Dr. Norden Bestseller 184 – Arztroman

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Aus der Reihe: Dr. Norden Bestseller #184
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Dr. Norden Bestseller 184 – Arztroman
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Dr. Norden Bestseller –184–

Fee Norden ließ keinen Blick vom Fernsehapparat, als Amelie Rittberg das Abendprogramm ansagte.

»Sie ist bezaubernd«, sagte Fee, »und dazu diese Stimme! Mich wundert es, daß man sie noch nicht zum Film geholt hat.«

»Sie wird nicht wollen«, sagte Daniel Norden trocken. »Und sie tut gut daran, sich weitgehendst zu schonen. Mich freut es sehr, daß sie nicht übermütig geworden ist.«

Amelie war ihnen wohlbekannt, doch nur die eingeweihten Ärzte wußten, daß mit den neuesten Erkenntnissen der medizinischen Forschung an ihr ein Wunder vollbracht worden war.

Es war nicht publik geworden, wenigstens nicht unter ihrem richtigen Namen. Sie hatte es nicht gewollt, denn sie hatte sich zu viele Jahre gewünscht, als ein ganz normaler Mensch leben zu können, und nun konnte sie es.

Amelie Rittberg war seit ihrem vierten Lebensjahr zuckerkrank gewesen. Sie hatte mit ihrer Krankheit leben und heranwachsen müssen. Vieles, was anderen Kindern selbstverständlich war, blieb ihr versagt. Sie hatte den einzigen Vorteil, daß ihre Eltern vermögend waren und alles für ihr einziges Kind taten, was menschenmöglich war und die Ärzte für ihre Entwicklung tun konnten.

Ihr Fall war mit dem eines anderen Patienten, der ebenfalls zuckerkrank war und den Dr. Norden schon lange behandelte, nicht vergleichbar. Clemens Martinus, dem Dr. Norden über schwerste Situationen hatte hinweghelfen können, lebte mit dem Insulin. Er wurde damit alt, aber Amelie war jung und trotz dieser Krankheit bildhübsch, und dazu mutig genug, an sich eine Operation vornehmen zu lassen, die äußerst riskant war. Dr. Norden hatte Zweifel gehegt und auch Bedenken geäußert, als sie vor zwei Jahren zu ihm gekommen war und ihm einen Bericht aus einer amerikanischen Zeitung vorlegte. Ein Ärzteteam hatte eine Pankreas-operation an einem älteren Patienten vorgenommen, die ihn von der Diabetes befreien sollte. Der Patient, selbst Arzt, hatte sich damit so lange befaßt, daß er die Kollegen dazu überreden konnte. Er hatte diese Operation allerdings nur wenige Monate überlebt, weil sein Herz nicht mitspielte, aber die Operation selbst war erfolgreich verlaufen.

Als Amelie mit ihren Eltern in Amerika war, hatte sie davon gelesen und genaue Erkundigungen eingezogen, und dann hatte sie mit Dr. Norden, dem Hausarzt der Familie, darüber gesprochen

Er war skeptisch gewesen und hatte auch ihr gesagt, daß sie mit dieser Krankheit alt werden könne, wenn sie entsprechend leben würde. Aber sie hatte gesagt, daß sie normal leben wolle und sonst darauf verzichte, alt zu werden. Sie sei nun erwachsen genug, um selbst über ihr Leben entscheiden zu können.

Ausschlaggebend dafür war wohl auch gewesen, daß sie sich in einen Mann verliebt hatte, der sich aber von ihr abwandte, als sie ihm von ihrer Krankheit erzählte.

Eine alte, verknöcherte Jungfrau wolle sie mit dieser Krankheit nicht werden, erklärte sie klipp und klar.

Dr. Norden setzte sich mit den amerikanischen Ärzten in Verbindung, schilderte ihnen diesen Fall, und Amelie reiste mit ihren Eltern nach Amerika. Dr. Norden wußte, wie diesen Eltern zumute war, wie sie um das Leben ihrer Tochter bangten und es dann doch nicht fertig brachten, ihr zu widersprechen. Ja, er und auch seine Frau Fee hatten mit ihnen gezittert.

Das Wunder geschah. Die komplizierte Operation gelang. Die Kunst der Ärzte, der Mut des jungen Mädchens triumphierten. Amelie konnte ohne Insulin leben, und sie erblühte zu einer Schönheit.

Während der Zeit, als sie noch krank war, hatte sie Sprachen studiert, nun wollte sie auch selbst verdienen. Ihre Eltern hätten genug Geld für sie aufgewendet, meinte sie, ein Vermögen, wie Dr. Norden wußte.

