Was nun?

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Die Vorlage zu diesem Buch ist das gesprochene Wort Oshos. Der Diskurs „God is Dead“ ist, wie alle seine „Talks“, aus dem Stegreif vor einer großen Zuhörerschaft gehalten, und wurde vom Tonband übersetzt. Die Redaktion der deutschen Übersetzung folgt der englischen Buchausgabe und gibt, wie diese, so genau wie möglich den spontanen Redefluss Oshos wieder. Alle Osho Diskurse sind als Originale publiziert worden und als Original-Audios erhältlich. Audios und das vollständige Text-Archiv finden sie unter der Onlinebibliothek „Osho Library“ bei www.osho.com

Titel der Originalausgabe:

THE BOOK OF UNDERSTANDING – Creating Your Own Path to Freedom erschienen bei Harmony Books, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC

Ebookausgabe 2020

Umschlaggestaltung: Bunda S. Watermeier, www.watermeier.net

Übersetzung: Rajmani H. Müller

Copyright © der Originalausgabe 2006 by Osho International Foundation, Switzerland, www.osho.com/copyrights

Copyright © 2020 Innenwelt Verlag GmbH, Köln

www.innenwelt-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

OSHO® ist eine registrierte Handelsmarke der Osho International Foundation, Schweiz, lizensiert durch diese. www.osho.com/trademarks

eISBN 978-3-947508-79-2

WAS
NUN?

Über Freiheit und Verantwortung


„Ich glaube nicht daran, zu glauben.

Mein Weg ist zu erkennen –

und Erkenntnis ist eine völlig andere Dimension.

Sie beginnt mit dem Zweifel, nicht mit dem Glauben.

Sobald du etwas glaubst, hörst du auf, es selbst zu erforschen.

Der Glaube ist eines der zerstörerischsten Gifte

für die menschliche Intelligenz.

Sämtliche Religionen beruhen auf dem Glauben,

nur die Wissenschaft beruht auf dem Zweifel.

Ich plädiere dafür, auch die religiöse Erforschung

auf die wissenschaftliche Basis des Zweifels zu stellen.

Dann brauchen wir nichts zu glauben,

aber wir können eines Tages die Wahrheit erkennen –

die Wahrheit unseres Seins und

die Wahrheit des ganzen Universums.”

INHALT

Vorwort

Die Spiritualität der Zukunft – eine Rebellion des Individuums

Kapitel 1

Diesseits und Jenseits – zum Verständnis der großen Spaltung

Sorbas der Buddha – die Verbindung von Erde und Himmel

Körper und Seele – eine kurze Geschichte der Religion

Arm und Reich – die Wurzeln von Armut und Habgier

Kapitel 2

Glaube und Erfahrung – zum Verständnis des Unterschieds zwischen Wissen und Erkenntnis

Gelehrter und Kind – wie man seine kindliche Unschuld wieder erlangt

Außen und Innen – wo die beiden Welten zusammentreffen

Cleverness und Weisheit – wie man sein verknotetes Denken entwirrt

Kapitel 3

Führer und Gefolgsleute – zum Verständnis der Verantwortung, die in der Freiheit liegt

Hirte und Schafe – die Marionette durchschneidet die Fäden des Puppenspielers

Macht und Korruption – die Wurzeln der Politik im Innen und Außen

Verloren und wieder gefunden – das Wiedererlangen der Einfachheit

Kapitel 4

Gewissen und Bewusstsein – zum Verständnis der Freiheit, die in der Verantwortung liegt

Gut und Böse – Leben nach den eigenen Geboten

Regeln und Verantwortung – die Gratwanderung der Freiheit

Reagieren und spontanes Antworten – die Fähigkeit des weichen Parierens

Kapitel 5

Sinn und Bedeutung – vom Bekannten zum Unbekannten zum Unkennbaren

Energie und Verstehen – der Weg von der Lust zur Liebe

Kamel, Löwe und Kind – der Weg zur Menschwerdung

Vertikale und Horizontale – der Weg in die Tiefen des Jetzt

Nachwort

Über den Autor

VORWORT
Die Spiritualität der Zukunft – eine Rebellion des Individuums

Der Revolutionär gehört zur Welt der Politik, seine Vorgehensweise ist politisch. Nach seinem Verständnis genügt es, die Gesellschaftsstruktur zu verändern, um den Menschen zu verändern.

