Nacht ohne Ufer

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Nacht ohne Ufer
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Patricia Büttiker

Nacht ohne Ufer

Roman


LEISE öffnete sich die Tür.

Gloria kam herein. Sie ging zum Stuhl und hängte ihre Handtasche über die Rücklehne. Sie schob den Stuhl ans Bett der Mutter, setzte sich und legte die Arme auf das Gitter.

Esther stieg der Geruch von Zigarettenrauch in die Nase. Sie blickte auf den Rand des Bettes, an dem sie saß, und verstand nicht, weshalb es nicht auch auf ihrer Bettseite ein Gitter gab.

Alles in Ordnung?, fragte Gloria.

Ich muss aufs Klo, sagte Esther, ohne die Frage der Schwester zu beantworten.

Sie stand auf, verließ das Zimmer. Sie ging den schwach beleuchteten Flur entlang, ihre Schuhe klackten. Durch einen Türspalt fiel Licht. Sie hörte ein Stöhnen und die sanfte Stimme einer Frau.

Im Fenster am Ende des Flurs erblickte sie ihr Spiegelbild. Draußen war es dunkle Nacht. Anders als sonst fand sie jetzt nichts an sich auszusetzen.

Beim Öffnen quietschte die Toilettentür.

Das Licht ging an, sie kniff die Augen zusammen. In der hintersten Kabine schloss sie sich ein. Sie knöpfte die Hose auf und setzte sich.

Esther spülte, putzte das Klo, spülte, wusch sich mit viel Seife die Hände, zerknüllte das Papier und drückte mit dem Fuß das Pedal des Abfalleimers.

Sie eilte ins Zimmer zurück, ließ sich auf den Stuhl fallen und holte tief Luft.

Der von dünnen Lippen umrahmte Mund der Mutter war noch immer offen. Er führte in einen dunklen Innenraum.

Esther schaute an Gloria vorbei zum Waschbecken, an der grob verputzten Wand entlang zu einem an der Wand befestigten Gerät mit einer geringelten Schnur. Dann blickte sie wieder ins Gesicht der Mutter.

Ein Stück weiter unten hob und senkte sich der Brustkorb kaum merklich.

Esther bemerkte den Feuermelder an der Decke.

Unvermittelt ging ihr Blick wieder zum offenen Mund. Er schien die dunkelste Stelle im Zimmer zu sein.

GESTERN war die Krankenschwester ins Zimmer gekommen und hatte am Infusionsständer einen Beutel ausgewechselt. Sie bat Gloria und Esther, kurz mit ihr hinauszukommen. Es werde nicht mehr lange dauern, sagte sie, man habe die künstliche Flüssigkeitszufuhr abgestellt. Der Sterbeprozess werde so nicht unnötig verlängert. Die Tür des Zimmers nebenan ging auf, Sonnenlicht fiel in den düsteren Flur. Ein alter Mann mit zittrigen Beinen, der einen Infusionsständer vor sich herschob, kam heraus. Sie komme gleich, rief die Krankenschwester. Über die Nachricht sei sie nicht unfroh, sagte Esther. Die Ungewissheit sei endlich zu Ende. Gloria und die Krankenschwester warfen sich einen Blick zu.

Später kam die Krankenschwester nochmals ins Zimmer. Sie trat ans Bett und befeuchtete die Lippen der Mutter mit einem nassen Lappen. Sie legte ihr die Hand auf die Stirn. Abwechselnd blickte sie zu Gloria und Esther. Auch ein Mensch in Agonie nehme seine Umgebung wahr, sagte sie, insbesondere Berührungen. Es sei wichtig, sterbende Menschen anzufassen. Sie strich der Mutter über die Stirn. Das sei ein schönes Wort, sagte Esther. Von welchem Wort sie rede, fragte die Krankenschwester. Agonie, sagte Esther. Sie wusste nicht, was das Wort bedeutet. Agonie bedeute Todeskampf, sagte die Krankenschwester, als habe sie Esthers Gedanken erraten. Sie stand auf und ging aus dem Zimmer. Ob sie glaube, dass ein sterbender Mensch Berührungen tatsächlich wahrnehme, fragte Esther. Sie denke schon, sagte Gloria.

DIE Arme zwischen die Gitterstäbe geschoben, lagen Glorias Hände auf dem Arm der Mutter. Die Finger mit den rot lackierten Nägeln waren lang und dünn.

