Das Raunen des Flusses

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Das Raunen des Flusses
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Fotografie Yvonne Böhler

Oscar Peer (1928–2013), geboren und im Unterengadin aufgewachsen, gehört zu den bedeutendsten rätoromanischen Autoren der Gegenwart. Eigentlich mit einer Lehre als Maschinenschlosser angefangen, drängte ihn sein Weg nach deren Abbruch zum Lehrerberuf. Nach dem Lehrerseminar in Chur begann er ein Studium der Romanistik, das er mit einer Dissertation zum surselvischen Schriftsteller Gian Fontana 1958 abschloss. Auch danach widmete sich Oscar Peer dem Rumantsch. Mit dem «Dicziunari rumantsch, ladin-tudais-ch» ist ein Basiswerk für die romanische Sprache entstanden. Viele Jahre unterrichtete er an Mittelschulen, daneben entstand kontinuierlich sein literarisches Werk.

Oscar Peer

Das Raunen des Flusses

Limmat Verlag

Zürich

Carolina, ein Prolog

Den ersten Wohnort meines Lebens hatte ich schon seit langem nicht mehr gesehen, hatte auch keinen zwingenden Grund, ihn aufzusuchen nach so viel Jahren. Was tue ich in Carolina? Zu sehen gibt es ja nicht viel in dieser einsamen Gegend – kein Dorf, kein reizendes Engadin, keine Postkartenlandschaft, kein Sils-Maria. Hier haben weder Giacometti noch Segantini ge­malt.

Carolina ist nichts als eine Station der Rhätischen Bahn, fünf Kilometer von Zernez entfernt, fünf von Cinuos-chel, eine Kreuzungsstation mitten im Wald: zwei auf braunem Schotter schimmernde Geleise, vier Serienhäuser für Bahnangestellte, die heute längst weggezogen sind. Ausser einem Alternativen wohnt niemand mehr da, die meisten Züge fahren vorbei ohne zu halten. Irgendwo ein ausgetrockneter Brunnen, am äussersten Ende des Areals ein Materialmagazin, gleich dahinter die Schlucht und der hohe Viadukt. Im Übrigen ringsum Wald, nichts als Wald.

Jemand hat gesagt, es sei nicht gut, an den Ort seiner Kindheit zu­rückzukehren. Vielleicht hatte er recht. Ein Wiedersehen, man weiss es, kann enttäuschen, weil unterdessen so vieles geändert hat, die ­Gegend aussen und die Gegend innen. Die Kindheit, die noch ein ­Ver­­sprechen war, liegt schon weit zurück, eine verdämmernde Traum­welt; und was nachher kam – ein Leben mehr oder weniger frag­­würdig, eine Kette von Widersprüchen, Niederlagen und Versäumnissen, fragmentarisch wie alles. Hat man sich überhaupt gekannt? Weiss man, wer man gewesen ist und wer man hätte sein können?

Mit dem Auto kann man nicht bis Carolina hinauffahren, ich habe es unten parken müssen, bei der Landstrasse, wo eine Steinbrücke über den Inn führt. Die gedeckte Holzbrücke von einst ist verschwunden, doch der schmale Weg über dem Ufer ist noch da. Ir­gendwo geht es über Felsen senkrecht auf den Fluss hinunter. Kein Zaun. Hier nahmen mich die Grossen immer an der Hand. Der Abgrund beeindruckte mich so sehr, dass ich nachts von ihm träum­te: ich fiel aus grosser Höhe in die Tiefe, unten rauschte der Fluss, ich fiel endlos, dachte aber dabei, alles sei vielleicht nur Traum und jemand werde mich schon auffangen. Einmal, wäh­rend ich fiel, hörte ich meine Mutter rufen, worauf ich erwachte. Wenn sich später dieser Fall-Traum wiederholte, wartete ich halb unbewusst auf ihre Stimme.

