Der gefesselte Dionysos

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Der gefesselte Dionysos
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Patrik Knothe

DER GEFESSELTE DIONYSOS

Ein modernes Märchen

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelbild © Stefan Wenger

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Zitate

Prolog

Teil 1 – Ein fast gewöhnliches Kind

Teil 2 - Eine normale Jugend?

Teil 3 - Dionysos und die sieben Satyren

Teil 4 - Die Jagd auf Dionysos

Epilog

Für Gunar, Eike und Kevin

„So lange ihr das Licht bei euch habt, glaubt an das Licht, damit ihr Söhne des Lichts werdet.“

Johannes 12, 36

„So gewiss ist der allein glücklich und groß, der weder zu herrschen noch zu gehorchen braucht um etwas zu sein.“

Johann Wolfgang von Goethe, Götz von Berlichingen

„… Bettler, sagt er? so hat die Welt sich umgedreht, Bettler sind Könige, und Könige sind Bettler! - Ich möchte die Lumpen die er anhat, nicht mit dem Purpur der Gesalbten vertauschen - …“

Friedrich Schiller, Die Räuber

Prolog

Nachdem mich so viele Menschen nach ihm gefragt haben und immer noch fragen, habe ich mich entschlossen dieses kleine Büchlein zu schreiben. Erst vor ein paar Tagen sprach mich eine alte Frau auf der Straße an. Ich verließ gerade mein Haus um einkaufen zu gehen und wäre um ein Haar in sie hinein gerannt. Sie trug eine riesige Hornbrille und hatte nur noch lichtes Haar, so dass die Wogen des Windes ihre blanke Kopfhaut offenbarten. Ihre Augen leuchteten auf als sie mich sah: Ich sei doch der, der den Dionysos gekannt habe und sie wolle wissen was er gerne zu Mittag aß (Wurst, Tomaten und frisches Bauernbrot, falls er die Wahl hatte, was selten der Fall war – damit diese wichtige Frage gleich zu Anfang geklärt ist und der Ungeduldige sich nicht erst durch die ganzen anderen Seiten quälen muss). Woher die alte Frau mich kannte und wieso sie sich gerade dafür interessierte gehört wohl mit zu den nie zu lösenden Rätseln unseres Daseins. Nachdem ich perplex und überrascht eine Antwort stammelte, bedankte sie sich und ging lächelnd und glücklich ihres Weges. Wer weiß wie lange sie dort auf mich gewartet hatte …

Ein jedoch wahrscheinlich noch weit größerer Grund für diese Niederschrift sind meine eigenen Gedanken und Erinnerungen, die es zu ordnen gilt; manchmal klar und deutlich als wäre es, wie die Frage der alten Frau, erst neulich geschehen; oft aber verworren und verschwommen, was bei der Turbulenz und Geschwindigkeit der damaligen Ereignisse auch nicht verwunderlich ist. Vielleicht kann so vieles was noch heute im Dunkeln verborgen liegt, morgen ans Licht gebracht werden und jeder, der diese Zeilen liest, kann danach seinen eigenen Teil davon im Herzen mit sich nach Hause tragen. Ich möchte mich hier bereits bei allen bedanken die mir auf meiner Reise durch die Geschichte meines Freundes geholfen haben. Und es gibt nicht mehr viele die ihn wirklich kannten und von diesen wollen die wenigsten gefunden werden.

Hört man die Menschen reden, hat man den Eindruck, dass er für die viele nur ein heimatloser, vom richtigen Weg abgekommener Unruhestifter war. Doch ich glaube nicht, dass dem so ist und bin ebenfalls davon überzeugt, dass diese „Vielen“, nur vor anderen mal wieder ihre wahren Gefühle verbergen wollen … man möchte ja weiterhin ein angesehener Bürger bleiben. Auch die „Vielen“ denken öfter und intensiver an ihn als sie zugeben. Darüber was er tat, wie er es tat und wie sie sich wohl gefühlt hätten, wenn sie dabei gewesen wären.