Weshalb gibt es nur auf deiner Seite ein Gitter?, fragte Esther. Mutter kann doch auch hier herausfallen.

Gloria sah auf. Die Augen schienen tief in den Höhlen zu liegen, doch so genau sah Esther ihre Schwester im trüben Licht des Zimmers nicht.

Vielleicht fallen Menschen eher auf der rechten Seite aus dem Bett, sagte sie.

Warum sollten sie das?, fragte Esther.

Weil die meisten Rechtshänder sind.

Und was ist mit den Linkshändern?

Die bekommen eben links ein Gitter.

Du meinst, sie müssen beim Eintritt ins Krankenhaus sagen, mit welcher Hand sie schreiben?

Wer weiß, sagte Gloria.

Esthers Blick wurde von den rot lackierten Fingernägeln angezogen.

VOR zwei Tagen war Esther angekommen. Den Lederkoffer in der Hand eilte sie zum Krankenhaus, an einem mit Margeriten bewachsenen Hügel vorbei. Sie fragte die Frau hinter der Glasscheibe nach der Zimmernummer der Mutter. Die Frau legte den Stempel beiseite und blätterte in einem zerfledderten Heft. Fünfhundertsechs, sagte sie und fuhr fort, Karteikarten zu stempeln. Esther ging die Treppe hoch, nahm zwei Stufen auf einmal. Sie klopfte und drückte langsam die Türklinke herunter. Abgestandene Luft schlug ihr entgegen, sie atmete durch den Mund. Gloria kam auf sie zu. Sie hätten sich lange nicht gesehen. Ja, sagte Esther. Sie gaben sich die Hand. Esther ging zur Mutter und küsste sie auf die Wange. Hallo Mum. Die Mutter könne nicht mehr reden, sagte Gloria. Esther schaute sie erschrocken an.

Sie setzten sich ans offene Fenster, die Sonne schien herein. Esther fielen die schönen, dunkel gelockten Haare der Schwester auf. Sie habe auf der Bahnfahrt einen Fuchs gesehen, sagte sie, und beim Umsteigen beinahe den falschen Zug erwischt. Sie sei mit dem Bus gekommen, sagte Gloria und drehte den Kopf zur Mutter. Das Sonnenlicht wurde schwächer und die Schatten weicher. Die Locken verloren ihren Glanz. Wann sie sich zuletzt gesehen hätten, fragte Gloria und drehte den Kopf wieder zu Esther. Sie wisse es nicht mehr so genau, sagte Esther, erinnere sich nur noch, dass sie, vom See kommend, Gloria in einem Bikini auf einer Wiese habe sitzen gesehen. Gloria runzelte die Stirn. Die Sonne schien wieder mit voller Kraft, leuchtete das Zimmer bis in den hintersten Winkel aus.

UND was ist mit den Leuten, die mit beiden Händen schreiben?, fragte Esther.

Die bekommen auf beiden Seiten ein Gitter, sagte Gloria. Obschon …, die gibt es nicht.

Gloria nahm die Hände kurz vom Arm der Mutter und legte sie etwas höher wieder hin.

Ich hatte mal einen Lehrer, der mit beiden Händen schreiben konnte, sagte Esther. Die Schrift unterschied sich kaum.

Das ist unmöglich, sagte Gloria.

Dann ist es eben unmöglich, sagte Esther und hörte den Trotz in ihrer Stimme.

Gloria verschob die Hände noch höher, als sei es ihr an der Stelle zu heiß geworden.

Die Mutter stöhnte leise. Rasch warf Esther einen Blick auf den Brustkorb.

Die Mutter bewegte ihre Beine, die spitzen Knie zeichneten sich unter der Bettdecke ab.

Sie ist kleiner geworden, sagte Esther.

Kleiner?, fragte Gloria und zog die Hände vom Arm der Mutter weg. Das kann nicht sein.

Esther wunderte sich, dass die Schwester ihre Bemerkung abermals infrage stellte.

Möchtest du einen Kaffee?, fragte Gloria.

Ja gerne, sagte Esther.

Gloria nahm die Handtasche und ging leise aus dem Zimmer.

Sie kam zurück, einen Becher in jeder Hand. Mit der Schulter stieß sie die Tür zu, und wieder stieg Esther Zigarettenrauch in die Nase.