Ich erreiche die Mündung des Val Tantermozza, steige über den Bach, beziehungsweise über eine Wüste von Steinen und Ge­röll. Ein Pfad führt den Wald hinauf; irgendwo der schwarze Teich, der zerfallene Kalkofen, Föhrenstämme, Erikablumen, Ge­ruch von Harz und Moos. Oben das Pfeifen eines nahenden Zu­ges, man sieht ihn über den Viadukt kommen und wieder verschwinden. Dabei ein Gefühl des Déjà-vu, wie eine exakte Wie­derholung aus der Kindheit, jedoch ohne Emotion. Empfindungen sind nicht abrufbar; das Ma­gische, das erlebte man damals.

Hier endlich die Lichtung, eine planierte Terrasse am Fuss der Bahnböschung. Unser Haus und das der Nachbarn (reichere Leu­te, die hier ihre Sommerferien verbrachten), beide verlassen, Tü­ren und Fensterläden geschlossen, weit und breit kein Mensch, keine Stimme, nichts als Vogelgezwitscher.

Ich setze mich auf die kleine Bank unter dem Vordach. Es herrscht schönes Wetter, ein Vormittag Mitte August. Der von einer Mauer eingefasste Vorplatz scheint kleiner geworden, in meiner Kind­heit war er riesengross. Jetzt, da niemand hier wohnt, wächst überall Gras, kein getretener Platz mehr, kein Holz, kein Scheitstock, keine Axt. Jemand hat neulich gemäht, am Rande mo­dert ein brauner Grashaufen. Vom unteren Boden, wo Mutter ihren Garten hatte, führen ein paar Steinstufen hier herauf. Ich stelle mir vor, wie ich da als Knirps nach oben kletterte – die Haustüre offen, man sieht in den Flur hinein, zuhinterst die Küche, Mamas Silhouette. Hie und da kam sie heraus, um zu schauen, ob ich noch da sei. Manchmal rief sie nach mir, und zwar nicht mit meinem Taufnamen, sondern mit einem spontan von ihr erfundenen «Kini», was der Kopfstimme besser entgegenkam – «Kii­nii!», das hörte man auch von weitem und wurde daher zu meinem eigentlichen Ruf-Namen. Auch die andern nannten mich öfters so, bis ich annahm, dass ich tatsächlich so heisse.

Ich sehe Vater, wie er energisch den Pfad herunter schreitet. Er war Linienarbeiter und Streckenwärter, trug eine Dienstmütze mit Buchstaben dran, oft auch eine blaue, nachthemdähnliche Überziehbluse, die er, weil sie so gross war, hie und da unten aufrollte und am Gürtel befestigte. Er war mittelgross, hatte einen markanten Kopf, dunkles, dichtes und leicht krauses Haar, eine kräftige und gebogene Nase und den forschen Blick des Willensmenschen. Mutter war gleich gross wie er, wirkte aber als Frau grösser, auch korpulenter und stattlicher, was an ihrer Frauenkleidung liegen mochte, vielleicht auch an einer gewissen Vornehmheit ihrer Erscheinung. Auch sie war dunkelhaarig, eine schöne Frau mit blaugrauen Augen und einem offenen Gesicht.

Es war mir nicht gleich, wer von beiden mich auf dem Arm hielt. Bei Mama war mir wohl, ihre Arme waren dick und weich, man fühlte sich darin geborgen; bei Vater störte mich die Härte seiner Hände, oft auch die Bartstoppeln, der Schnauz, die Uhrkette an meinen nackten Füssen.

Morgens und abends hatte er seine Streckenkontrolle. Wenn er gegen Abend wegging, sah man ihn oben über den Viadukt schreiten. Er trug ein Futteral mit den Signalfahnen wie ein Gewehr an der Schulter, in der Hand die Karbidlampe. Mutter nahm mich auf den Arm, öffnete das Fenster und rief huhuu!, worauf er stehen blieb und winkte. Manchmal trug er auch dort seine nachthemdähnliche Überziehbluse, sie flatterte, dabei schien mir, als könnte er auf einmal vom Wind davongetragen werden.