In einem Übersetzungsbüro wurde Amelie von einem Fernsehregisseur entdeckt. Und nun, fünfundzwanzig Jahre jung, war sie als Ansagerin zu einem Publikumsliebling geworden.

»Mich würde es nicht wundern, wenn sie bald eine glänzende Partie machen würde«, sagte Fee Norden an diesem Abend.

»Hoffentlich findet sie den richtigen Mann«, bemerkte Daniel.

*

An Heirat dachte Amelie nicht. Sie war umschwärmt, und sie genoß es, aber in ihr war etwas hängengeblieben, was sie vorsichtig machte. Sie ging gern aus, und mit ihrer bezaubernden Natürlichkeit gewann sie nicht nur die Herzen von Männern. Auch ihre Kolleginnen schätzten sie als einen guten Kumpel.

Ein ganz besonders gutes Verhältnis hatte sie zu der jungen Redakteurin Tanja Borck gefunden.

Sie trafen sich, so oft es bei ihren unterschiedlichen Arbeitszeiten mög­lich war. Neuerdings hatte Tanja aber noch einen besonderen Grund, Amelie noch näher zu kommen, doch den verriet sie mit keinem Wort.

Als sie sich am Freitag zum Mittag­essen im Kasino trafen, fragte Tanja: »Hast du nicht Lust, mal mit zu uns zu kommen? Meine Eltern möchten dich so gern kennenlernen, und im Spätsommer ist es bei uns in den Bergen ganz besonders schön. Du hast doch das Wochenende frei, Amelie. Sag bitte ja.«

Amelie war überrascht, aber auch erfreut. »Da meine Eltern ihre Kur auf der Insel der Hoffnung machen, habe ich nichts vor«, erwiderte sie. »Ich komme gern mit, Tanja.«

Und nun freute sich Tanja. Ihre dunklen Augen strahlten. Äußerlich waren diese beiden jungen Frauen so verschieden wie sie nur sein konnten. Amelie war blond, grauäugig und zierlich. Tanja war groß, hatte dunkles Haar und dunkle Augen und war von herbem Typ. Aber sie hatten viele Gemeinsamkeiten. Sie waren beide sehr vielseitig interessiert und bei aller Kontaktfreudigkeit sehr diffizil im Umgang mit Menschen, die nicht in ihr Vorstellungsbild paßten.

»Fein, ich hole dich ab. Bist du so gegen neun Uhr schon ausgeschlafen, Amelie?«

»Ausgeschlafen bin ich schon um sieben Uhr«, erwiderte die um drei Jahre Jüngere lachend.

»Das ist fein, dann können wir ja schon um neun Uhr in Mittenwald sein und bei meinen Eltern frühstücken. Hoffentlich spielt das Wetter mit.«

Das zeigte sich von seiner freundlichsten Seite. Es war so warm, wie es an manchen Hochsommertagen nicht gewesen war.

Der Morgennebel löste sich in sanften Schleiern von Wiesen und Feldern, als sie die Stadt hinter sich gelassen hatten. Es waren schon viele Ausflügler unterwegs, aber es machte beiden nichts aus, wenn sie mal langsamer fahren mußten.

»Wenn nur unsere Verkehrsdurchsagen immer stimmen würden«, sagte Tanja ironisch. »Von einem Stau kann doch gar nicht die Rede sein.«

»Vielen geht es halt nicht schnell genug«, sagte Amelie. »Wer langsam fährt, kommt auch zum Ziel.«

Ihr Ziel war ein wunderschönes Landhaus im oberbayerischen Stil. Es lag an einen Hügel gebettet. Geranien rankten sich vom Balkon, eine dichte Fichtenhecke rahmte das große Grundstück ein. Ein blonder Labrador kam ihnen freudig bellend entgegengesprungen, warf Tanja bei der stürmischen Begrüßung fast um und beschnüffelte dann Amelie. Aber sie hatte schnell Gnade vor seinen treuen Augen gefunden.

Eine anmutige ältere Dame im hübschen Dirndl kam ihnen nun entgegen, der man eine so große Tochter wie Tanja nicht zugetraut hätte. Charlotte Borck war nicht größer als Amelie, und sie strahlte mütterliche Wärme aus.

»Es freut uns so sehr, daß wir Sie endlich kennenlernen, Amelie«, sagte sie herzlich, »in natura, denn vom Bildschirm sind Sie uns ja schon wohlbekannt.«

In der Tür standen zwei Männer, die sich unglaublich ähnlich sahen, beide sonnengebräunt, groß, breitschultrig, sportlich, und auf den ersten Blick hätte man sie eher für Brüder halten können, denn für Vater und Sohn.