Gloria reichte ihr den Becher, ging zu ihrem Stuhl, setzte sich und schlug die Beine übereinander. Schlürfend trank sie den Kaffee.

Esther blies in die leicht dampfende Brühe und nahm einen Schluck. Der Kaffee schmeckte bitter.

Gloria streckte die Beine aus und zerdrückte gedankenverloren den Becher.

Was meinst du, wie lange wird es noch dauern?, fragte Esther und blickte zur Mutter, dann, als habe sie mit ihrer Frage etwas Unerhörtes gesagt, zu Boden. Er war grauschwarz gemustert.

Ich weiß es nicht, hörte sie Gloria sagen.

Esther schob den Ärmel des Pullovers zurück. Die Uhr zeigte Viertel nach zwei.

GESTERN, nachdem die Krankenschwester nochmals ins Zimmer gekommen war, war Esther mit dem Bus zu einer Freundin der Mutter gefahren. Im Gästezimmer schlief sie ein paar Stunden. Ihre Mutter sei eine liebenswürdige Person gewesen, sagte die Freundin beim anschließenden Essen. Die Worte trafen Esther, es fiel ihr schwer, weiter zu essen. Sie fuhr zum Krankenhaus zurück, den See entlang, an goldgelben Kornfeldern vorbei. Sie eilte die Treppe hoch, öffnete die Tür und blickte zur Mutter. Wie es ihr gehe. Den Umständen entsprechend, sagte Gloria und verließ das Zimmer, um ihrerseits zur Freundin der Mutter zu fahren. Sie müsse aufpassen, die Freundin rede bereits in der Vergangenheitsform von der Mutter, hätte ihr Esther am liebsten hinterhergerufen.

Die erste Nacht hatten Gloria und Esther zusammen im Krankenhaus verbracht. Esther schlief, bis sie ein leichtes Klopfen auf der Schulter spürte. Gloria stand vor ihr, jetzt sei sie dran. Sie ging zu ihrem Stuhl zurück, setzte sich und breitete die Wolldecke über sich aus. Augenblicklich rutschte ihr Kopf zur Seite. Esther nahm sich vor, die Mutter nicht aus den Augen zu lassen, doch schon bald wurden die Augenlider schwer, das Bett wurde unscharf, ehe es hinter einem dunklen Vorhang verschwand. Sie riss die Augen auf. Das feine Auf und Ab des Brustkorbs war noch da. Die restlichen eineinhalb Stunden blieb sie halbwegs wach. Dann trat sie zu Gloria. Jetzt sei sie dran, sagte Esther und setzte sich wieder auf ihren Stuhl. Sie wickelte sich in die Wolldecke und schlief sofort ein.

 

Am Morgen, bevor Esther zum Krankenhaus gefahren war, hatte sie auf dem Bett in ihrem Zimmer gesessen und in einem Buch von Joseph Beuys gelesen. Es hatte an der Tür geklopft. Eine Mitbewohnerin streckte den Kopf ins Zimmer. Da sei ein Anruf für sie. Esther klappte das Buch zu, stand auf und trat in den düsteren Eingangsbereich der Wohnung. Der Hörer lag auf dem Tischchen, die Muschel nach unten. Hallo? Am anderen Ende der Leitung hörte sie Glorias Stimme. Der … der Mutter gehe es sehr schlecht. Sie müsse sofort kommen. Im Telefonbuch schlug Esther die Nummer der Kunsthochschule nach, an der sie studierte. Sie rief an und erklärte, dass sie ein paar Tage nicht kommen könne. Hastig stopfte sie Kleider in ihren dunkelbraunen Lederkoffer, fuhr zum Bahnhof und nahm den Zug.

ESTHERS Herz, das vom Kaffee heftig pochte, musste im ganzen Zimmer zu hören sein.

Gloria hielt den Becher noch immer in der einen Hand, mit der anderen drehte sie nervös an einer Haarlocke.

Ihre Blicke trafen sich. Durch das gedämpfte Licht hindurch sahen sie sich an, bis Gloria den Kopf zur Seite wendete und die Hand in die Hosentasche steckte.

Esther stand auf, ging an Gloria vorbei zum Abfalleimer, der bis oben mit zerknüllten Papiertüchern gefüllt war, und warf den Becher hinein. Sie setzte sich wieder, ließ ihren Blick durchs Zimmer schweifen.