Der Bahnhof auf dem höher gelegenen Trassee ist von hier kaum mehr sichtbar, weil unterdessen an der Böschung Bäume gewachsen sind, ein Dickicht jugendlicher Tannen und Lärchen. Früher sah man oben die beiden Häuser, wo die Kochs und die Müllers wohnten – die Kochs mit zehn, Müllers mit zwölf Kindern. Man sah Holzstapel, einen abgestellten Güter- oder Viehwagen, einen Gartenzaun, eine Wäscheleine mit flatternden Tüchern, Rauch aus einem Kamin.

Im Sommer, dank Farben und Geräuschen, war der Ort noch einigermassen belebt. Ich konnte mit meinen zwei oder drei Altersgenossen spielen, gelegentlich sah man auch Bahnarbeiter. Im Winter war alles verwandelt. Draussen lag Schnee, oft meterhoch, kein Weg mehr, kein Laut, die Tannen, weiss verhangen, schwiegen wie im Mär­chen. Morgens sah man oben die Schüler, die auf den Zug nach Zernez warteten, etwa fünfzehn Knaben und Mädchen, alle mit Schultasche, dickem Pullover und Wollmütze. Man sah Koch, den kleinen Stationsvorstand, wie er die Signalkelle hochhielt, den Lokführer am Fenster seiner Maschine, an den Leitungsdrähten ein violettes Blitzen. Und wenn der Zug vorbei war, wieder Schatten, Frost, Winterstille.

Mittags blieben die Schüler in Zernez. Die Kochs und meine zwei älteren Brüder assen bei Bekannten oder Verwandten; die Müllers, Kinder der grössten der drei Familien, nahmen ihre Mahl­zeit am Bahnhof ein, und zwar im Güter­schup­pen. Ihre Mutter übergab dem Zugsschaffner einen Korb mit dem Essen, in Zernez nahm ihn der Stationsvorstand in Empfang und behielt ihn in seinem warmen Bü­­ro, bis sich mittags die Schar meldete. Der geheizte Warteraum kam als Esslokal leider nicht in Frage, und so blieb ihnen nur der kalte Schuppen.

Hier zuoberst am Hang das Materialmagazin, ein kleiner Holzbau mit rostigem Blechdach, in dem die Eltern damals den Fremden übernachten liessen. Eines Abends spät klopfte jemand ans Fenster, sie gingen hinaus, vor der Türe stand ein zerlumpter Mann, braunhäutig und kraushaarig, mit fremdländischem Gesicht. Er sagte etwas in einer Sprache, die sie nicht verstanden. Nach einigem Zögern liessen sie ihn hereinkommen, Mutter tischte etwas auf, wärmte einen Rest Kaffee. Er schien ausgehungert. Er hatte dicke Lippen, dunkelbraune, fiebrig schimmernde Augen. Vater zeigte ihm, wie man Butter aufs Brot streicht. Er nahm das Butterbrot und ass, sagte dann etwas, das vielleicht «danke» bedeutete. Natürlich keine Rede von Deutsch oder Romanisch, er schüttelte nur den Kopf. Vater versuchte es mit den Überresten seines Sekundarschulfranzösisch, worauf der Fremde immerhin lächel­te, als hätte er so etwas auch schon ge­hört. Seine eigene Sprache klang merkwürdig rau, er versuchte etwas zu erklären, zeichnete dabei mit dem Finger auf den Tisch. Man verstand nur ein paar Namen – Casablanca, Tunis, Italy, Triest –, vielleicht Wegzeichen seiner Reise. Dann fügte er hinzu: «Deserteur – Francia.»

Sie beschlossen, ihn oben im Magazin schlafen zu lassen. Mama hatte zuerst an die Couch in der Stube gedacht, doch Vater wollte nicht – man konnte nie wissen. Da der Fremde nebst einem Hals­tuch nur Lumpen und zerschlissene Sandalen trug, holte man ihm Hosen und Schuhe von Vater. Die Hosen waren ein bisschen zu kurz, worüber er lachen musste. Er hatte blendende Zähne. Es waren Vaters ehemalige Militärhosen, auf die er verzichten konn­te, doch die Schuhe wollte er unbedingt zurückhaben, sie waren noch relativ neu, Bergschuhe mit Gummisohlen; man gab sie dem Mann nur für heute, weil es draussen regnete. Die Eltern versuchten, es ihm mit Zeichen verständlich zu machen. Er nickte. Vater führte ihn die Böschung hinauf, wahrscheinlich hat­te er die Karbidlampe dabei, die er jeweils in den Tunneln brauchte, dazu zwei Wolldecken. Im Magazin zeigte er ihm eine Ecke, wo man bequem schlafen konnte. Als er herunterkam, hatte Mutter einen alten Rucksack mit Proviant gefüllt, so dass er nochmals hinauf musste.