»Paps und mein Bruder Tonio«, stellte Tanja vor. Und ihre eigene Ähnlichkeit mit den beiden Männern war unverkennbar.

»Noch hübscher als aus der Röhre«, lachte Carl Borck, »fein, daß wir Sie mal nicht mit Millionen teilen müssen, Amelie.«

Das Nesthäkchen der Familie, Tina, achtzehn Jahre jung, erschien, als sie schon beim Frühstück saßen.

»Ihr steht wohl mit den Hühnern auf«, maulte sie, aber Amelie schenkte sie ein freundliches Lächeln.

»Na, nun wird Tonio ja zufrieden sein, seinen Schwarm endlich kennenzulernen«, sagte Tina nebenbei.

»Fräulein Naseweis, halt dich zurück«, sagte Charlotte Borck mahnend.

»Guten Geschmack hat er wenigstens«, stellte Tina keß fest

»Dieses Biest habe ich mal auf Händen getragen«, knurrte Tonio.

»Und ich liebe dich so, daß ich immer um dein Seelenheil besorgt bin«, sagte Tina richtig lieb.

»Nimm’s leicht, Amelie«, sagte Tanja. »Das ist der übliche Ton bei uns.«

Aber es war tatsächlich so, daß Tonio sie mehrmals gebeten hatte, Amelie doch mal mitzubringen. Es war nicht bloße Schwärmerei, denn so was paßte nicht zu ihm. Es war ernsthaftes, tiefes Interesse.

Peinlich war die Situation keinesfalls. Amelie warf Tonio einen schelmischen Blick zu. Er gefiel ihr allein schon durch seine Ähnlichkeit mit Tanja. Alles hier gefiel ihr. Sie fühlte sich wohl.

Tina wurde wenig später von einem jungen Burschen abgeholt.

»Ach, jetzt ist mal wieder der Schorschi an der Reihe«, war Tanjas Kommentar dazu.

»Sie erprobt ihre Macht«, lachte Carl Borck, »aber solange sie einen gegen den andern ausspielt, ist mir nicht bange.« Er erhob sich. »Fahren wir jetzt, Lotti?« fragte er seine Frau.

»Was habt ihr vor, Tanja?« fragte Charlotte.

»Wir machen einen Ausflug. Du kommst doch mit, Tonio?«

»Ja, gern.«

»Macht Brotzeit unterwegs. Essen gibt es erst abends«, sagte Charlotte. »Es bleibt zu hoffen, daß Hanna bis dahin gekalbt hat.«

Da war Amelie doch erst mal sprachlos. Tanja sagte mit leisem Lachen: »Paps ist Tierarzt, und Hanna ist eine Kuh, Amelie.«

 

»Du hast mir nie etwas von deiner Familie erzählt, Tanja«, sagte Amelie.

»Ich wußte ja nicht, ob es dich interessiert. Wir hatten auch sonst immer genug Gesprächsstoff. Tonio ist übrigens Augenarzt.«

»Und Mamuschka war Schauspielerin«, sagte Tonio von der Tür her. »In eine verrückte Familie sind Sie geraten, Amelie. Tina will Rennfahrerin werden.«

»Du liebe Güte«, sagte Amelie, »aber nett seid ihr alle.«

Und mit dieser Bemerkung war der Bann endgültig gebrochen.

*

Sie machten einen herrlichen Ausflug und stärkten sich vor dem Abstieg in einem Berggasthof bei frischem Apfelstrudel und Kaffee.

»So was hätte ich mir früher nicht leisten dürfen«, sagte Amelie spontan.

»Um die Linie brauchst du doch nicht bange sein«, sagte Tonio. Das Du war ihm so herausgerutscht, und sie blieben dabei ohne langes Gerede.

»Um die Linie nicht, aber ich war zuckerkrank«, sagte Amelie, und sie sagte es mit Bedacht, damit vor allem Tonio gleich Bescheid wissen sollte.

»Du warst zuckerkrank?« fragte er staunend, die Betonung auf »warst« legend.

»Vom vierten bis zum zweiundzwanzigsten Lebensjahr«, sagte Amelie. »Ich wurde in Amerika operiert. Operation geglückt, Patient lebt, wie ihr seht. Aber es bleibt unter uns.«

»Dann bist du der berühmte Fall«, sagte Tonio staunend. »Der einzige erfolgreiche bisher.«

»Es tut mir leid für die andern, aber man darf die Hoffnung nicht aufgeben. Ich hatte günstige Voraussetzungen.«

Und die Eltern das nötige Geld, dachte Tonio. Er hatte über den Fall dieser anonymen Patientin gelesen. Nun saß sie ihm gegenüber, das Mädchen, in das er sich schon vom Bildschirm her verliebt hatte.