Wenn ich an Dionysos denke, springt mir sofort jener eine Gesichtsausdruck von ihm ins Gedächtnis mit dem er mich damals ansah … an jenem besonderen, verhängnisvollen Mittag in dem alten Landhaus bevor er die dunkelbraune Holztür vor mir zuwarf; am Tag an dem die Jagd und unser Abenteuer endeten: Seine dunkelblauen Augen brannten sich wie Feuer in mich ein; Leidenschaft, Kraft und ein unbezwingbarer Wille lagen in seinem Blick während im linken Mundwinkel der Anflug eines Lächelns zu erkennen war. Damals in den Stunden der Dunkelheit sah ich immer nur diese Augen vor mir; auch als er schließlich hinaus ins Licht ging, der Lärm begann, das Rufen, das Schreien und das Schießen. Diese Augen begleiten mich noch heute in meinen Träumen. Doch um ihre Botschaft wirklich zu verstehen müssen wir ganz von vorne anfangen …

Teil 1 – Ein fast gewöhnliches Kind
I

Dionysos wurde nicht, wie es einige obskure Legenden oder Wichtigtuer erzählen, mitten in einem düsteren, riesigen Wald geboren. Er wuchs auch nicht dort auf oder lebte (sogar das ist mir zu Ohren gekommen) seine ganze Kindheit lang von rohem Fleisch.

Nein, Dionysos wuchs mit seinem Vater Petros und seiner Mutter Xenia in Delphi auf. Einem Ort der zwar offiziell als Stadt galt aber doch mehr ein großes Dorf war. Delphi lag auf einem Hügel und war umgeben von grünen, teils noch unberührten Wäldern und Wiesen. Schön und beschaulich war es dort. Es gab viele alte, gut erhaltene Häuser im Fachwerk-Stil, Weizen-, Maisfelder und Beete mit allen erdenklichen Sorten von Blumen; Holzbänke auf denen Mittags die Rentner saßen und über die heutige Jugend und Politik herzogen.

In Delphi passierte so wenig, dass jeder Anlass zu ein wenig Klatsch umgehend genutzt wurde. Jedes Mal, wenn der alte Diogenes wieder ein paar Tage in einer riesigen Tonne (die eigentlich Dekorationszwecken diente) vor seinem Haus schlief, weil seine Frau ihn hinaus geworfen hatte, sprach man ein paar Monate von nichts anderem.

Und so waren die Einwohner auch sehr gespannt und aufgeregt als sich das Gerücht verbreitete, der Petros hätte eine sehr seltsame und eigenwillige Frau aus einer weit entfernten Nord-Provinz geheiratet und würde bald mit ihr ein Haus in Delphi beziehen. Die Nachbarn hatten sie schon einige Male bei Petros Eltern gesehen. Seltsame Kleidung solle sie tragen und irgendeinem obskuren Beruf nachgehen. Man sprach von einer Schauspielerin die wie eine Zigeunerin aussehe. Doch eigentlich arbeitete sie als Set-Dekorateurin beim Film, trug gerne lange Kleider und hatte langes, blondes Haar. Wenn man unbedingt etwas abfälliges über Xenia behaupten wollte, könnte man sie höchstens als etwas sonderbar bezeichnen aber was ist schon sonderbar, oder vielmehr: was ist denn nicht sonderbar?

Xenia hatte eine stille, verträumte Art. Manchmal saß sie einfach stundenlang in ihrem Garten und beobachtete die Spatzen, die Bäume oder ihre Sonnenblumen. Letztere liebte sie über alles. Sie hing sogar eine über das Ehebett! Ihre Arbeit bei der Filmproduktionsfirma hätte sie wegen ihrer Eigenheiten sicherlich längst verloren wenn sie nicht so gut gewesen wäre. Manchmal stand sie bei allgemeiner Aufregung oder der sooft vorkommenden Alltagshektik, wenn alle Menschen durcheinander reden und sich gegenseitig anstießen einfach auf einem Fleck, war nicht ansprechbar und betrachtete irgendein bestimmtes Objekt oder sie schloss gar ganz die Augen. Doch Xenia hatte immer das richtige Gespür wenn es darum ging einen Drehort zu gestalten. Niemand anderes den ihr Chef kannte schien bei dieser Tätigkeit eine so sichere Hand zu haben.

