden, von der Allgemeinheit jedoch immer noch als angemessen betrachteten Schminkschicht. Er auf der anderen Seite hatte das beschämte Grinsen eines Mannes aufgesetzt, der so tat, als habe er Spaß bei dem, zu was ihn seine Freundin nötigte. Er spekulierte wohl gerade darüber, was in aller Welt hier falsch gelaufen war und sehnte sich nach seinen Rennwagenmotoren. Wahrscheinlich war seine Freundin auch mehr darüber entzückt, ihn endlich einmal wieder zu einem Spaziergang überredet zu haben, als spazieren zu gehen.

Ich sagte übrigens bewusst ‚Freundin‘, da ich mir sicher war, dass die beiden nicht verheiratet waren. Ein Mann, der so grinst, ist nicht verheiratet. Und ist er es doch, so wird er es nicht mehr lange sein. Bald gäbe es Streit zwischen den beiden, immer häufiger und immer heftiger. Man würde es „noch einmal versuchen“ und vielleicht noch einmal „noch einmal versuchen“. Aber bereits dann würden sie froh darüber sein, noch nicht geheiratet zu haben, noch Zeit zu haben, noch „frei“ zu sein. Eine baldige Trennung der beiden schien mir unvermeidlich. Und wenn dann, nach ein paar Wochen des Friedens auf der Ikea-Couch mit den schreienden Rennwagenmotoren, Langeweile und Sehnsucht sich breitmachten, würde der Mann seine alten Kollegen reanimieren, um bei der nächsten Ü30-Party die nächste Blondine zu bezirzen, die eine Schwäche für Unternehmungen an warmen Frühlingstagen hatte. Vielleicht würden sich die beiden dann sogar wiedersehen und es noch einmal noch einmal „noch einmal versuchen“.

XI

Ich fing gerade damit an, einen schnauzbärtigen Mann zu analysieren – mutmaßlich ein Beamter –, der mit schlurfenden Schritten neben einem Mädchen ging. Ich glaubte, es müsse sich um seine Tochter handeln. Skeptisch und berechnend wanderte ihre jugendliche Stupsnase ohne Unterbrechung von rechts nach links und wieder zurück, als misstraue sie solch einer Menschenmasse und rieche ihr Gift in jedem Winkel. Sie war mir sehr sympathisch. Plötzlich aber unterbrach mich die Bedienung des Café Bellezza. Unterbrach mich im wahrsten Sinne des Wortes … Unterbrach mich darin, zu vergessen, dass ich in einem Lokal war und etwas bestellen musste. Unterbrach mich darin, die Tochter des Beamten zu beobachten. Unterbrach mich darin, aus meinem Schneckenhaus die Welt zur Theaterbühne umzufunktionieren … Auf einmal war ich mittendrin.

 

„Was darf’s sein?“, fragte sie und strich sich eine lange, brünette Strähne hinter’s Ohr.

Das eng anliegende, an den Ärmeln aufgekrempelte weiße Hemd schien genau für ihren elfenbeinfarbenen Körper gefertigt worden zu sein. Wir blickten uns in die Augen und fingen beide an zu lächeln. Mechanisch bestellte ich ein Wasser mit Orangensaft und starrte immer noch auf den Eingang des Lokals, als sie bereits längst wieder darin verschwunden war. Dann dämmerte mir etwas und ich zog eilig meinen Geldbeutel aus der Hosentasche. Lediglich ein paar rote Centmünzen tummelten sich darin. Von Scheinen ganz zu schweigen. Überhaupt wirkte das lederne Ding seltsam ausgehöhlt und leicht, seitdem Plastik, Kassenzettel und Visitenkarten entfernt worden waren. Ich lief in den Innenbereich des Café Bellezza und fand sie hinter der Bar, wo sie mein Getränk zubereitete.

„Tut mir leid“, begann ich, unschlüssig, wie ich nun fortfahren sollte.

Überrascht wandte sie sich nach mir um, lächelte aber, als sie mich wiedererkannte.

Ich sprach vorhin von weichen Lippen, doch bis dato hatte ich keine solchen gesehen. Rot wie Blut waren sie und bestimmt viel zu empfindlich, als dass man etwas anderes mit ihnen hätte tun können, als sie sanft zu küssen. Kaum vermochten sie zum Essen oder für Wortwechsel zu taugen und ich meinte, eine solche Frau habe ohnehin weder das eine noch das andere nötig.