»Lieb, daß du so viel Vertrauen zu uns hast«, sagte Tanja leise.

»Ich habe sonst noch mit niemandem darüber gesprochen, aber es ist himmlisch, wenn man solchen köstlichen Apfelstrudel nicht stehen lassen muß. Es ist ein wundervoller Tag, und es tut so wohl, wenn man mit einer so kraftvollen Familie mithalten kann. Meine Eltern haben so sehr gelitten in all den Jahren und sie konnten es noch immer nicht glauben, daß ich ganz gesund bin. Sie würden mich am liebsten immer noch in Watte packen.«

»Das verstehe ich«, sagte Tonio leise.

»Schau mich doch an. Ich bin gesund«, lachte Amelie. »Ich bin ein medizinisches Wunder.« Plötzlich wurde sie ernst. »Und dabei weiß ich nicht, warum ich jetzt darüber geredet habe.«

»Wegen des Apfelstrudels«, lenkte Tanja lächelnd ab, aber ihr war gar nicht zum Lachen zumute, als sie in Tonios ernstes Gesicht blickte.

Sie gingen langsam, obgleich es abwärts viel unbeschwerlicher war. Tonio ging voran, Amelie folgte ihm und den Schluß bildete Tanja. Als Amelie einmal stolperte, drehte sich Tonio blitzschnell instinktiv um und fing sie auf.

»Du mußt aufpassen«, sagte er.

»Es hat plötzlich so vor meinen Augen geflimmert«, erwiderte sie. Errötend blickte sie ihn an. »Du hast wohl den sechsten Sinn?«

»Tonio hat mindestens neun Sinne«, sagte Tanja mit leisem Lachen.

»Übertreib nicht,Tanja«, sagte er verweisend. »Legen wir einen Schritt zu. Es wird ein Gewitter kommen.«

»Aber der Himmel ist doch ganz blau«, sagte Amelie.

»Warte es nur ab«, scherzte Tanja. »Lassen wir die Sinne, nennen wir es Antenne. Vielleicht hat Tonio sogar hellseherische Fähigkeiten, die er für sich behalten will.«

Da kam schon ein Wind auf, trieb Wolken unter dem Himmel hinweg, und als sie das Haus erreichten, krachte es auch schon.

Amelie sah Tonio an. »Du wirst mir unheimlich, Tonio«, sagte sie verhalten.

»Bitte, sag das nicht«, murmelte er. »Ich habe halt einen Animus, oder wie Tanja sagte, eine innere Antenne.«

Dann legte er seine schmalen Hände um Amelies Schultern. Tanja ging schnell in die Küche.

»Ich setze Teewasser auf«, rief sie.

Tonio hielt Amelies Blick zwingend fest. »Zum Beispiel weiß ich genau, daß du eines Tages meine Frau sein wirst«, sagte er mit dunkler Stimme.

Sie konnte nichts sagen und wollte es auch nicht. Sie wußte, daß dieser Mann ihr Schicksal war.

Seine rechte Hand legte sich unter ihr Kinn. »Du mußt mir vertrauen, Amelie, immer, zu jeder Zeit.«

Sie hörten die Eltern kommen. Rasch löste sich Amelie und eilte zu Tanja in die Küche. Sie war verwirrt und dennoch glücklich.

»Kann ich dir helfen, Tanja?« fragte sie hastig.

»Ruh dich aus, Amelie. Mamutschka wird hier sowieso gleich das Regiment übernehmen.«

Tanja machte sich ihre eigenen Gedanken. Sie hatte nie vergessen, wie Tonio eines Abends gesagt hatte: »Ich muß dieses Mädchen kennenlernen, Tanja. Sie wird mich eines Tages brauchen.«

Seltsame Worte waren das gewesen, aber manches an Tonio war seltsam, obgleich er doch alles andere als ein Träumer war.

*

Hanna hatte ihr Kälbchen zur Welt gebracht. Es war alles gutgegangen. Charlotte schwärmte, als würde es sich um ein menschliches Baby handeln. Amelie konnte sich schlecht vorstellen, daß diese Frau einmal Schauspielerin gewesen war.

Dann begriff sie, wie sehr Charlotte diesen Carl Borck geliebt haben mußte, daß sie nur noch mit ihm leben wollte. Und sie begriff auch, wie sehr dieser Mann seine Frau liebte, als sie nach dem Essen beisammen saßen und er davon berichtete, wie großartig seine Lotti mal wieder gewesen sei.

Tina war nicht zum Essen erschienen. »Das gefällt mir gar nicht«, brummte Carl.