Der Rebell hingegen, so wie ich diesen Begriff verwende, ist ein spirituelles Phänomen. Seine Vorgehensweise ist absolut individuell. Seine Vision besagt: Wenn wir die Gesellschaft verändern wollen, müssen wir den einzelnen Menschen verändern.

Die Gesellschaft an sich existiert nicht – es ist nur ein Wort, wie „Menge“: Wenn du nach ihr suchst, findest du sie nirgends. Du begegnest immer nur einem einzelnen Menschen, einem Individuum. „Gesellschaft“ ist nur eine kollektive Bezeichnung, ein Begriff ohne jegliche Realität, völlig substanzlos. Das Individuum hat eine Seele; es hat die Möglichkeit zur Evolution, zur Veränderung, zur Transformation. Das macht einen riesigen Unterschied.

Der Rebell ist die Essenz aller Religion. Er bringt der Welt eine Bewusstseinsveränderung. Und wenn das Bewusstsein sich verändert, wird sich zwangsläufig auch die Gesellschaftsstruktur verändern. Aber umgekehrt geht das nicht. Das haben sämtliche Revolutionen bewiesen, denn sie sind alle gescheitert.

Keine einzige Revolution hat es bisher geschafft, die Menschen zu verändern. Aber wir scheinen diese Tatsache völlig zu ignorieren. Wir halten immer noch an dem Gedanken fest, dass sich durch eine Revolution etwas verändern ließe, durch eine gesellschaftliche Veränderung, einen Regierungswechsel, eine bürokratische Wende, Gesetzesänderungen, einen Wechsel des politischen Systems. Der Feudalismus, der Kapitalismus, der Kommunismus, der Sozialismus, der Faschismus – sie alle waren auf ihre Art revolutionär, aber sie sind alle gescheitert, völlig gescheitert, denn sie haben den Menschen nicht verändert.

Ein Gautama Buddha, ein Zarathustra, ein Jesus – sie sind Rebellen. Sie setzen ihr ganzes Vertrauen in das Individuum. Auch sie waren bisher erfolglos, aber ihr Scheitern hatte völlig andere Gründe als das der Revolutionäre. Die Revolutionäre haben ihre Methoden in vielen Ländern, auf vielfältige Weise ausprobiert – und sind gescheitert. Die Vorgehensweise eines Gautama Buddha hingegen war bisher erfolglos, weil sie noch gar nicht ausprobiert wurde. Jesus war erfolglos, weil die Juden ihn gekreuzigt und die Christen ihn zu Grabe getragen haben. Man hat ihn noch gar nicht ausprobiert – er hatte noch keine Chance!

Der Rebell ist eine noch unerforschte Dimension.

Wir müssen Rebellen sein, nicht Revolutionäre. Der Revolutionär gehört einer sehr profanen Sphäre an. Der Rebell und sein rebellischer Geist sind etwas Heiliges. Der Revolutionär kann nicht für sich alleine stehen; er braucht die Menge, eine politische Partei, eine Regierung. Er braucht die Macht, und Macht korrumpiert. Und absolute Macht korrumpiert absolut.

Alle Revolutionäre, denen es gelang, an die Macht zu kommen, wurden durch die Macht korrumpiert. Sie schafften es nicht, das Wesen der Macht und ihrer Institutionen zu verändern, aber durch die Macht wurden sie selbst und ihr Denken verändert – sie wurden korrupt. Nur die Namen haben sich geändert, doch die Gesellschaft blieb unverändert.

Das menschliche Bewusstsein hat sich seit Jahrhunderten nicht weiterentwickelt. Nur sehr vereinzelt ist ein Mensch zur Blüte gelangt. Unter Millionen von Menschen ist das Erblühen eines Einzelnen nicht die Regel, sondern eine Ausnahme geblieben. Und weil ein solcher Mensch für sich alleine steht, kann ihn die Menge nicht dulden. Sein bloßes Dasein erweist sich als eine Art Demütigung. Seine bloße Anwesenheit fühlt sich wie eine Beleidigung an, denn er öffnet euch die Augen. Er erinnert euch an euer eigenes Potenzial, an eure eigene Zukunft.