 

Später machte er sich Sorgen um seine Schuhe, bereute es, ihm nicht die ganz alten gegeben zu haben. Er sprach noch im Bett darüber, wäre vielleicht noch einmal hinaufgegangen, doch Mutter mein­­te, jetzt könne er ihn nicht mehr stören, der arme Teufel sei sicher todmüde.

Am nächsten Morgen früh, als Vater vor seiner Linienkontrolle die Magazintüre öffnete und hineinschaute, war der Fremde nicht mehr da. Vielleicht Angst vor der Polizei. Die beiden Wolldecken lagen sauber zusammengelegt auf einer Kiste, der Rucksack und die Schuhe waren weg.

Wie sich später herausstellte, war der Mann, als morgens der erste Zug talaufwärts fuhr, unter einen Waggon gekrochen und so, zwischen Achsen und Eisenstangen bis ins Oberengadin gelangt, dann irgendwo heruntergefallen und neben dem Geleise liegen ge­blieben. Man brachte ihn ins Spital von Samaden. Vater musste hin, um ihn zu identifizieren. Jemand führte ihn in ein Zimmer, wo der Verletzte in einem Bett lag, an Kopf und Armen verbunden. Er erkannte ihn sogleich – sein braunes Gesicht, das gekräuselte Haar, die Augen mit dem Wüstenglanz. Ein Arzt war anwesend, eine Krankenschwester, dazu zwei Polizisten. Als der Fremde etwas murmelte, fragte man Vater, was er gesagt habe. Er wusste es so wenig wie sie, wahrscheinlich sei es Arabisch. Wieso Arabisch? Weil er gestern etwas von Tunis und Casablanca gesagt habe, das sei doch dort unten.

Die Leute fragten sich, ob in der Gegend jemand zu finden wäre, der Arabisch konnte, vielleicht ein St. Moritzer Feriengast. Einer der Polizisten machte ununterbrochen Notizen. Vater blick­te sich um. Der Rucksack war nirgends zu sehen, der lag vielleicht noch irgend­wo auf der Bahnlinie; doch auf einer Stuhllehne sah er seine Militärhosen, unter dem Stuhl seine Bergschuhe mit den Gummisohlen. Er war nahe daran, den Leuten zu erklären, dass die eigentlich ihm ge­hörten und dass er sie mitnehmen möchte – schliesslich hatte er sie dem Mann nicht geschenkt; doch er konnte sich nicht entschliessen, wollte vielleicht nicht als mieser Kerl erscheinen, der einem Unglück­lichen etwas wegnimmt, und so verabschiedete er sich und ging davon.

Sonst waren Besucher selten. Gelegentlich eine italienische Hausiererin, die sogar in Carolina Halt machte und die uns, wenn niemand zu Hause war, die frischen Eier aus dem Hühnerschlag klaute. Hie und da der Bahnmeister Riffel, Verantwortlicher für den Liniendienst, ein grosser, hagerer und grundehrlicher Mann, der nur vorbeikam, um mit meiner Mutter zu plaudern. Dass er deshalb kam, wusste ich damals noch nicht; ich sah nur, wie er in seiner Bähnler­uniform am Tisch sass und Kaffee trank, während Mutter Wäsche bügelte.