»Sie wird das Gewitter abwarten«, sagte Charlotte. »Sie werden auf dem Volksfest gewesen sein.«

Tonio sprang plötzlich auf. »Ich hole sie«, sagte er heiser. Und schon war er draußen.

»Es ist etwas passiert«, sagte Charlotte tonlos.

»Denk doch nicht gleich so was«, wurde sie von ihrem Mann getröstet. Amelie sah Tanja stumm an. Tanja preßte die Lippen aufeinander.

Grelle Blitze zuckten vom Himmel, dann folgte gleich darauf ein gewaltiger Donnerschlag.

Amelie schrie auf. »Entschuldigung«, murmelte sie, »ich hatte immer Angst vor Gewittern.«

Tanja legte den Arm um sie. »Du brauchst keine Angst zu haben, Amelie«, flüsterte sie.

»Ausgerechnet heute hätte das nicht sein brauchen«, sagte Carl.

Aber dann herrschte wieder Stille. Der Regen rauschte hernieder. Carl Borck ging zur Tür, als von draußen Stimmen zu vernehmen waren.

Tonio kam mit Tina auf den Armen. Pudelnaß waren beide, und Tina schluchzte jämmerlich.

»O Gott«, stöhnte Charlotte.

»Es ist nicht schlimm, Mutti«, sagte Tonio.

»Schorschi«, schluchzte Tina.

»Er wird schon wieder«, murmelte Tonio.

Tina wurde ins Bett gepackt. Charlotte richtete Wärmflaschen her. Tanja brühte Tee auf.

»Kann ich nicht auch was tun?« fragte Amelie.

»Du setzt dich ganz ruhig hin«, sagte Tonio rauh.

»Nun sag schon, was passiert ist«, drängte Tanja.

»Sie sind vom Volksfest gekommen und wollten wegen des Gewitters den Weg abkürzen über den Hirtensteig, und da ist der Blitz ins Drahtseil gefahren. Den Schorschi hat es ganz schon erwischt, aber er hat ein gesundes Herz.«

»Und du hast mal wieder was geahnt«, murmelte Tanja.

»Ich habe den Schrei gehört«, sagte Tonio.

Den könnte er unmöglich gehört haben, dachte Tanja, da der Hirtensteig weit entfernt lag.

»Der Doktor wird gleich kommen und Tina untersuchen«, brummte Tonio. »Nun regt euch nicht auf.«

Es hatte geläutet. Tonio öffnete einem jungen Mann die Tür. »Dr. Diefenbach«, stellte Tonio vor.

Tanja war verwirrt. »Wieso?«

»Unser neuer Doktor.«

Tonio führte ihn zu Tina. »So einer geht aufs Land«, murmelte Tanja, »das gibt es doch noch.«

»Wenn es nur nicht schlimm ist«, flüsterte Amelie.

»Tut mir so leid, daß das Gewitter kam«, sagte Tanja. »Es war so ein schöner Tag.«

Tina war mit dem Schock davongekommen, und nur ihre Kleidung war versengt. Sie bekam eine Injektion und schlief. Über Schorsch erfuhren sie, daß er Verbrennungen an den Händen und im Gesicht davongetragen hatte, aber dank Tonios rascher Hilfe ging es ihm den Umständen entsprechend ganz gut.

Dr. Diefenbach suchte ihn in der Klinik auf und kam dann nochmals zu den Borcks, um Bericht zu erstatten. Er schaute zuerst nach Tina, aber die schlief ganz ruhig.

»Und auf den Schreck hin nehmen wir einen guten Schluck«, sagte Carl Borck. »Oder müssen Sie gleich weiter, Eric!«

Man schien mit ihm schon vertraut zu sein. Tonio und Eric duzten sich bereits. Und Eric erzählte dann, daß er auf Tonios Vermittlung die Praxis des alten Dr. Pollack übernommen hatte.

»Davon hast du wirklich überhaupt noch nichts erzählt«, wunderte sich Tanja.

»Ich dachte nicht, daß es dich interessiert, wo du doch so selten hier bist«, meinte Tonio.

Erics helle Augen ruhten forschend auf Tanjas Gesicht. Dann wanderte sein Blick zu Amelie. »Ihr Gesicht kenne ich«, sagte er mit einem flüchtigen Lächeln.

»Ich sitze ja auch nur hinterm Schreibtisch«, warf Tanja ein.

Amelie war verwundert, daß Tanja so unsicher war. Da sagte Eric: »Wir sind uns aber auch schon mal begegnet.«

»Ich kann mich nicht erinnern«, sagte Amelie.