 

Das verletzt euer Ego, denn ihr habt nichts dazu getan, um euch weiterzuentwickeln, um bewusster zu werden, liebevoller zu werden, ekstatischer, kreativer, stiller zu werden und eine schöne Welt um euch herum zu erschaffen. Ihr habt keinen Beitrag für die Welt geleistet. Euer Dasein erweist sich nicht als Segen, sondern als Fluch für die Welt. Euer Beitrag zur Welt sind eure Aggression und Gewalttätigkeit, eure Gefühllosigkeit, euer Neid, euer Konkurrenzdenken, euer Machthunger. Ihr habt die Welt zu einem Schlachtfeld gemacht. Ihr seid blutrünstig und verleitet auch andere dazu. Ihr nehmt der Menschheit ihre ganze Menschlichkeit. Ihr tragt dazu bei, dass die Menschen tiefer fallen, als es die Menschenwürde erlaubt, manchmal tiefer als die Tiere.

Deshalb empfindet ihr das Dasein eines Gautama Buddha oder eines Tschuangtse als Beleidigung, denn sie sind zur Blüte gelangt, während ihr immer nur auf der Stelle tretet. Ein Frühling nach dem anderen kommt und geht, aber in euch gelangt nichts zur Blüte. Keine Vögel kommen, um ihre Nester bei euch zu bauen und ihre Lieder in eurer Nähe zu singen. Es ist besser, einen Jesus zu kreuzigen und einen Sokrates zu vergiften – nur um sie loszuwerden! Dann braucht ihr euch in keiner Weise spirituell unterlegen zu fühlen.

Die Welt kannte bisher nur ganz wenige Rebellen. Doch nun ist die Zeit gekommen: Wenn es der Menschheit nicht gelingt, Rebellen in großer Zahl und einen rebellischen Geist hervorzubringen, dann sind unsere Tage auf dieser Erde gezählt. Dann könnten die kommenden Jahrzehnte zu unserem Grab werden. Wir nähern uns sehr schnell diesem Punkt.

Unser Bewusstsein muss sich verändern. Wir müssen mehr meditative Energie auf dieser Welt generieren, mehr liebevolle Energie. Wir müssen das Alte über Bord werfen – mit seiner ganzen Hässlichkeit, all den morschen Ideologien, den stupiden Diskriminierungen, dem ganzen idiotischen Aberglauben! Wir müssen einen neuen Menschen hervorbringen, der frische Augen und neue Werte mitbringt. Eine völlige Abkehr von der Vergangenheit – das bedeutet es, rebellisch zu sein.

Drei Begriffe sollen helfen, das zu verstehen: Reform – Revolution – Rebellion.

Reform bedeutet eine Modifizierung: Das Alte bleibt bestehen, aber man gibt ihm eine neue Form, ein neues Aussehen – ähnlich wie bei der Renovierung eines alten Gebäudes. Die ursprüngliche Baustruktur bleibt erhalten, aber das Gebäude bekommt einen neuen Fassadenanstrich, eine gründliche Reinigung, ein paar neue Fenster, neue Türen.

Revolution geht tiefer als Reform: Das Alte bleibt bestehen, aber es werden noch mehr Veränderungen vorgenommen, auch Veränderungen an der Grundstruktur. Es wird nicht nur der Anstrich verändert, ein paar neue Fenster- und Türöffnungen werden eingesetzt, vielleicht einige neue Stockwerke hinzugebaut, die das Gebäude höher in den Himmel wachsen lassen. Aber das Alte wird nicht demoliert, es bleibt bestehen, verborgen hinter dem Neuen. Im Grunde bleibt das Alte als Fundament des Neuen bestehen. Revolution bedeutet Kontinuität, den Fortbestand des Alten.

Rebellion bedeutet Diskontinuität des Alten. Rebellion ist weder Reform noch Revolution. Rebellion bedeutet, sich von allem Alten loszusagen: von den alten Religionen, den alten politischen Ideologien, dem alten Menschen. Es ist eine Absage an alles Alte. Das Leben wird noch einmal ganz von vorne begonnen, völlig frisch.

Während der Revolutionär versucht, das Alte zu verändern, lässt der Rebell das Alte einfach hinter sich – so wie eine Schlange aus ihrer alten Haut herausschlüpft und nicht einmal zurückblickt.