Ihr Mann Petros dagegen war um einiges bodenständiger und simpler gestrickt.

Seine Familie lebte seit vielen Generationen in Delphi und hatte den hohen Ruf stets ehrlich, zuvorkommend und anständig zu sein. Umso erstaunlicher war es, dass gerade ihr Sohn Petros, der dasselbe Ansehen genoss, eine so seltsame Verbindung eingegangen war. Er war damals junger Teamleiter einer Firma, die unter anderem auch Scheinwerfer herstellte. Eines Tages kam eine wunderschöne blonde Frau mit dunkelblauen Augen in sein Büro und sein Schicksal schien sich entschieden zu haben.

Als die beiden sich dann schließlich ein Haus in Delphi kauften, drängten sich die neugierigen Augen vor die Fenster um einen Blick auf die hübsche, seltsame Blonde werfen zu können wenn sie morgens zum Bäcker schlenderte.

 

Der erste der sie bei einem Spaziergang ansprach war jedoch der alte Diogenes, der vor seinem Haus mitten auf dem Rasen saß, rauchte und an einem Stück Holz schnitzte („Was für ein Zufall … das war ja klar, dass die zuerst mit dem redet!“, hörte man es noch Tage später von den Leuten). Er durfte gerade seit zwei Tagen wieder im Haus wohnen und trug seine übliche blaue Ballonmütze und eine stark mitgenommene Latzhose.

„Na, junge Dame … schon in Delphi eingelebt?“, fragte er grinsend mit seinem bärtigen, zahnlosen Mund. Xenia blieb stehen und betrachtete ihn freundlich. Es dauerte eine Weile bis sie antwortete und Diogenes wollte sich schon wieder seinem Holzstück zuwenden als sie sagte: „Es ist sehr schön hier. Wir haben ein kleines Haus gleich dort oben auf dem Dodona-Hügel. Direkt neben dem großen Maisfeld …“

„Das Haus kenn’ ich … is bildhübsch … und wie findeste die Leut’?“ Das Grinsen des Alten wurde immer breiter. Sie war wirklich eine Pracht.

„Naja, bis jetzt habe ich noch nicht viele kennen gelernt. Was schnitzen Sie denn da?“

„Sach ruhich ‚du‘. Ich bin Diogenes“, sagte er und schlug sich dabei feierlich auf die Brust. „Weiß noch nich’ genau, was das werden soll … mal sehn’. Aber wenn du jemand Nettes kennenlernen willst, dann versuchs ma mit Oknos. Der wohnt gleich eine Straße hinter der Bäckerei und macht den besten Wein hier im Umkreis.“

„Der wird dann nur für meinen Mann sein. Man sieht es noch nicht, aber bald sind wir zu dritt“, sagte sie lächelnd und streichelte ihren Bauch.

„Mit wem redest du schon wieder? Hör endlich auf die armen Leute zu belästigen!“, dröhnte eine Stimme aus dem Inneren des Hauses.

„Am besten du ziehst weiter bevor gleich das Gewitter losgeht“, sagte der Alte und schielte mit einem bedeutenden Blick hinter sich. „Und lass dich ma’ wieder blicken Mädchen. Wie heißte eigentlich?“

„Xenia!“

„DIOGENES!!!“ Die Stimme war noch lauter als beim letzten Mal.

„Oh, du alte … tschuldigung … na, dann machs ma gut Xenia!“

„Du auch, Diogenes!“

Der Alte sah ihr noch lange nach und hörte kaum auf das Gemecker, das aus dem Inneren seines Hauses kam. Danach machte er sich wieder an die Arbeit. Er wusste nun, was er schnitzen würde …

II

Circa sechs Monate später verbreitete sich die Nachricht, dass Xenia einen Jungen bekommen hatte. Er hieß Dionysos und schien ihr wie aus dem Gesicht geschnitten zu sein. Nur die rabenschwarzen Haare hatte er von seinem Vater.