„Hat sich erledigt mit der Abkühlung“, sagte ich. „Ich kann nicht bezahlen.“

Sie antwortete nicht, sah mich nur an. Ihre blutroten Lippen öffneten sich ein wenig und die von Nachtblau umrundeten Pupillen schnellten zwischen meinen Augen hin und her. Ich hätte einfach hinauslaufen und alles als für erledigt betrachten können, doch ich tat es nicht. Aber auch sie, die sich einfach umdrehen und weiter ihrer Arbeit hätte nachgehen können, tat es nicht. „Schade“, sagte sie nur, strich sich nervös das Hemd glatt und mir war, als sei der Frühling mit seinen Düften plötzlich von der Straße ins Café Bellezza geflogen. Ich klebte an der Bar.

„Ja“, hauchte ich zurück, nahm meinen Mut zusammen und … Die Tür zur Küche flog auf und ein Mann mit Schürze, Ziegenbart und Halbglatze stürmte heraus. Nur den Bruchteil einer Sekunde brauchte er, um zu bemerken, dass das Mädchen im Moment anderes im Sinn hatte als ihre Arbeit.

„Mach dich mal ausnahmsweise nützlich und bring das zu Tisch sechs“, sagte er und zeigte auf ein silbernes Tablett, auf dem zwei Tassen Latte Macchiato mit Pistazienkeksen standen. Der Mann versuchte, zugleich scherzhaft und autoritär zu wirken. Das Mädchen antwortete mit einem tüchtig-engagierten „Alles klar“, streifte mich ein letztes Mal mit ihrem Nachtblau und ließ das Wasser mit Orangensaft unbeachtet stehen.

XII

Ein paar Meter vom Café Bellezza entfernt setzte ich mich auf einen der großen, schwarzen Granitsteine, die im Viereck um den Springbrunnen im Herzen der Kreuzung aufgestellt worden waren. Der Brunnen selbst, ein abstoßendes, neumodisches Monster aus Metallstangen, das eine Pyramide jubelnder Menschen darstellen sollte, rostete bereits an den Ecken. Ich wusste nicht, ob dies vom Künstler so beabsichtigt war oder nicht. Sinn ergab beides.

XIII

Ich begann, weiter nach Geschichten zu suchen, doch ich fand nur Gesichter. Bleiche wie das des Rennwagen-Mannes, gerötete mit frisch einrasierten Wunden, sonnengebräunte mit tiefen Falten, sonnenstudiogebräunte mit gezupften Augenbrauen: Alle waren sie gleich nichtssagend und ich sah immer nur das Mädchen mit den blutroten Lippen.

Als die Gelegenheit sich bot, wechselte ich den Sitzplatz und bekam so eine ideale Sicht auf das Café Bellezza. Wenn das Mädchen inzwischen nützlich geworden war, so schien es für mich ohnehin besser zu sein, sie nur aus der Ferne zu beobachten. Fernbeziehungen seien ja im Trend, hatte ich gehört. War man als Stalker bereits in einer Fernbeziehung?

An dem Tisch, an dem ich gesessen hatte, nahm ein älterer Mann mit Anglerhut und Pilotenbrille einen tiefen Schluck aus seinem Weizenglas und genoss den Schatten, den ich ihm bereitet hatte. Waren auch ihm die Augen und die Lippen des Mädchens aufgefallen? Ich schaute und schaute und schaute. Doch sie kam nicht mehr, war wie vom Erdboden verschluckt und ich sah mich schon ins Café Bellezza stürzen, nur um sicher zu gehen, dass sie noch da war.

Dann kamen die Warnsignale … Mir wurde schwindlig und die ersten Vorboten grauenhafter Schmerzensstiche durchzuckten meine Schläfen. Ich kannte das zur Genüge. Im Hinblick auf die Ereignisse des Tages – den Paketlieferdienst, das Seeungeheuer, die blutroten Lippen, nun noch das fehlende Wasser mit Orangensaft und der alte Mann an meinem Tisch – war es auch nicht weiter verwunderlich, dass es mich wieder einmal heimsuchte. Aber ich wusste mir zu helfen! Mein Trick war in jahrelanger Praktik erprobt und funktionierte immer – so obskur er einem Außenstehenden, wie man mir einmal berichtet hatte, auch anmuten mochte …

Ich nahm das erste Wort, das mir in den Sinn kam und behielt es wie ein Kleinod für mich: Stalker! Stalker, dachte ich. Nichts als Stalker! Vielleicht nicht die beste Wahl, doch würde sicher auch dieses Wort seinen Dienst tun. Im Grunde taten sie es alle. Als nächstes legte ich mich quer über drei der schwarzen Granitsteine und fixierte den klaren blauen Himmel über mir. Klarer blauer Himmel war ausgezeichnet. Übertroffen nur noch durch den klaren blauen Himmel, der mit flockigen Wölkchen verziert war.