Wenn es uns nicht gelingt, solche rebellischen Menschen rund um die Welt hervorzubringen, hat die Menschheit keine Zukunft. Der alte Mensch hat uns alle an den Rand des Todes gebracht. Das alte Bewusstsein, das ganze alte Denken, die alten Ideologien, die alten Religionen – alles das zusammen hat uns die Situation des drohenden globalen Selbstmordes beschert. Nur eine völlig neue Art von Mensch kann diese Menschheit, diesen Planeten und das wundervolle Leben auf diesem Planeten noch retten!

Ich lehre die Rebellion, und keine Revolution. Für mich ist der rebellische Geist die Essenz eines religiösen Menschen. Rebellisch zu sein bedeutet Spiritualität in ihrer reinsten Form.

Die Tage der Revolutionen sind vorbei: Die Französische Revolution, die Russische Revolution, die Chinesische Revolution – sie alle sind gescheitert. Auch die Gandhi-Revolution in Indien ist gescheitert, und sie scheiterte vor Gandhis eigenen Augen. Sein Leben lang hatte er Gewaltlosigkeit gepredigt, doch nun wurde vor seinen eigenen Augen das Land geteilt, wurden Millionen von Menschen getötet, bei lebendigem Leibe verbrannt, wurden Millionen von Frauen vergewaltigt, und Gandhi selbst wurde erschossen. Was für ein sonderbares Ende für einen gewaltlosen Heiligen!

Und im Verlauf der Ereignisse hatte Gandhi selbst vergessen, was er all die Jahre zuvor gepredigt hatte. Bevor die Revolution gesichert war, hatte Louis Fischer, ein amerikanischer Denker, Gandhi einmal gefragt: „Was werden Sie mit den Waffen machen, mit der Armee und der ganzen Rüstung, wenn Indien seine Unabhängigkeit erlangt?“

Gandhi sagte: „Ich werde alle Waffen ins Meer werfen, und die Soldaten werde ich zur Arbeit auf die Felder und in die Gärten schicken.“

Und Louis Fischer fragte: „Haben Sie denn vergessen? Ihr Land könnte angegriffen werden.“

Gandhi sagte: „Dann werden wir sie willkommen heißen. Wenn jemand unser Land angreift, werden wir ihn als Gast empfangen und ihm sagen: ‚Du kannst auch hier leben, genau wie wir. Es ist nicht nötig, zu kämpfen.‘“

Aber dann hat er seine ganze schöne Philosophie vergessen. – Und so scheitern Revolutionen. Über diese Dinge zu reden, ist eine schöne Sache, aber wenn man erst einmal an der Macht ist … Mahatma Gandhi hat übrigens nie einen Posten in der Regierung übernommen. Er hatte wohl Angst davor, denn wie hätte er der Welt Rede stehen sollen, wenn man ihn gefragt hätte, ob die Waffen nun ins Meer geworfen werden sollten? Und wie war das mit den Soldaten, die zur Arbeit auf die Felder geschickt werden sollten? Vor dieser Verantwortung hat er sich gedrückt, obwohl er sein ganzes Leben lang dafür gekämpft hatte. Er konnte wohl sehen, dass es ihm enorme Schwierigkeiten bereiten würde. Eine Funktion in der Regierung zu übernehmen hätte bedeutet, seiner eigenen Philosophie zuwiderhandeln zu müssen.

Die Regierung wurde von seinen Schülern gebildet – von Leuten, die er selbst auswählte. Er verlangte nicht von ihnen, dass sie die Armee auflösten. Und als Indien von Pakistan angegriffen wurde, sagte er nicht zur indischen Regierung: „Jetzt geht an die Grenze und empfangt die Angreifer als unsere Gäste.“

Stattdessen gab er den ersten drei Flugzeugen, die Bomben auf Pakistan werfen sollten, seinen Segen. Die Flugzeuge kamen über die Villa in Delhi geflogen, in der Gandhi wohnte, und er trat hinaus in den Garten, um sie zu segnen. Mit seinem Segen flogen sie davon, um sein eigenes Volk zu vernichten, das er noch wenige Tage zuvor „unsere Brüder und unsere Schwestern“ genannt hatte. Ohne jeden Skrupel in Anbetracht dieses Widerspruchs …