Wenn man diese Zeilen gelesen hat und gleichzeitig an die Geschichten denkt, die über Dionysos kursieren, fällt es einem schwer zu glauben, dass er aus solch einem friedlichen und ruhigen Dorf kam. Aber was sind das auch für Geschichten!? Eine ganze Zeit lang schien er an allem schuld zu sein: Eine Tankstelle wurde ausgeraubt – das kann nur Dionysos gewesen sein; ein Telefonmast zerstört – bestimmt der randalierende Dionysos; Hühner gestohlen – Dionysos; Wahlen manipuliert – vielleicht … Dionysos?

Die Liste kann unendlich fortgesetzt werden.

Seine ersten Lebensjahre ließen auch gar nicht darauf schließen was einmal aus ihm werden sollte.

Er war ein kleines Kind wie alle anderen, weder zurückgeblieben noch außerordentlich talentiert. Die einzige Besonderheit die damals auffiel war seine extreme Ruhe, die Dionysos wahrscheinlich von seiner Mutter hatte. Dennoch machte sich Xenia des öfteren Sorgen, wenn sie in der Nacht manchmal stundenlang nichts von ihm hörte. Sie eilte oft wie von einem stummen Ruf geweckt an seine Wiege, nur um sich zu vergewissern, dass er noch atmete. Abgesehen davon war Dionysos ein unkompliziertes, liebenswürdiges Kind, das den ganzen Tag mit seiner Mutter im Freien zubrachte und dabei mit seinen Spielzeugautos die Wiesen, Straßen und Gehwege rauf und runter rannte.

Er hatte auch schon einen Freund gefunden. Den ein paar Straßen weiter wohnenden und nur einige wenige Monate älteren Apollon. Jeden Morgen gingen die beiden mit Xenia und Leto, Apollons Mutter, zusammen auf den Spielplatz oder in den kleinen, aber dennoch sehr hübsch hergerichteten Park. Abends trafen sich die Familien zum Grillen und die Kinder spielten in ihrem Sandkasten.

Diese Idylle in Dionysos Leben hielt an bis er in die Schule kam. Während der ersten Wochen war er noch durchaus begeistert was ihn dort erwarten würde. Er freute sich darauf zu lernen, wenn er auch bereits durch seine Mutter sehr gut lesen und schreiben konnte. Doch kurze Zeit nach der Einschulung begann er sich zu langweilen und fing an den Unterricht zu stören. Sein Sitznachbar Apollon dagegen war bei allen Lehrern beliebt und wurde mit Lob überhäuft, vor allem weil er ein so ausgezeichnetes Talent für die Mathematik zu haben schien. Dionysos verstand nicht, wenn er es auch nicht in Worte verpacken konnte, was er in dieser Schule eigentlich tun sollte. War er nur dort um den Lehrern zu gefallen? Xenia arbeitete von nun an wieder sporadisch beim Film was den kleinen Jungen noch mehr verbitterte.

„Warum gehst du immer weg, Mama?“, fragte er sie einmal. Xenia nahm ihn daraufhin in den Arm und sagte: „Auch ich muss arbeiten gehen, mein Lieber. Meine Arbeit macht mir Spaß und du bist jetzt schon ein so großer Junge, dass du es ja bestimmt auch mal ein paar Stunden ohne mich aushältst, oder?“ Sie gab ihm einen Kuss. „Außerdem bin ich ja nur ganz selten weg … und Papa und Oma und Opa sind ja auch noch da.“ –

„Aber wieso muss ich in die Schule gehen? Ich mag es dort nicht … die Lehrer mögen mich nicht …“ Er fing an zu weinen und seine Mutter drückte ihn sanft an ihre Brust.