»Ich meinte Tanja«, erklärte Eric. »Es ist aber schon ein paar Jahre her. Es war bei einem Sommerfest von der Uni. Ich wollte Sie zum Tanzen auffordern, aber Sie waren so engagiert, daß ich einen Korb bekam.«

Heiße Glut überflutete Tanjas Gesicht. »Haben Sie es mir sehr übelgenommen?« fragte sie stockend.

»Mächtig«, sagte Eric hintergründig.

»Aber so ernsthaft war ich nicht engagiert, wie Sie feststellen können.«

»Sie ist eine ganz emanzipierte Frau«, stellte Carl Borck schmunzelnd fest. »Denkt gar nicht daran, sich ins Ehejoch zu begeben. Hat nur die Karriere im Kopf.«

»Übertreib nicht, Carlchen«, sagte Charlotte. »Unsere beiden Großen sind sich nur einig, uns nicht zu Großeltern machen zu wollen.«

Sie plauderten sich über den Schrecken hinweg, und der gute Wein trug auch dazu bei.

Als Dr. Diefenbach sich verabschiedete, hatten sich die Gewitterwolken bereits wieder verzogen, und unzählige Sterne leuchteten auf sie herab.

»Vielleicht habe ich doch mal Gelegenheit, Sie wieder zu einem Tanz aufzufordern, Tanja«, sagte Eric, »ohne einen Korb zu bekommen.«

»Vielleicht zum Erntedankfest«, erwiderte sie.

»Das ist in zwei Wochen, dann brauche ich ja nicht lange zu warten«, meinte er.

»Potzblitz«, raunte Carl seiner Frau zu, »das läßt ja hoffen.«

»Sag bloß nicht Blitz«, seufzte sie. »Davon habe ich heute genug.«

»Wir gehen jetzt schlafen«, sagte Tanja. »Oder bist du noch nicht müde, Amelie?«

»Ich würde Amelie gern noch etwas fragen«, sagte Tonio, »falls sie nicht zu müde ist.«

»Okay, dann zeigst du ihr das Gästezimmer«, meinte Tanja.

»Ich schaue noch nach Tina«, sagte Charlotte.

Und Carl wünschte allen eine gute Nacht.

Amelie hatte nicht gewußt, was sie sagen sollte, und nun sah sie Tonio fragend an.

»Es könnte sein, daß wir morgen keine Gelegenheit mehr haben, allein miteinander zu sprechen, Amelie«, sagte er ruhig. »Ich wollte dich bitten, mir mehr über deine Operation zu erzählen.«

Das war es also, was ihn interessierte. Sie war irgendwie enttäuscht, doch dann kam ihr auch wieder in den Sinn, was er vorhin gesagt hatte, in einem ganz anderen Ton.

»Ich weiß darüber selbst nur, was dann geschrieben wurde«, erwiderte sie. »Ich habe ja kaum etwas mitbekommen. All die Fachausdrücke habe ich sowieso nicht verstanden. Ich kann nur sagen, daß es wundervoll für mich war, auf das Insulin verzichten zu können. Wenn man schon von Kindheit an damit leben mußte, ist das zwar so, als gehöre es dazu, aber wenn man dann darüber nachdenkt, ist es sehr belastend. Man muß bei so vielem zuschauen, wenn einem auch das Wasser im Munde zusammenläuft. Und dann die besorgten Eltern! Sie waren so ganz auf mich konzentriert, immer nur darauf bedacht, mich nie allein zu lassen.«

»Die Operation war mit einem großen Risiko verbunden«, sagte Tonio leise.

»Daß du dich so dafür interessiert hast«, staunte sie. »Du bist Augenarzt.«

»Ich werde dir das später mal erklären, Amelie. Ich möchte alles ganz genau wissen.«

»Wenn es dir so wichtig ist, frag doch mal Dr. Norden. Er kann es dir genau erklären.«

Er griff nach ihren Händen und drückte sie an seine Brust.

 

»Du bist ungeheuer wichtig für mich, Amelie«, sagte er.

»Du kennst mich doch noch gar nicht richtig«, flüsterte sie.

»Du ahnst nicht, wie gut ich dich kenne. Es war ein ereignisreicher Tag. Er hat Böses gebracht, aber noch mehr Gutes. Ich denke, daß wir beide diesen Tag nie vergessen werden. Wir werden später noch oft darüber sprechen.«

»Bist du immer so sicher?« fragte Amelie verhalten.

»Meistens. Wenn ich unsicher bin, geht es um Menschen, die völlig bedeutungslos für mich sind.«

»Wie konntest du nur wissen, daß Tina in Gefahr ist?« fragte sie gedankenvoll.