Die Russische Revolution scheiterte vor Lenins Augen. Im Sinne von Karl Marx hatte er gepredigt: „Wenn die Revolution kommt, werden wir die Ehe auflösen, denn die Ehe gehört zum Privateigentum. Mit dem Privateigentum verschwindet auch die Ehe. Die Menschen können sich lieben und einfach zusammen leben. Die Gesellschaft wird sich um die Kinder kümmern.“ Als dann aber die Kommunistische Partei an die Macht kam und Lenin ihr Führer wurde, änderte sich alles. Wenn sie erst einmal an der Macht sind, ändern die Menschen ihre Gesinnung. Nun dachte Lenin, dass es gefährlich sein könnte, den Menschen diese Verantwortung abzunehmen; sie könnten zu individualistisch werden. Es war besser, ihnen die Bürde der Familie zu lassen. Und er verschwendete keinen Gedanken mehr daran, die Familie aufzulösen.

Es ist schon sonderbar, wie sämtliche Revolutionen gescheitert sind. Sie scheiterten durch die Revolutionäre selbst, denn sobald sie die Macht in Händen halten, ändert sich ihr Denken. Dann liegt ihnen in erster Linie daran, an der Macht zu bleiben. Dann unternehmen sie alle Anstrengungen, um die Macht für immer zu sichern und die Kontrolle über die Menschen zu behalten.

Die Zukunft braucht keine weiteren Revolutionen.

Die Zukunft braucht ein neues Experiment, das noch nie versucht wurde. Obwohl es im Laufe der Jahrtausende immer wieder Rebellen gab, blieben es doch nur vereinzelte Individuen. Vielleicht war die Zeit für sie noch nicht reif. Aber jetzt ist die Zeit nicht nur reif … Wenn wir uns nicht beeilen, wird es das Ende der Zeit bedeuten! In den kommenden Jahrzehnten wird entweder die Menschheit verschwinden – oder ein neuer Mensch erscheint auf dieser Erde, mit einer neuen Vision. Dieser neue Mensch wird ein Rebell sein.

1. KAPITEL
Diesseits und Jenseits – zum Verständnis der großen Spaltung

Ich propagiere eine neue Religiosität, die weder christlich noch jüdisch noch hinduistisch sein wird. Es ist eine Religiosität, die keinerlei Attribute hat, nur eine ganzheitliche Seinsqualität.

Die Religionen haben versagt, die Wissenschaft hat versagt. Der Osten hat versagt, der Westen hat versagt. Jetzt ist eine Synthese auf höherer Ebene nötig, in der Osten und Westen, Religion und Wissenschaft zusammenkommen können.

Der Mensch gleicht einem Baum mit tief in die Erde reichenden Wurzeln und der Möglichkeit zum vollen Erblühen. Die Religion hat versagt – sie redete immer nur von den Blüten. Das Erblühen blieb philosophisch und abstrakt; die Blüten manifestierten sich nie. Die Blüten konnten sich nicht manifestieren, weil sie nicht in der Erde verwurzelt waren. Die Wissenschaft hat versagt – sie schenkte nur den Wurzeln Beachtung. Doch die Wurzeln an sich sind unansehnlich und können nicht zur Blüte gelangen.

Die Religion hat versagt – sie war nur auf das Jenseits ausgerichtet und hat das Diesseits vernachlässigt. Aber die diesseitige Welt lässt sich nicht vernachlässigen. Die diesseitige Welt zu vernachlässigen bedeutet, seine eigenen Wurzeln zu vernachlässigen.

Die Wissenschaft hat versagt, denn sie hat die andere Welt, die Innenwelt, vernachlässigt – und die Blüten lassen sich nicht vernachlässigen. Wenn wir die Blüten vernachlässigen, das Allerinnerste unseres Seins, verliert unser Leben jeden Sinn.

So wie der Baum Wurzeln braucht, braucht auch der Mensch Wurzeln – und diese Wurzeln können nur in der Erde sein. Der Baum braucht einen freien Himmel, in den er hineinwachsen kann, um ein großes Laubdach und Tausende von Blüten zu entwickeln. Nur dann kommt der Baum zur Erfüllung, nur dann kann er ein Gefühl von Sinn und Bedeutung gewinnen, und das Leben wird sinnvoll.