„Jedes Kind muss in die Schule gehen. Es ist wichtig, dass du viel lernst … denn wenn du viel lernst wirst du es später, wenn du ganz groß bist, einmal sehr schön haben. Und zu den Lehrern musst du nett sein … dann sind sie auch nett zu dir. Sollen wir nach unten gehen und Papa zuhören wie er spielt?“ Das Gesicht des Jungen hellte sich auf. „JA!!“ – „Na, also komm mein Schatz.“

Xenia war von einem entzweienden Schmerz ergriffen. Einerseits wollte sie weiter voll für ihren Jungen da sein und ihm all die Liebe und Sicherheit schenken die er brauchte und andererseits wieder gerne als Set-Dekorateurin arbeiten. Sie und Petros waren damals nicht, wie so viele andere Familien, in der Notlage, dass beide Elternteile Geld verdienen mussten.

Als sie einige Wochen später von der Arbeit nach Hause kam und Dionysos sah, der verträumt neben dem Klavier ihres Mannes saß und seine kleinen Händchen über den weichen Teppich gleiten ließ, beschloss sie, vorerst nicht mehr beim Film zu arbeiten.

III

Etwa um diese Zeit spürte Dionysos wie sehr ihm die Musik gefiel. Wir schwärmten öfters miteinander davon und egal wie trostlos gerade unsere allgemeine Lage war, begann das Herz meines Freundes sich leidenschaftlich zu öffnen und vor Freude zu überfließen sobald musiziert wurde. Es war später sogar seine Taktik bei gedrückter und niedergeschlagener Stimmung eine Gitarre oder Flöte zur Hand zu nehmen und die Gemüter wieder fröhlich zu stimmen (meistens funktionierte es, wenn auch mancher Banause dann mit dem Spruch kam: „Das Gedudel hilft uns jetzt auch nicht!“).

Obwohl Dionysos auch gerne malte oder las war die Musik das, was ihn auf der Welt am meisten faszinierte.

Stundenlang konnte er seinem Vater beim Klavierspielen zuhören und sich dabei entweder völlig gedankenlos von den Melodien und Rhythmen mittragen lassen oder aber seine Fantasie zu immer neuen Universen und Planeten emporschwingen.

Die Musik schien auf eine Weise zu sprechen wie sie jeder verstehen konnte. Man musste nicht erst überlegen welche Worte man benutzte und ob der Gegenüber sie vielleicht missverstehen würde; es war alles klar und deutlich. Für Dionysos war die Musik das Leben in seiner reinsten, unschuldigsten Form, die direkt vom Ohr in die Seele gelangte.

Als er 10 Jahre alt war erwischten ihn seine Eltern wie er mit geschlossenen Augen zu einer klassischen Symphonie ekstatisch durch das Wohnzimmer tanzte, seine Arme zu den Tönen bewegte und manche Stellen mitsang. Er hörte schlagartig auf als er seine Zuschauer bemerkte und blieb den ganzen Tag auf seinem Zimmer, so schämte er sich.

Bereits früher fand er es sehr seltsam, dass gewisse Dinge die er gerne tat im Verborgenen geschehen mussten; dass man sie niemandem erzählen durfte wenn man nicht ausgelacht oder noch schlimmer, verstoßen werden wollte. Aber wieso schien das nur ihm so zu gehen? Immer häufiger kam ihm der Gedanke, dass er nicht so war wie seine Eltern, Apollon oder die anderen Freunde die er hatte. Er fühlte sich immer mehr wie ein Sonderling und errichtete eine Traumwelt um sich herum.

Als es Dionysos später bewusst wurde, dass jeder einen Teil von sich vor anderen Menschen versteckte, verstand er die Welt noch weniger. Warum hatte jeder Angst davor seiner Umwelt zu zeigen wer er wirklich war? Warum durfte man sich nicht wild oder ekstatisch zur Musik bewegen wenn man zu Hause war und den Klängen der Geigen und Posaunen lauschte? Warum durfte man es wenn in irgendeiner Kellerdisko die hektischen, elektronischen Rhythmen aus den völlig überdrehten Boxen dröhnten?