Dann ab und zu der Jagdaufseher, um zu schauen, ob nicht gewildert wurde. Wild gab es in Hülle und Fülle, vor allem Rehe und Hirsche, die nachts in unsere Gärten sprangen, den Salat frassen und das je nachdem mit dem Leben zahlten. Jemand fällte verbotenerweise die schönsten Bäume, bis ihn der Förster Renold heimlich fotografierte, gerade während der Baum fiel; später kam er und hielt dem Frevler lächelnd das Foto unter die Nase, zeigte ihn aber nicht an. Man sagte, dass solche Spielereien zu ihm passten, weil er überhaupt gerne spielte – mit Foto- und Filmapparaten, mit Geld, mit den Leuten, vor allem auch mit Frauen. Er spielte auch glänzend Theater, das heisst in Zernez, wo er zu Hause war und wo ein reges Dorfleben herrschte. Carolina war leider kein Dorf, hier gab es nur den Wald, den Viadukt, am Himmel kreisende Raubvögel, meines Vaters Handharmonika, meine zwei oder drei Gespielen und die vorbeifahrenden Züge.

Wenn sie von Westen kamen, wo die Bahnlinie schnurgerade verlief, schienen sie fast stillzustehen, waren dann plötzlich da, hielten an oder fuhren vorbei. Auf der unteren Seite, jenseits der Schlucht, drangen sie aus einer Felsschneise und kamen über den Viadukt daher. Das Nahen der Züge vernahm man auch im Haus. Ich rannte ins Freie, sah oben die Wagen vorbeigleiten. Es kam vor, dass mir jemand zuwinkte. Ein Fräulein mit blonden Haaren und rotem Béret warf mir einmal eine Schokolade herunter. Tagelang wartete ich vergebens, dass die hübsche Person wieder erscheinen würde.

Geheimnisvoll, fast unheimlich, war der Lokführer, der vorne in der Maschine stand und steif wie ein Zinnsoldat geradeaus schaute. Manchmal, wie gesagt, hielt der Zug gar nicht, eilte dahin mit einem langgezogenen Pfeifen – es widerhallte durch die Ge­gend wie der Schrei eines geplagten Geistes. Ich stellte mir dann vor, dieser Geist wäre der Lokführer selber, ein zum Dahinrasen Verdammter, der nie zur Ruhe kam. Oder vielleicht ein Zauberer, Bewohner dieser dunkelroten Lokomotive. Mich beeindruckte vor allem die Vorderseite der Maschine, weil sie mit ihren zwei Fens­tern oben, einer runden Lampe dazwischen und zwei auseinanderliegenden Lampen weiter unten genau einem menschlichen Gesicht ähnelte.

Einmal, als der Zug hielt und die Lokomotive gerade in meiner Nähe zum Stehen kam, liess der Mann (vermutlich immer derselbe) das Seitenfenster herunter und schaute her­aus. Sein Gesicht kam mir ungewöhnlich vor, auch die Art, wie er in diesem schmalen Fens­ter eingeklemmt schien, den Kopf senkte und zu mir herabschaute, wobei ihm eine Haarsträhne in die Stirn fiel. Er hatte sehr dunkle Augen, und als er mich fragte, wie ich heisse, brachte ich kaum mein «Kini» aus der Kehle. Der Zauberer!, dachte ich, wahrscheinlich war er das ... Als der Zug langsam weiterfuhr, schaute er nach wie vor zu mir herab, schaute zurück statt nach vorn, lächelte und winkte leicht mit der Hand.

Ueli, Richard und Johanna waren mit mir die Kleinsten der drei Familien. Oft spielten wir auf der Fahrbahn, am liebsten beim Magazin, unmittelbar vor der Brücke. Wir legten rostige Nägel aufs Geleise, um zu schauen, wie sie platt gedrückt wurden. Wenn es vorne beim Bahnhof klingelte, wussten wir, dass bald ein Zug kam. Wir drückten das Ohr auf eine der beiden Schienen, vernahmen ein leises Klopfen, das sich langsam näherte, dann ein Brummen aus dem Erdinnern. Wir horchten mit wachsendem Kitzel, und wenn jenseits der Brücke plötzlich die Lokomotive sichtbar wurde, sprangen wir die Böschung hinab, pissten dabei fast in die Hosen. Ich sehe noch Johanna, wie sie mit nacktem Hintern im Gras kauert.