Das Licht im Zimmer war dunkelblau, in den Ecken und unter dem Waschbecken fast schwarz.

ESTHER hatte noch den Vorkurs an der Kunsthochschule besucht, als die Krankheit der Mutter begann. Eines Morgens stand der Lehrer neben ihr. Da sei ein Anruf für sie, sagte er. Sie legte den Pinsel auf den Tisch. Beim Hinausgehen spürte sie den Blick einer Mitschülerin im Rücken. Sie drehte sich um, die Mitschülerin schaute rasch weg. Im Lehrerzimmer hielt Esther den Hörer ans Ohr. Der Bruder ihrer Mutter sei am Apparat, sagte eine Stimme. Ah, der Bruder der Mutter, sagte Esther, sie habe von ihm gehört, er sei doch Maler, sie würde ihn gerne kennenlernen. Ja, sagte er, er müsse ihr aber etwas anderes sagen. Ihre Mutter sei im Krankenhaus, er wisse nichts Genaueres. Esther notierte sich die Telefonnummer, die er nannte, und bedankte sich. Er wünsche ihr alles Gute, sagte er und legte auf.

Aus dem Hörer, den sie noch immer ans Ohr hielt, drang regelmäßiges Tuten. Langsam wanderte ihr Blick zur Vitrine mit den ausgestopften Tieren, die in der Ecke des Zimmers stand. Der Hase setzte zu einem Sprung an. Esther legte den Hörer auf und schaute zum Fuchs. Er schlief. Sie nahm den Hörer und wählte die Nummer des Krankenhauses. Nach langem Läuten meldete sich eine weibliche Stimme. Im selben Moment bemerkte Esther die dunkelroten Ziegel auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses. Sie erkundigte sich nach der Mutter. Sie werde gleich verbunden. Man wisse noch nichts Genaueres, sagte nach einer gefühlten Ewigkeit eine männliche Stimme.

Esther kehrte zu ihrem Tisch zurück und betrachtete den Apfel. Sie nahm den Pinsel, mischte ein kräftiges Rot und setzte einen Fleck. Sie drückte Farbe auf die Palette, mischte ein dunkleres Rot und übermalte die noch feuchte Stelle. Sie schaute zwischen dem Apfel und dem Bild hin und her. Aus jeder Tube drückte sie Farbe. Sie mischte Rot mit Grün, Rot mit Blau, Gelb und Blau und übermalte den pastosen Fleck immer wieder. Wie von Sinnen malte sie über den Fleck hinaus. Am Ende war das Papier mit einem abstrakten Geflecht aus Rottönen bedeckt. Der Lehrer trat zu ihr. Das sei ein interessantes Bild, sagte er. Sie hasse es, sagte Esther und zerriss es. Eine Mitschülerin drehte sich nach ihr um. Weitere Mitschüler blickten zu ihr herüber.

ESTHER strich sich mit der flachen Hand übers Gesicht, als wische sie damit die Röte weg, die ihr damals ins Gesicht gestiegen war.

Sie blickte zu Gloria, die wegsah und dann wieder zu ihr hin.

Es wird bestimmt nicht mehr lange dauern, sagte Gloria und strich sich ebenfalls übers Gesicht.

Esther rückte den Stuhl näher ans Bett.

Der Kopf der Mutter lag inmitten des kaum eingedrückten Kissens. Esther fragte sich, ob nicht nur der Körper, sondern auch der Kopf kleiner wurde.

Ein lautloser Schrei schien aus dem offenen Mund der Mutter zu dringen.

EIN paar Wochen später hatte ihr die Mutter am Telefon mitgeteilt, woran sie erkrankt sei. Nach dem Gespräch rief Esther eine Kollegin an, um sich mit ihr in einem Café zu treffen. Atemlos erzählte Esther von der Krankheit der Mutter. Sie glaube, die Mutter sei krank geworden, weil Esther immer gemein zu ihr gewesen sei. Das verstehe sie gut, sagte die Kollegin und öffnete die Speisekarte. Seit die Mutter krank sei, könne sie nicht mehr schlafen, fügte Esther hinzu. Die Kollegin stellte die Karte in die Halterung zurück. Da komme ihr gerade in den Sinn, was ihre Großmutter einmal in ihr Poesiealbum geschrieben habe, sagte sie und lachte. Ein gutes Gewissen sei ein sanftes Ruhekissen. Das Bild, ein Kaktus mit roter Blüte, habe sie dann selbst unter das Sprichwort malen müssen.