»Weil ich sie liebe. Sie wird noch oft Schutz brauchen. Sie ist zwölf Jahre jünger als ich, unser Nesthockerle. Alle waren nachsichtig mit ihr, nur ich war streng, weil ich wußte, daß es sein müßte. Sie ist wie Mutschka, die ohne Paps verloren gewesen wäre. Aber mit ihm zur Seite ist sie stark.«

»Sie hat für ihn ihren Beruf aufgegeben«, sagte Amelie sinnend.

»Sie mußte diesen Beruf aufgeben. Sie hatte eine Stimmbandlähmung.«

»Aber davon merkt man nichts mehr«, staunte Amelie.

»Auch Liebe kann Wunder vollbringen, Amelie, nicht nur die tüchtigen Ärzte.«

Amelie! Wie er das sagte, ließ ihr das Blut heiß durch die Adern strömen.

»Und jetzt wirst du schlafen«, sagte Tonio zärtlich, und ganz leicht berührten seine Lippen ihre Stirn.

*

Amelie hatte wundervoll geschlafen. Nichts war von dem Schrecken geblieben, so als hätte Tonio alle Gedanken daran weggezaubert. Ein nie gekanntes Glücksgefühl begleitete das Erwachen.

Sie erhob sich und trat auf den Balkon. Tief atmete sie die würzige Luft ein.

»Wirst du dir gleich was überziehen«, ertönte da Tanjas Stimme. »Es ist kühl, Amelie.«

»Aber ein wunderschöner Morgen«, sagte Amelie träumerisch. »Und es duftet schon nach Kaffee«, lächelte Tanja. »Hopp, hopp, ich war schon im Bad.«

»Wie geht es Tina?« fragte Amelie.

»Ich werde mich gleich erkundigen.«

Als Amelie ins Bauernzimmer kam, war der Tisch schon gedeckt. »Paps und Tonio waren schon beim Angeln«, sagte Tanja. »Heute gibt es frische Forellen.«

Und da trat Tonio schon ein. Er hatte sich bereits umgekleidet, trug Jeans und einen lässigen Pulli. Sein Haar war noch feucht und hatte einen bläulichen Schimmer. In seinen Augen waren kleine goldene

Flämmchen, als er Amelie einen guten Morgen wünschte.

»Gut geschlafen?« fragte er mit dunkler Stimme.

»Wundervoll«, erwiderte sie.

Dann kamen auch Charlotte und Tina. Tina war noch blaß, und kein keckes Wort kam über ihre Lippen.

»Tut mir leid, daß ich dir das Wochenende verdorben habe, Amelie«, sagte sie entschuldigend.

»Sag doch nicht so was«, gab Amelie zurück. »Ich bin froh, wenn es dir wieder besser geht.«

»Mami hat gesagt, daß du Angst vor Gewittern hast. Jetzt geht es mir auch so«, sagte Tina. »Ich wollte nur pünktlich zu Hause sein. Und Schorsch muß es büßen.«

»Dafür kannst du nichts «, sagte Tonio. »Mach dir keine Vorwürfe.«

»Trink deinen Kakao, Kleines«, sagte Charlotte, »und iß was.«

»Ich möchte Schorschi besuchen«, sagte sie leise.

»Das hat noch Zeit. Ich bringe dich zum Krankenhaus«, sagte Carl Borck.

»Schorsch paßt überhaupt nicht zu Tina«, sagte Charlotte, als Vater und Tochter weggefahren waren. »Aber jetzt wird sie voller Mitleid sein, und er erreicht doch noch, was er wollte.«

»Denk nicht so weit, Mutschka«, sagte Tanja.

»Sie ist doch noch so jung. Da wird noch viel Wasser den Berg hinunterfließen.«

»Was die Männer anbetrifft, brauche ich mir ja bei dir keine Sorgen zu machen«, sagte Charlotte seufzend, »aber bei Tina ist es doch etwas anders. Sie begeistert sich so schnell und redet sich dann auch gleich was ein. Jetzt ist sie Feuer und Flamme für Dr. Diefenbach.«

Tanjas Kopf ruckte empor. Amelie sah, wie sich ihre Augen noch mehr verdunkelten.

»Na, das ist doch wenigstens ein gestandener Mann«, sagte Tanja dann. »Von diesen jungen Burschen kann sie doch nichts profitieren.«

Ja, sie war ein Muster an Selbstbeherrschung, wie Amelie wieder einmal feststellen konnte.

»Ich denke, es wäre besser, wenn Tina doch mal von hier wegkäme«, sagte Charlotte. »Wir wollten mit dir darüber sprechen, Tanja. In der Schule war sie ja nicht gerade eine Leuchte. Aber neulich hat sie mal gesagt, daß sie gern Arzthelferin werden würde.«

»Bei Dr. Diefenbach wahrscheinlich«, sagte Tanja gleichmütig.