Der Westen leidet, weil die Wissenschaft das Übergewicht bekommen hat. Und der Osten leidet, weil die Religion immer das Übergewicht hatte. Jetzt brauchen wir eine neue Art von Menschsein, das Religion und Wissenschaft als die beiden Aspekte ein und derselben Menschheit miteinander verbindet. Ist der neue Mensch einmal zum Leben erwacht, kann diese Erde endlich das werden, wozu sie bestimmt ist: Sie kann zum Paradies werden.

Dieser Körper ist der Buddha. Diese Erde ist das Paradies.

Sorbas der Buddha – die Verbindung von Erde und Himmel

Meine Vision des neuen Menschen ist eine Verbindung von Sorbas dem Griechen und Gautama dem Buddha. Dieser neue Mensch ist „Sorbas der Buddha“ – sinnenfreudig und spirituell zugleich. Durch und durch in der Materie beheimatet, im Körper und in den Sinnen verwurzelt, ein Genießer des Körpers und alles dessen, was durch den Körper ermöglicht wird. Und zugleich ein Mensch von hohem Bewusstsein und großem Gewahrsein. Sorbas und Buddha in einem – das hat es noch nie gegeben! Davon spreche ich, wenn ich über das Zusammenkommen von Ost und West, die Verbindung von Materialismus und Spiritualität rede. Darin besteht meine Vision von Sorbas dem Buddha: Himmel und Erde werden eins.

 

Ich will nicht mehr diese Schizophrenie, diese Trennung zwischen Materie und Geist, zwischen dem Profanen und dem Heiligen, zwischen dem Diesseits und dem Jenseits. Ich will jegliche Spaltung beseitigen, denn jede Spaltung bedeutet eine Spaltung im Innern des Menschen. Ein in sich selbst gespaltener Mensch, eine gespaltene Menschheit kann nur verrückt und krank sein. Wir leben in einer verrückten und kranken Welt. Sie kann nur gesund und heil werden, wenn wir diese Spaltung überwinden.

Bisher lebten die Menschen entweder im Glauben an die Wirklichkeit der Seele und die Unwirklichkeit der Materie – oder im Glauben an die Wirklichkeit der Materie und die Unwirklichkeit der Seele.

Die Vergangenheit kannte nur zwei Kategorien von Menschen: die Spirituellen und die Materialisten. Niemand hatte sich darum bemüht, den Menschen als Ganzes, in seiner Wirklichkeit zu sehen – er ist beides! Weder reine Spiritualität – also nur Bewusstsein – noch ausschließlich Materie. Er ist eine wunderbare, harmonische Verbindung von Materie und Bewusstsein.

Vielleicht sind Materie und Bewusstsein gar nicht zwei verschiedene Dinge, sondern nur zwei Aspekte ein und derselben Wirklichkeit – Materie der äußere Aspekt von Bewusstsein, und Bewusstsein der innere Aspekt von Materie. Aber kein einziger Philosoph, kein Weiser oder religiöser Mystiker der Vergangenheit hat auf diese Einheit hingewiesen! Sie alle propagierten die Spaltung des Menschen, da sie die eine Seite als wirklich und die andere als unwirklich bezeichneten. So ist auf der ganzen Welt ein Klima von Schizophrenie entstanden.

Ihr könnt nicht nur als Körper leben. Das meint Jesus, wenn er sagt: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“ – aber es ist nur die halbe Wahrheit. Auch Bewusstheit ist nötig. Vom Brot allein könnt ihr nicht leben, das ist klar – aber ihr könnt auch nicht ohne Brot leben. Unser Dasein hat beide Dimensionen, und beide Dimensionen müssen befriedigt werden. Beide Seiten müssen die gleichen Entwicklungsmöglichkeiten haben. Die Vergangenheit war entweder für das eine und gegen das andere – oder gegen das eine und für das andere.

Der Mensch ist nie in seiner Ganzheit akzeptiert worden. Das hat viel Unglück und Leid gebracht, eine große Finsternis, eine seit Jahrtausenden währende dunkle Nacht, die kein Ende zu nehmen scheint. Wenn der Mensch nur auf den Körper hört, ist sein Dasein zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Wenn er nicht auf den Körper hört, ist er zum Leiden verurteilt – zu Hunger, Durst und Armut. Wenn er nur auf das Bewusstsein hört, verläuft sein Wachstum sehr einseitig – das Bewusstsein wächst, aber der Körper verkümmert. Das Gleichgewicht geht verloren. Aber nur im Gleichgewicht liegt eure Gesundheit, im Gleichgewicht liegt eure Ganzheit, im Gleichgewicht liegt eure Freude, euer Singen und Tanzen.