ESTHER wusste nicht mehr, wie sie auf die Bemerkung der Kollegin reagiert, was sie gefühlt oder nach dem Besuch des Cafés gemacht hatte. Die Kollegin hatte sie seither nicht mehr gesehen.

Sie überlegte, ob ein kleiner werdender Kopf bedeutete, dass der Schädel sich zusammenzog.

Die spitzen Knie der Mutter schienen die Bettdecke zu durchstechen.

Esther drehte den Kopf zu den Astern, die auf dem Nachttisch neben dem Bett standen, und spürte dabei ein leichtes Knirschen im Nacken.

Die einst violetten Blütenblätter waren verwelkt und hatten sich zu einer unförmigen Kugel zusammengezogen.

VOR zwei Wochen hatte Esther die Blumen gebracht. Die Mutter saß im Morgenrock am Tischchen beim Fenster und blätterte in einer Zeitschrift. Wie sie sich über die Chrysanthemen freue, sagte sie, stand auf und nahm die Blumen entgegen. Das seien Astern, sagte Esther und ging auf den Flur, um eine Vase zu holen. Die Chrysanthemen seien so schön, sagte die Mutter, als Esther mit einer Vase in der Hand zurückkam, Wasser einlaufen ließ und die Blumen hineinstellte. Wie sie sich über die Chrysanthemen freue, sagte die Mutter immer wieder. Astern, wirklich, die Floristin habe es gesagt. Beim Abschied ahnte Esther nicht, dass sie die Mutter zum letzten Mal mit offenen Augen sehen würde, sie zum letzten Mal würde sprechen hören.

HINTER dem Nachttisch mit den Astern stand der Infusionsständer. Esthers Blick verlor sich im Gewirr der Schläuche. Sie hatte auf einmal Lust, eine Schere zu holen und alle Schläuche durchzuschneiden.

Sie fragte sich, weshalb dieses Ding mit seinem dünnen Ständer, den Schrauben und Haken so hässlich war.

Bereits am Anfang ihrer Krankheit war die Mutter am Tropf eines solchen Ständers gehangen. Die Haare waren ihr ausgefallen.

SEIT sie krank sei, spüre sie tief in ihrem Körper ein Zittern, hatte die Mutter bei einem Telefongespräch gesagt. Bei Esthers Besuch ein paar Wochen später erzählte sie, eines Abends habe sie sich ins Bett gelegt, und als sie wieder aufgewacht sei, sei es drei Uhr nachmittags gewesen. Im Türrahmen des Schlafzimmers habe sie eine Frau mit grau meliertem Haar gesehen, die ihr den Rücken zugewandt habe. An den Haaren, an der Körperhaltung habe sie eine lang verstorbene Freundin erkannt. Wie niemand sonst sei sie ihr als junge Frau beigestanden. Wie niemanden sonst habe sie diese Frau geliebt. Sie habe gewusst, würde sie sich von vorne zeigen, wäre sie selber tot. Sie sei wieder eingeschlafen. Das habe sie nur geträumt, sagte Esther. Sie werde wieder gesund.

Nicht lange nach dem Besuch gingen sie zusammen in eine Ausstellung. Sie schlenderten an den Bildern vorbei, blieben hin und wieder stehen. Der Maler habe mit allen möglichen Materialien gearbeitet, Packpapier, Karton, Servietten, sagte Esther. Vor einem Bild mit einer Kuh, einer mit festen Strichen gesetzten Kuh, blieben sie stehen. Das Tier schaue neugierig aus dem Bild, sagte die Mutter, als wolle es alles wissen. Sie lachte laut heraus, Esther lachte mit. Ob das jetzt auf Packpapier oder Karton gemalt sei. Das sei Holz, sagte Esther. Sie bemerkte die Tränen, die der Mutter übers Gesicht liefen. Mit der Hand näherte sie sich dem Rücken der Mutter. Sie zog sie wieder zurück. Was los sei, fragte sie. Sie wisse es nicht, sagte die Mutter. Sie könne nicht länger in der Ausstellung bleiben.