»Da bestünde gar keine Möglichkeit. Da führt seine Mutter das Regiment. Aber vielleicht bietet sich in München eine Gelegenheit.«

Amelie horchte auf. »Ich weiß, daß Dr. Norden jemand zur Entlastung für Loni sucht«, sagte sie rasch. »Und da würde sie den richtigen Einblick bekommen. Außerdem könnte sie bei uns wohnen, Frau Borck.«

»Sag doch auch einfach Lotti zu mir oder Mutschka«, sagte Charlotte. »Meinst du das ernst, Amelie?«

»Ich muß natürlich erst Dr. Norden fragen, ob er schon jemanden gefunden hat, aber ich könnte ihn ja anrufen«, sagte Amelie.

»Am Sonntag? Nein, so rasch braucht es nicht zu gehen. Warten wir auch erst mal ab, was Tina sagen wird, wenn sie zurück ist.«

»Sie wird liebend gern nach München gehen«, sagte Tonio so ganz nebenbei.

»Wie meinst du das?« fragten seine Mutter und Tanja fast aus einem Munde.

»Weil ihr der liebe Schorschi die Schuld geben wird, daß er im Krankenhaus liegen muß.«

»Was du gleich immer denkst«, sagte Charlotte kopfschüttelnd.

»Warten wir es ab«, sagte Tonio gelassen. »Gehen wir ein Stück, Amelie?«

»Kommt auch kein Gewitter?« fragte sie.

»Bestimmt nicht«, erwiderte er. »Habt ihr was dagegen, wenn wir eine Stunde wandern?«

Charlotte und Tanja verneinten. »Wir bereiten die Forellen zu«, sagte Tanja, und ein rätselhaftes Lächeln lag auf ihrem Gesicht.

Charlotte blickte ihnen nach. »Ich habe Tonios Schwärmerei für Amelie nicht so ernst genommen«, sagte sie nachdenklich.

»Es ist keine Schwärmerei, Mutschi«, sagte Tanja.

»Was dann?«

»Es ist Liebe«, sagte Tanja.

»Tonio erforscht doch jeden Menschen erst ganz«, meinte Charlotte. »Amelie hat er gerade erst kennengelernt.«

»Und ich denke, er kennt sie besser als jeder andere Mensch.«

»Ich finde sie ja reizend, Tanja. Denk nur nicht, daß ich etwas gegen solche Schwiegertochter einzuwenden hätte. Aber ich bin seine Mutter, und mir ist er oft ein Rätsel. Wie soll eine Frau ihn nur verstehen? Amelie ist doch sehr sensibel.«

»Zwischen ihnen gibt es die Antenne, da bin ich ganz sicher«, sagte Tanja.

»Vielleicht sind sie sich schon einmal in einem früheren Leben begegnet.«

»Red nicht solchen Unsinn. Daran glaube ich nun wirklich nicht.«

»Aber ich glaube daran, daß sie von einem unbegreiflichen Schicksal füreinander bestimmt sind, Mutsch. Ich habe ihre Horoskope erstellen lassen.«

»Jetzt fängst du auch noch mit diesem Blödsinn an«, ereiferte sich Charlotte. »Was ist denn in dich gefahren, Kind?«

»Manchmal ist es kein Blödsinn, Mutsch. Computern darf man so was allerdings nicht überlassen. Aber die Zukunft wird es erweisen, ob es stimmt.«

»Und das bedeutet, daß du mir mehr nicht sagen willst.«

»Ja, das bedeutet es. Du glaubst ja doch nicht daran.«

Und dann konnten sie sowieso nicht mehr darüber sprechen, denn Carl und Tina kamen zurück, und Tina war in Tränen aufgelöst. Und Carl Borck sah düster aus.

»Jetzt geben sie Tina die Schuld«, knurrte er gereizt. »Schorsch und seine Eltern.«

»Hat Tonio es nicht gesagt?« meinte Tanja beiläufig.

Charlotte stand am Herd. »Jetzt werdet ihr mir langsam unheimlich«, murmelte sie.

Tanja nahm ihre kleine Schwester in den Arm. »Du kommst mit nach München, Tina. Wir suchen dir eine Stellung als Arzthelferin.«

»Schorsch hat doch gesagt, daß wir diesen Weg gehen konnten«, schluchzte Tina. »Und außerdem hätte er ja gar nicht mitzukommen brauchen. Und was kann ich denn dafür, daß der Blitz nicht mich getroffen hat.«

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