Der Westen hat sich dafür entschieden, auf den Körper zu hören. Und er hat sich vollkommen taub gestellt, was die Wirklichkeit des Bewusstseins angeht. Das Ergebnis ist eine hoch entwickelte Wissenschaft, eine hoch entwickelte Technik, eine wohlhabende Gesellschaft mit einem Reichtum an allen weltlichen, profanen Dingen. Und inmitten des ganzen Überflusses steht der arme Mensch – völlig verloren, ohne Seele, nicht wissend, wer er ist, nicht wissend, wozu er da ist. Er fühlt sich beinahe als Zufallsprodukt, als bloße Laune der Natur.

Wenn nicht parallel zu eurem materiellen Reichtum euer Bewusstsein ebenfalls wächst, wird die materielle Seite, der Körper, zu einseitig betont und die Seele geschwächt. Dann werden eure eigenen Erfindungen, eure eigenen Entdeckungen für euch zu einer Belastung. Statt euch ein schöneres Leben zu ermöglichen, haben all diese Dinge eine Situation geschaffen, die von den intelligenten Menschen des Westens als nicht mehr lebenswert empfunden wird.

Der Osten verlegte sich auf das Bewusstsein und verurteilte die Materie und alles Materielle, den Körper eingeschlossen, als Maya, als trügerischen Schein, als Fata Morgana in der Wüste, als Illusion ohne Wirklichkeit. Der Osten hat eine lange Kette von Menschen des höchsten Bewusstseins hervorgebracht: Gautama Buddha, Mahavira, Patanjali, Kabir, Farid, Raidas. Aber er hat auch millionenfach die Ärmsten der Armen hervorgebracht, die hungern und wie die Hunde sterben – aus Mangel an Nahrung, sauberem Trinkwasser, ausreichender Kleidung und Obdach.

Es ist eine perverse Situation … Im Westen müssen alle sechs Monate Milchprodukte und andere Nahrungsmittel in Milliardendollarhöhe ins Meer gekippt werden, um den Überschuss zu beseitigen. Man will die Lagerhäuser nicht überfüllen, aber man will auch nicht die Preise senken, um die Wirtschaftsstruktur nicht zu ruinieren. Zur gleichen Zeit, als in Äthiopien tagtäglich Tausende starben, vernichtete der Europäische Markt so viele Lebensmittel, dass sich allein die Kosten für ihre Entsorgung auf Millionen Dollar beliefen. Nicht die Kosten für die Lebensmittel, sondern die Kosten für den Transport und die Verklappung ins Meer! Wer ist für diese Situation verantwortlich?

Im Westen sind die Reichsten auf der Suche nach ihrer Seele und finden nur ihre innere Leere. Sie kennen keine Liebe, nur Lust. Sie kennen keine Andacht, nur ein papageienhaftes Nachplappern von Worten, die sie im Religionsunterricht gelernt haben. Sie kennen keine Spiritualität, kein Mitgefühl für andere, keine Ehrfurcht vor dem Leben – den Vögeln, den Bäumen, all den Tieren. Es ist so einfach, zu zerstören!

Hiroshima und Nagasaki hätten sich niemals ereignet, wenn man die Menschen nicht nur als Materie ansähe und wie Dinge behandelte. Niemals gäbe es ein solches Arsenal an Nuklearwaffen, wenn der im Menschen verborgene Gott, seine verborgene Göttlichkeit, erkannt würde – nicht als etwas, das es zu vernichten, sondern zu entdecken gilt. Nicht als etwas, das es zu zerstören, sondern ans Licht zu bringen gilt. Der Körper ist der Tempel des Göttlichen. Wenn aber der Mensch nur als Materie, als Chemie und Physik, als ein von Haut überzogenes Knochenskelett angesehen wird, muss bei seinem Tode zwangsläufig alles zugrunde gehen. Dann bleibt nichts von ihm übrig. Nur so war es möglich, dass ein Adolf Hitler, ohne mit der Wimper zu zucken, sechs Millionen Menschen ermordete. Wenn die Menschen nur Materie sind, braucht man keinen zweiten Gedanken daran zu verschwenden! In seinem Streben nach materiellem Überfluss hat der Westen seine Seele verloren, seine Innerlichkeit. In einem Umfeld von Sinnlosigkeit, Langeweile und Seelennot können die Menschen nicht zu sich selbst finden. Sämtliche Erfolge der Wissenschaft erweisen sich als nutzlos. Das Haus ist voll von allen Dingen, aber der Herr des Hauses ist nicht anwesend.