Sie verließen das Museum und gingen in Richtung Parkplatz, vorbei an einer Wiese mit Pusteblumen. Die Bilder seien voller Abgründe, sagte die Mutter. Das finde sie eben nicht, sagte Esther, die Bilder seien voller Humor, Leichtigkeit und Lebensfreude. Bei einer Wiese mit einem Esel blieben sie stehen. Die Mutter versuchte, ihn mit Zungenschnalzen anzulocken. Sie probierte es mit Gras. Als auch das nichts nützte, gingen sie weiter. Das rote Auto der Mutter war in Sichtweite. Das sei es ja gerade, sagte die Mutter. Unter der vermeintlich fröhlichen Oberfläche spüre sie etwas anderes. Sie stiegen in das von der Sonne erhitzte Auto. Die Mutter steckte den Zündschlüssel und startete den Motor. Die Bilder erinnerten sie an früher, sagte sie, bevor sie losfuhren.

Es knackte. Esther zuckte zusammen.

Gloria warf den zerdrückten Becher in Richtung Abfalleimer, er fiel auf den Boden.

Mist, sagte sie.

Sie hob den Becher auf und warf ihn in den Eimer.

Sie setzte sich wieder und wühlte in der Handtasche. Mit dem Stofftaschentuch, das sie herauszog, schnäuzte sie sich ausgiebig. Sie zerknüllte es und stopfte es in die Hosentasche. Sie richtete den Blick auf Esther.

Esther spürte, wie ihr heiß wurde, und senkte den Kopf. Ihre Hand lag auf dem Bein. Im Gegensatz zu Glorias schmaler Hand war sie klein, die Finger kurz und dick. Beim Daumenansatz waren drei Punkte in dunklem Blau zu sehen, die sie sich damals hatte tätowieren lassen.

Langsam schaute sie wieder auf. Ruhig atmend lag die Mutter da.

NACHDEM die Mutter krank geworden war, sahen sie sich häufiger. Bei schönem Wetter gingen sie zusammen spazieren. Sie wirke so stolz, sagte Esther bei einem Spaziergang am See, sei immer so schön gekleidet. Das freue sie, sagte die Mutter. Sie lasse sich nicht unterkriegen. Unter der Perücke sei ihr manchmal aber ganz schön heiß. Sie habe sich überlegt, das Ding zu Hause zu lassen, habe sich aber dagegen entschieden. Sie wolle die Leute nicht erschrecken. Sie erschrecke die Leute nicht, sagte Esther. Doch, sagte die Mutter. Sie schaue vermutlich auch hin, wenn eine Frau mit kahlem Schädel daherkomme. Sie schaue weg, sagte Esther. Eben, sagte die Mutter und erzählte von den Füßen, die immer warm seien. Sie gehe selbst bei kalten Temperaturen ohne Socken und in leichten Schuhen nach draußen.

Im vergangenen Winter spazierten sie einmal den See entlang. Die Mutter blieb stehen und zeigte auf einen Haubentaucher. Das Gefieder auf dem Kopf sehe aus wie eine Perücke. Er tauchte ab. Dort vorne … Dort wird er auftauchen, sagte die Mutter. Nein, dort. Esther zeigte in die Gegenrichtung. Sie lachten. Der Haubentaucher blieb unter Wasser. Er sei wohl in die ewigen Jagdgründe eingegangen, sagte die Mutter. Als sie weitergingen, kam der Haubentaucher wieder an die Wasseroberfläche. Esther bemerkte die Blicke der Leute, die an ihnen vorbeispazierten. Sie starrten auf die nackten Füße der Mutter, die in offenen Halbschuhen steckten, dann in ihr Gesicht. Esther machte sich mit einem Husten bemerkbar und fixierte die Leute, bis sie wegschauten.

WARUM hat er mit beiden Händen geschrieben?, fragte Gloria.

Was?, fragte Esther, verärgert darüber, dass sie aus ihren Gedanken gerissen worden war.

Warum dein Lehrer mit beiden Händen geschrieben hat, wiederholte Gloria und kratzte sich am Kopf.

Bei einer Wanderung hatte er sich das Handgelenk gebrochen, sagte Esther. Das hat ihn gezwungen, mit der linken Hand zu schreiben. Seither schrieb er mit beiden Händen.

Ist er über einen Stein gestolpert?, fragte Gloria.

Ach, das weiß ich doch nicht.

Ist er einen Hang hinuntergestürzt?