Auf jeden Fall beschlossen seine Eltern ihm zum nächsten Geburtstag eine Gitarre zu schenken. Denn obwohl Dionysos wie man gerade sehen konnte auch klassische Musik mochte, fühlte er sich am meisten von den Klängen der Gitarrenspieler angezogen, die auf ihren sechs Saiten alle Möglichkeiten der Gefühlsäußerung scheinbar mühelos übersetzen konnten. Außerdem war er dem Mythos der die ganzen bekannten Gitarristen umweht, vollends ergeben: Es sah so aus, als gebe es für diese Menschen nur Freiheit, Unabhängigkeit und ihr Instrument.

Er bekam schließlich eine relativ billige Gitarre geschenkt, die er nichtsdestotrotz von der ersten Sekunde an über alles liebte und überall mit hin nahm: In die Schule, auf Geburtstage, andere Feste, zu seinen Freunden usw.. Nach ein paar Monaten konnte er schon einfache Lieder mehr oder weniger perfekt spielen und sogar dazu singen.

Alle liebten seine Stimme. Ich muss jedes Mal lächeln wenn ich an die Begeisterung der Menschen denke, die mir davon erzählten wie sie dem jungen Dionysos zuhörten. Er schien eine natürliche Begabung für die Welt der Klänge zu haben; vielleicht weil diese Welt die einzige war, in der der Junge sich aufgehoben und bestätigt fühlte. Am meisten freute sich jedoch sein Vater Petros, der stets den Wunsch gehegt hatte, dass sein Sohn sich ebenfalls für die Musik begeistern würde. Das einzige was ihn wurmte war die Tatsache, dass das Gitarrespielen Dionysos nur noch mehr in seine eigene Welt abgleiten ließ. So gut wie jede Drachme seines Taschengeldes wurde in neue Musik eingetauscht. Als Apollon dann eines Tages und einige Jahre später von einem Baumhaus erzählte das er gerne bauen würde, war Petros sofort Feuer und Flamme. Er fuhr mit den beiden zum Holzhandel, bezahlte das Material und sägte sogar eigenhändig die Bretter zurecht. Auch seinem Sohn machte die Arbeit Spaß und für ein paar Tage vergaß der junge Dionysos die Gitarre beinahe.

IV

An einem schönen Aprilnachmittag, an dem die Pflanzen gerade anfingen richtig aufzublühen, der Himmel klar und der Singsang der Vögel wieder zu vernehmen war, liefen Dionysos und Apollon nebeneinander Richtung Wald, mit Hammer, Säge und Nägeln ausgerüstet. Petros wollte zuerst beim Bauen helfen, doch die beiden bestanden darauf es selbst zu tun.

Die Schulferien hatten gerade begonnen und die Jungen waren voller Tatendrang und Lebensfreude.

Apollon war inzwischen um einiges größer und auch breiter als Dionysos. Man konnte bereits an seinen Gesichtszügen und seinem Gang erahnen, dass er einmal ein prächtiger Mann werden würde. Er hatte hohe Wangenknochen, einen markanten Kiefer und hellbraune Augen. In der Schule begannen sich die Mädchen für ihn zu interessieren, flüsterten hinter vorgehaltener Hand wenn er an ihnen vorbei lief und fingen dann plötzlich an zu kichern. Anscheinend hatte er schon einmal ein Mädchen nackt gesehen und sie sogar überall berühren dürfen. Dionysos dagegen wurde für still und wunderlich befunden. Seine tiefschwarzen Haare, die blauen Augen und ein leicht blasser Teint ließen ihn zusammen mit seiner träumerischen Art wie aus einer anderen Welt erscheinen. Jeder der ihn das erste Mal erblickte, sah ihn länger und eindringlicher an als das normalerweise der Fall ist. Und während Apollon stets der Mittelpunkt allen Treibens in ihrer Schulklasse war, der jeden mit seinem Scharfsinn und Wissen faszinierte, gehörte Dionysos das Gespräch unter vier Augen. Mit ihm konnte man über die Dinge sprechen, die tief in der eigenen Seele rührten. Er hatte etwas sanftes und Vertrauen erweckendes das jede gesellschaftliche Barriere brechen ließ.