Im Osten, wo die Materie seit vielen Jahrhunderten als illusorisch und das Bewusstsein als einzige Realität angesehen wurde, ist der Herr anwesend, aber das Haus ist leer. Mit leerem Magen, einem kranken Körper und dem Tod ringsumher lässt sich schwerlich Lebensfreude empfinden. Unter diesen Umständen ist es unmöglich zu meditieren.

So sind wir alle unnötig auf der Verliererseite gewesen. Und alle unsere Heiligen, alle unsere Philosophen – die Spiritualisten ebenso wie die Materialisten – sind für dieses ungeheure Verbrechen an der Menschheit verantwortlich!

Sorbas der Buddha ist die Lösung. Er stellt die Synthese von Materie und Seele dar. Er ist ein Manifest dafür, dass zwischen Materie und Bewusstsein kein Konflikt herrschen muss und dass wir den Reichtum beider Welten genießen können. Wir können alles haben, was die äußere Welt zu bieten hat, alles was Wissenschaft und Technik hervorgebracht haben – und gleichzeitig können wir alles haben, was Buddha, Kabir, Nanak in ihrem innersten Sein gefunden haben – die Blumen der Ekstase, den Duft der Göttlichkeit, die Flügel der absoluten Freiheit.

Sorbas der Buddha ist der neue Mensch, ein Rebell. Seine Rebellion besteht darin, dass er die menschliche Schizophrenie aufhebt. Er überwindet die Spaltung, diese enorme Kluft – die gegenseitige Feindschaft zwischen Spiritualität und Materialismus.

Sorbas der Buddha ist ein Manifest dafür, dass Körper und Seele eine Einheit bilden. Die ganze Schöpfung ist erfüllt von Spiritualität – selbst die Berge sind lebendig, selbst die Bäume sind empfindsam. Er ist eine Deklaration dafür, dass diese ganze Existenz beides ist: materiell und spirituell. Vielleicht ist sie ein und dieselbe Energie, die sich auf zwei Arten manifestiert – als Materie und als Bewusstsein. Diese Energie drückt sich in geläuterter Form als Bewusstsein aus und in roher, ungeläuterter, grobstofflicher Form erscheint sie uns als Materie. Doch die ganze Existenz ist ein einziges Energiefeld.

Das ist keine Philosophie, das ist meine eigene Erfahrung. Und das hat auch die moderne Physik mit ihren Forschungsergebnissen bestätigt: Die ganze Existenz ist Energie.

Wir können es uns zugestehen, beide Welten gleichzeitig zu haben. Wir müssen nicht mehr auf die diesseitige Welt verzichten, um in die jenseitige Welt zu gelangen, noch müssen wir die jenseitige Welt verleugnen, um uns an der diesseitigen Welt erfreuen zu können. Im Gegenteil, sich auf eine der beiden Welten zu beschränken, wenn man beide haben kann, bedeutet nur, sich unnötig ärmer zu machen.

Sorbas der Buddha stellt die reichste aller Möglichkeiten dar. Wir können unser natürliches Wesen ausleben und die Lieder dieser Erde singen. Wir wollen die Erde nicht verraten – und auch den Himmel wollen wir nicht verraten. Wir können alles für uns in Anspruch nehmen, was diese Erde zu bieten hat – all ihre Blumen, all ihre Freuden – und wir können auch alle Sterne des Himmels für uns beanspruchen. Wir können die gesamte Schöpfung als unser Zuhause beanspruchen.

Alles, was diese Existenz enthält, steht uns zur Verfügung. Wir sollten es auf jede erdenkliche Weise nutzen – ohne Schuld, ohne inneren Konflikt und ohne irgendetwas zu bevorzugen. Genießt alles, was die Materie zu bieten hat, erfreut euch an allem, was das Bewusstsein zu bieten hat, ohne dem einen gegenüber dem anderen den Vorzug zu geben.