Brücken ... Ich staune über ihre Eleganz, vor allem über ihre Dauerhaftigkeit. Sie wurden anfangs des letzten Jahrhunderts gebaut, sind also hundert Jahre alt und halten noch immer. Es gibt eine in der Nähe von Cinuos-chel, direkt vor einem Tunnel, bei deren Bau zwölf Menschen ums Leben kamen – Fremdarbeiter, alles Italiener. Das Baugerüst, eine gewaltige Holzmasse, hatte sich plötzlich ein biss­chen seitwärts geneigt; elf Männer standen darauf, jemand hatte ei­nen Schrei ausgestossen. Ich stelle mir die schattige Schlucht vor, Felsen und Bäume, ganz oben vielleicht noch etwas Sonne, unten ein kleiner Bach. Man rät dem Bauführer, die Männer so schnell wie möglich in Sicherheit zu bringen, doch der Mann, ebenfalls Italiener, behauptet stur, es fehle nur der letzte Stützbalken in der Mitte. Da niemand mehr den Mut hat, aufs Gerüst zu steigen, beauftragt er damit seinen vierzehnjährigen Sohn. Der zögert, doch als ihn der Alte anbrüllt, nimmt er den Balken auf die Schulter und schreitet auf einem Brett vorsichtig hinüber. Vermutlich herrscht Totenstille, nur unten das Geräusch des Baches, bis es irgendwo knarrt; dann beginnt sich alles langsam zu neigen und donnert mit Lärm und Getöse in die Tiefe. Nachher wieder Stille ... Am Eingang des Tunnels steht im Felsen eine Marmorplatte mit den Namen der Verunglückten. Auch der Na­me des Bauführers ist dabei, obwohl der nicht hinunter­gestürzt war, sondern noch am selben Abend Selbstmord begangen hatte.

Ich schaue zum jenseitigen Talhang hinüber, wo es wenig Wald gibt, dafür Wiesen und Weiden. Auf der Landstrasse, die sich durchs Ge­län­de dahinzieht, fahren Autos vorbei, geräuschlos wie in einem Stummfilm.

Eine Weile befinde ich mich auf dem Viadukt. Er ist sehr hoch, unten schlängelt sich der Bach durch Sand und Geröll, die Riesenschlucht mit einem vage-monotonen Geräusch füllend. Ohne dieses Eisengeländer könnte es einem leicht schwindeln. Es wurde uns Kindern eingeschärft, den Viadukt niemals zu betreten. Einmal war ich trotzdem mit Ueli Müller da oben, die Versuchung war zu gross. Wir sahen den Abgrund, die Brückenpfeiler; im Übrigen passierte nichts, es kam auch kein Zug. Wir begannen, Steine hinunterzuwer­fen; zwischen den Geleisen gab es deren genug, Steine grösser als unsere Hän­de. Wir versuchten, den Bach zu treffen, was wegen der Höhe nicht leicht war. Dann schauten wir, welcher Stein zuerst unten ankam, der meine oder der seine, dabei neigten wir uns über die untere Ge­länderstange hinaus und blickten in die Tiefe. Von Schwindel keine Spur. Wir sahen nichts als das Spiel, bemerkten weder den Zug, der jenseits der Brücke daherkam, noch meine Mutter, die sich uns von hinten näherte. Ich weiss nur noch, wie wir plötzlich gepackt und davongetragen wurden, wie sie mit uns über die Brücke rannte, von Pfeifsignalen begleitet. Drüben schwenkte sie seitwärts ab, fiel mit uns ins Gras, blieb dort liegen und hielt uns fest, bis der Zug vorbei war.