 

Trotz oder gerade wegen dieser Gegensätzlichkeit waren die beiden seit Jahren beste Freunde.

Auf dem Weg in den Wald machte Dionysos auf einmal an einer Weggabelung halt. Geradeaus waren es noch etwa 100 Meter bis zu den großen Bäumen, in denen ihr Haus entstehen sollte. Zu ihrer Rechten erstreckte sich ein riesiges Weizenfeld während links ein mehr oder weniger verwahrlostes Stück Land zu sehen war auf dem sich seit Jahren der Wildwuchs breit gemacht hatte. Vor Letzterem ging Dionysos in die Knie und starrte gebannt nach unten.

Vor ihm im Gras saß ein wunderschöner rot-schwarzer Schmetterling. Er streckte die Hand vor dem Tier aus und es setzte sich darauf. Ganz langsam bewegte es seine Flügel auf und ab; wie ein lebendiges, mobiles Kunstwerk das nur da ist um bestaunt zu werden.

„Sag mal Dionysos … sind wir nicht zu alt um ein Baumhaus zu bauen?“, fragte Apollon.

„Ich glaube man ist nie zu alt um ein Baumhaus zu bauen“, sagte Dionysos während er fasziniert den Schmetterling betrachtete.

Apollon drehte sich plötzlich um. „Vorsicht! Da kommt jemand! Ab ins Gebüsch!“ Dionysos, traurig darüber, dass er den Schmetterling nicht beim Wegfliegen beobachten konnte, packte Hammer und Nägel und spurtete in geduckter Haltung zu seinem Freund, der bereits zwischen den hohen Gräsern und Sträuchern wartete. Viele Menschen haben nichts dagegen wenn Kinder im Wald ein Baumhaus bauen während andere strikt auf die Einhaltung der geschriebenen Gesetze pochen. Eine nochmals andere Gruppe sind die, die auf jeden Funken Glück und Freude mit Grimm reagieren und alle Ansätze dessen im Keim ersticken wollen.

Dionysos und Apollon flüchteten gerade noch rechtzeitig, denn solch ein Jemand kam einen Augenblick später in Gestalt eines 54-Jährigen Mannes um die Ecke.

„Oh nein, nicht der!“, flüsterte Apollon.

Der Name dieses Mannes, den alle Kinder von Delphi immer nur mit Abscheu oder Angst in der Stimme aussprachen, war Orthos. Unter seinem blass-grünen, viel zu kleinen Anglerhut konnte man zusammengezogene, gemeine Augen erkennen, die just gerade auf jene Stelle blickten an der sich vor wenigen Augenblicken noch Dionysos und Apollon befunden hatten.

Orthos hatte früher auch einmal ein Feld gehört, doch seine komplette Inkompetenz was Finanzen anbelangte führte schließlich zur Zwangsversteigerung seines Guts. Nun lebte er mit seiner jüngeren Schwester und deren Mann im Haus seiner verstorbenen Eltern oder besser gesagt: Er wurde von ihnen ausgehalten (vom Haus gehörte ihm nämlich auch nichts mehr). Einzig das ständige Flehen seiner Schwester an ihren Mann bewahrte Orthos davor auf die Straße geworfen zu werden.

Nach seinem Bankrott versuchte man zuerst ihn weiterhin in den Familienbetrieb mit einzubinden, aber die andauernden Streitigkeiten zwischen Orthos und seinem Schwager Minos führten dazu, dass Ersterer von jeglicher Verantwortung entbunden wurde und nun ein gelangweiltes Dasein fristete das neben dem ständigen Biertrinken nur daraus bestand, die Einwohner von Delphi, insbesondere die Kinder, zu schikanieren. Jeder im Dorf kannte ihn. Früher verkauften seine Eltern in ihrer Scheune Brot, Eier und Äpfel. Orthos Schwester und Minos übernahmen den Laden und eine ganze Zeit lang brachte er ihnen einen guten Nebenverdienst ein; bis sie Orthos bei sich aufnahmen. Ständig lungerte er vor der Scheune herum, belästigte und beleidigte die Kunden wenn sie ihm nicht in den Kram passten und schließlich kam irgendwann niemand mehr.