Er ist über seine eigenen Füße gestolpert, sagte Esther, zog die Augenbrauen hoch und holte tief Luft.

Interessant, sagte Gloria.

Esther atmete aus und dachte wieder an den Spaziergang am See. Der kahle Schädel der Mutter war unter der Perücke verborgen gewesen. Dafür hatten ihre nackten Füße Aufmerksamkeit erregt. Esther musste schmunzeln.

ESTHER traf die Mutter auf den Spaziergängen. Und sie hörte ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter. Ob sie zurückrufen könne, lautete eine oft aufgesprochene Nachricht. Mit zitternden Fingern wählte Esther dann die Nummer. Es dauerte eine Weile, bis am anderen Ende der Leitung der Hörer abgenommen wurde. Hallo?, sagte Esther. Hallo, sagte sie noch einmal. Wie es ihr gehe, fragte die Mutter, ohne den Gruß zu erwidern, ihre Stimme klang bröckelig und wie unter Wasser. Es gehe ihr sehr gut, sagte Esther, wie es ihr gehe. Was sie so mache, fragte die Mutter. Sie arbeite ständig, sagte Esther, wie es ihr gehe. Miserabel, sagte die Mutter. Sie fühle sich müde und schlaff, die Blutwerte seien am Boden. Das habe sie gedacht, sagte Esther. Der Anrufbeantworter habe so unruhig geblinkt.

 

Sie solle bitte sofort zurückrufen, war die andere Nachricht, die manchmal aus dem Anrufbeantworter drang. Esther nahm dann hastig den Hörer und wählte die Nummer. Die Mutter meldete sich sofort. Es gehe ihr sehr gut, die Ärzte seien zuversichtlich. Eben sei sie drei Stunden den See entlangspaziert. Sie habe gedacht, dass es ihr gutgehe, sagte Esther, ihre Stimme auf dem Anrufbeantworter habe so hell geklungen. Sie wolle sie bald treffen, sagte die Mutter bei einem der Anrufe, wann sie Zeit habe. Sie vereinbarten einen Termin und verabschiedeten sich voneinander. Esther ging zur Tür der einen Mitbewohnerin und klopfte. Sie klopfte an die Tür der anderen. Keine war zu Hause. In ihrem Zimmer zog sie ihre Lieblings-CD aus dem Regal, legte sie ein und tanzte durch die Wohnung.

ESTHER nahm die Vase mit den Astern und trug sie zum Waschbecken.

Willst du sie schon wegwerfen?, hörte sie Gloria sagen.

Esther drehte sich um.

Sie sehen so frisch aus, sagte Gloria.

Esther streckte ihr die Vase entgegen.

Frisch?

Gloria roch an den Blüten.

Wie du meinst.

Esther nahm die Blumen, knickte sie um und stopfte sie in den Müll. Das faul riechende Wasser goss sie ins Waschbecken, die Vase stellte sie auf den Beckenrand. Sie kehrte zu ihrem Stuhl zurück.

ESTHER hatte sich mit einer Kollegin im selben Café verabredet, in dem sie schon mit der anderen Kollegin gewesen war. Sie drehe fast durch, sagte Esther. Das Auf und Ab der kranken Mutter reiße ihr den Boden unter den Füßen weg. Sie begann zu weinen, hielt sich die Hände vors Gesicht. Die Hand der Kollegin, die sie auf dem Rücken spürte, machte, dass sie nur noch mehr weinte, sie glaubte, nie mehr damit aufhören zu können, wie als Kind, als die Erwachsenen sagten, wenn sie nicht aufhöre zu weinen, habe sie bald keine Tränen mehr. Als die Kollegin die Hand wegnahm und es an der Stelle wieder kühler wurde, versiegten Esthers Tränen. Durch die rauchverhangene Luft des Cafés hindurch sah sie gerade noch, wie die Leute ihre Blicke verschämt abwandten.

DIE Vase auf dem Rand des Waschbeckens störte Esther.

Sie stand auf, nahm sie und ging aus dem Zimmer.

Am Ende des Flurs fand sie ein Regal mit Vasen. Ihr fiel wieder ein, wie lange sie nach einer geeigneten Vase für die Astern gesucht hatte. Die einen waren zu niedrig gewesen, sodass die Blumen umkippten, dann wieder waren sie zu weit, und es sah aus, als steckten die Blumen in einer zu großen Hose. Eine bauchige Vase, von der sie dachte, sie sei zu klein, passte.