Als die Stadt aus meinem Blickfeld verschwand, konnte ich wieder tief einatmen. Die Kopfschmerzen allerdings nahmen noch zu und ich fixierte das Blau über mir, tauchte darin ein und verschmolz mit ihm. Ganz nah bei mir lachte ein Mann laut auf. Vielleicht lachte er über mich, doch das brauchte mich nicht zu kümmern. Die Stimmen, Schritte und Radios der Stadt wurden allmählich leiser, dumpfer, unbestimmter. Dann erschienen die schwarzen Punkte am Himmel, die klitzekleinen Flecken und fadenartigen Gebilde. Man hieß sie auch Mouches volantes, die fliegenden Mücken. In kindlichem Übermut begannen sie, über das Firmament zu tanzen, umarmten sich, ließen wieder los, drehten Pirouetten und sprangen wild durcheinander. Solange ich im Himmel war und nicht bei der Stadt, würden sie mich nicht verlassen, meine Freunde des Lichts – wie ich sie nannte.

Der Schmerz an meinen Schläfen wurde schlimmer, aber ich spürte bereits, wie wenig mich noch mit meinem Körper verband und dass alles, was ihm widerfuhr, nicht so schlimm war. Wenn ich bei meinen Freunden des Lichts, den fliegenden Mücken war, konnte mir nichts geschehen. Sie beschützten mich und würden niemals von meiner Seite weichen.

Nun war der erste Teil des Tricks erledigt und ich rief mir das Wort herbei. Stalker … Stalker … Der blaue Himmel und Stalker …

XIV

Ich wanderte eine lange Allee entlang, flankiert von hohen Trauerweiden, die mir das Gesicht streichelten. Sie mochten mich, sagten sie. Und auch wenn ich das bereits wusste, so vernahm ich trotzdem immer gern die Worte der sanften Riesen.

Die Allee war leicht erhöht. Zu beiden Seiten lag ein weites, in rot getauchtes Nebelmeer, das am Horizont mit der untergehenden Sonne zu verschwimmen schien. Es war sehr warm und ich dachte, es würde mir schon nicht schaden, ein wenig durch die Schwaden zu spazieren, sie anzufassen und mit ihnen zu spielen. Vorsichtig lehnte ich mich an eine der Weiden und tippte den Nebel mit meinen nackten Zehen an. Schon machte ich mich gefasst auf den unvermeidlichen Kälteschauer und war umso überraschter, dass auch der Nebel warm war. Ich stieg von der Allee hinunter und es fühlte sich an, als beträte ich ein beheiztes Schwimmbecken. Nass wurde ich dabei allerdings nicht. Der Nebel war weich, ließ sich wie Schnee formen, festigen und wieder lösen. Ziellos schlenderte ich durch ihn hindurch. Wenn ich eine Handvoll davon nahm und ihn in die Luft warf, sah es für eine Sekunde so aus, als seien die Nebelschwaden zu weinroten Wolken am Himmel geworden, die dann wie Schneeflocken zurück auf die Erde rieselten.

Als ich wieder hinauf zur Allee ging, wurde es Nacht und die Grillen begannen zu zirpen. Nur auf mich hatte die Nacht gewartet, begierig, mir all ihre Wunder zu zeigen, die eben noch von der untergehenden Sonne überdeckt worden waren. Direkt geradeaus war die riesige Supernova, ein grün-gelb leuchtendes Gebilde, das aussah wie ein Ölfleck in einer Wasserpfütze, den man auf den Himmel projizierte. Vielleicht würde bald ein Pulsar daraus werden. So wie das Gebilde unweit daneben, dessen rotierender, alpin-blauer Strahl zu einer Art intergalaktischem Leuchtturm geworden war.