Unsere Hüttenbauer jedoch wurden dieses Mal verschont, denn Orthos blieb nur kurz stehen und ging dann weiter in die entgegengesetzte Richtung, die ins Dorf zurück führte.

Apollon wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Puh … nochmal Glück gehabt. Hast du schon gehört, dass er Jorgo einen Tritt in den Hintern verpasst hat?“

„Nein, warum das?“

„Nur weil er einen Apfel von einem Baum gepflückt hat. Natürlich hats mal wieder kein Erwachsener gesehen und wieder kann ihm keiner was anhaben. Aber irgendwann … komm, gehen wir weiter. Ich glaube er ist weg.“

Da die beiden bereits ein paar Stunden zuvor die Holzlatten an den Baum ihrer Wahl gebracht hatten, konnten sie sich direkt an die Arbeit machen. Es war eine große Eiche die in vielerlei Hinsicht von Vorteil war: Erstens konnte man leicht an ihr hochklettern; zweitens war sie vom Waldrand aus fast nicht zu erkennen, was einen optimalen Schutz gewährleistete und schließlich, was das Wichtigste war: Zwei starke, massive Äste die auf annähernd gleicher Höhe ziemlich waagrecht verliefen und auf denen man leicht ein Gerüst bauen konnte.

Das war es auch, was sie sich für den heutigen Tag vorgenommen hatten. Das Baumhaus sollte eineinhalb Meter breit, zwei Meter lang und zwei Meter hoch werden. Der einzige Wermutstropfen war der Hochstand der sich in unmittelbarer Nähe erhob. Doch der sah so heruntergekommen aus, dass es nicht den Anschein machte als ob dort regelmäßig ein Jäger rastete.

Sie arbeiteten mit einem vorgezeichneten Plan von Petros und von einigen kleinen Patzern abgesehen machten es die beiden wirklich gut (Dionysos schlug mehr Nägel krumm als ins Holz und Apollon hämmerte sich zwei Mal doll auf den Finger). Schneller als erwartet stand das Gerüst und sie begannen damit die Holzlatten zu befestigen.

Als die Dämmerung einsetzte, sagte ein sehr geschlauchter und verschwitzter Apollon: „Es wird dunkel und mir fallen gleich die Hände ab. Ich würde sagen wir gehen zurück und machen morgen weiter.“ In Dionysos’ Augen, die vom Rausch der Arbeit glühten, machte sich leichte Enttäuschung breit.

„Oh, man … ich könnte die ganze Nacht bauen!“, rief er fröhlich aus und hob dabei seine Hand in die Luft. „Aber du hast recht. Wir haben keine Lampe dabei. Gehen wir!“

Sie stiegen hinunter und betrachteten ihr Werk. Apollon sah leicht kritisch aus.

„Mmhhh, dieser eine Ast dort … den da … der macht mir immer noch Sorgen. Der könnte brechen. Und an der einen oberen Ecke müssen wir auch dringend was zum Abdichten besorgen. Und …“

Dionysos hörte nur mit halbem Ohr zu. Er war nur völlig verblüfft von seiner Leistung und der Tatsache, dass dieser Baum heute morgen noch ein ganz normaler Baum gewesen war und jetzt eine Hütte, ihre Hütte, darauf war. Es fehlte zwar noch ein großer Teil der Wände sowie das komplette Dach, doch es war definitiv für jeden erkennbar, dass es sich um etwas handelte was zwei Jungen mit all ihrer Liebe und Energie gefertigt hatten.

In ihrer Müdigkeit nahmen sie natürlich keine Notiz von dem Beobachter, der schon seit geraumer Zeit jeden ihrer Schritte beäugte.

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