Esther kehrte ins Zimmer zurück und ließ sich auf den Stuhl fallen. Gloria warf ihr einen fragenden Blick zu.

EINMAL hatte ein Zettel mit der Notiz einer Mitbewohnerin vor Esthers Zimmer gelegen. Bitte sofort zurückrufen, stand darauf und eine unbekannte Telefonnummer. Beim Wählen der Nummer fiel ihr beinahe der Zettel aus der zitternden Hand. Sie müsse vorbeikommen, die Mutter sei eben im Krankenhaus eingeliefert worden, sagte am anderen Ende der Leitung eine weibliche Stimme. Sie solle bitte Schlafanzug, Morgenrock, T-Shirt, Unterhemd, Unterhose, Zahnpasta, Zahnbürste, Frottiertuch für die Mutter mitbringen. Der Schlüssel zur Wohnung der Mutter liege im Paketfach bereit. Ob sie bitte nochmals sagen könne, was sie alles mitbringen solle, fragte Esther. Die Stimme wiederholte es, ungehalten. Esther notierte sich alles und bedankte sich für das nette Gespräch.

Sie eilte zum Bahnhof und kaufte sich eine Fahrkarte. Im vordersten Wagen der Bahn setzte sie sich in ein freies Abteil. Sie zupfte am Ärmel des Pullovers. Sie legte die Hand auf die Beine, doch bald zupfte sie wieder am Ärmel herum. Rasch zog die schneebedeckte Landschaft an ihr vorbei. Sie verließ das Abteil, stellte sich in den dröhnenden Eingangsbereich des Waggons und schloss die Augen. Ob alles gut sei, hörte sie eine Stimme. Esther öffnete die Augen. Sie solle bitte die Fahrkarte vorzeigen, sagte die Zugbegleiterin. Esther schaute im Geldbeutel nach. Wühlte in der Handtasche. Durchsuchte die Jackentaschen. Die Fahrkarte blieb unauffindbar. Sie habe eine gekauft, sagte sie, den Tränen nahe. Das würden alle sagen, sagte die Frau und füllte einen Einzahlungsschein aus.

DIE Krankenschwester stand mitten im Zimmer, eine Strähne ihres hochgesteckten, blonden Haares fiel ihr ins Gesicht. Der weiße Kittel schien den düsteren Raum heller zu machen. Esther hatte sie nicht kommen gehört.

Wie geht es Ihnen beiden?, fragte die Krankenschwester.

N… nicht schlecht, sagte Esther.

Gut, sagte Gloria und unterdrückte ein Gähnen.

F. Herrmann, las Esther auf dem Schild, das über der Brust der Krankenschwester befestigt war. Sie hatte es erst jetzt bemerkt, dabei kannte sie die Krankenschwester, seit sie vor zwei Tagen im Krankenhaus angekommen war.

Vom Infusionsständer nahm Frau Herrmann einen leeren Beutel und ging hinaus. Sie kam zurück, einen Beutel mit durchsichtiger Flüssigkeit in der Hand, und verband ihn mit dem Schlauch, der unter die Bettdecke der Mutter führte.

Sie legte die Hand auf die Schulter der Mutter und blickte zu Gloria.

Sagen Sie, wenn etwas ist.

AM folgenden Morgen hatte die Mutter aus dem Krankenhaus angerufen. Sie bedankte sich für die mitgebrachten Sachen und entschuldigte sich, dass sie ihre Anwesenheit kaum wahrgenommen habe. Sie brauche sich nicht zu …, sagte Esther. Es gehe ihr schon wieder sehr gut, sagte die Mutter, ob sie Lust habe, mit ihr ein paar Tage in die Berge zu fahren. Sie komme …, sagte Esther. Sie kenne ein schönes Hotel, sagte die Mutter. Esther hielt sich den Hörer ans andere Ohr und dachte, es sei sonst nicht die Art der Mutter, anderen ins Wort zu fallen. Sie komme gerne mit, sagte Esther. Ob sie noch so weit fahren könne. Es war lange still, dann gab die Mutter ein lang gezogenes Geräusch von sich. Es trieb Esther einen kalten Schauer über den Rücken. Also, übernächstes Wochenende, sagte die Mutter. Gerne, sagte Esther.

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