An jenem Abend, als ich im Bett lag, versuchte sie, mir ein Dankgebet beizubringen. Ich konnte zwar meinen kleinen Vers, den ich allabendlich hersagte. Dieses Gebet war der Situation angepasst. Sie erklärte mir, der liebe Gott habe uns gerettet. Vielleicht stimmte es, wer weiss. Natürlich ist man nie sicher, man kann’s nicht beweisen, doch jedenfalls wurde man irgendwie beschützt, sonst wäre man nicht mehr da – vom lieben Gott oder vom Zufall oder von den Eltern, die unterdessen längst gestorben sind ... Unsere Versuche, in die Vergangenheit zurückzuschauen: Zum Beispiel abends die Petrollampe über dem Tisch, Nachtessen bei Dämmerlicht. Wenn es Vater nicht hell genug schien, zündete er seine Karbidlampe an. Die Flamme war gelblich und dicht, es verbreitete sich ein ätzender Geruch, den ich gern hatte. – Erst als wir schon einige Zeit in Carolina wohnten, wurde das elektrische Licht installiert. Freudenschrei, als der Monteur mit der Arbeit zu Ende war und jemand den Schalter herumdrehen durfte; das ganze Haus, die Zimmer schienen wie verwandelt. Doch eines Abends, als Vater nicht da war und wir mit Mutter allein am Tisch sassen, stand sie einmal auf, löschte das elektrische Licht und zündete die alte Petrollampe an. Auf unsere Frage, warum sie das mache, antwortete sie, wir müssten Strom sparen.

Oder der kleine Brunnen an der unteren Hausseite, der jeden Win­ter zufror, das gedämpfte Gurgeln, das Spiel des Wassers unter dem Eis.

Oder Val Verda, eine halbe Stunde von hier entfernt, eine Wald­lichtung, wo wir im Sommer die Ziegen hüteten, etwa zwanzig Ziegen und fast ebenso viele Hirten und Hirtinnen. Genau genommen hüteten wir sie nicht, wir assen und spielten, während sich die Tiere unbeachtet entfernen, immer bergwärts, die Kühle suchend, kletterfreudig im Gebirge umherschweifend, wie die Ziege des Monsieur Seguin. Einmal fanden wir sie nicht mehr und kehrten abends ohne sie zurück, worauf der gutmütige Vater Müller die Tiere mit der Lampe suchen ging und sie um Mitternacht nach Hause brachte.

Liebenswürdigkeit der Müllers. Ihr Rheintaler Dialekt, wenn die Kinder mit den Eltern redeten, die nicht Romanisch konnten. Das überfüllte Haus, vierzehn Personen, die etwas muffige Luft. In der Küche der lange Esstisch, an dem jedoch kaum alle Platz hatten, doch sie waren es gewohnt, auf engem Raum miteinander auszukommen; oft mussten die Kleineren warten, bis die Grossen gegessen hatten und einige Plätze freigeworden waren. Die erwachsenen Söhne spiel­ten miteinander Ländlermusik, oft auch vor dem Haus, sodass es abends vom Wald zurücktönte. Manchmal nahm dann Vater seine Harmonika und ging zu ihnen hinauf. Ihr Familiensinn. Paul zum Beispiel, der sich als Jüngling vornahm, die Schulden seiner Eltern zu bezahlen; es gab im Estrich einen ominösen Holzkoffer voll unbezahlter Bäcker- und Ladenrechnungen; von Zeit zu Zeit kamen Reklamationen. Er war eben der Schule entlasssen, ein Sechzehnjähriger, der jetzt aus eigener Initiative Waldakkorde übernahm, ein paar Leute anheuerte, unermüdlich schuftete, Geld zusammensparte und daranging, die Familienschulden abzutragen, eine nach der andern, bis sie nach Jahr und Tag alle getilgt waren.

 

Ich denke an die Raubvögel, die aus ihren Waldungen aufstiegen und über Carolina kreisten, auf unsere Hühner erpicht, vermutlich Sperber oder Habichte – schöne, braun und grau schimmernde Vögel, hie und da ihr heiserer Schrei. Solange sie Menschen sahen, blieben sie oben, doch oft waren die Hühner allein, dann schossen sie blitzschnell herunter und machten einem von ihnen den Garaus. Nachher fand man nur die Federn. Wenn Raubvögel in der Luft kreis­ten, holte Koch, der Stationsvorstand, eine grosse Pistole aus dem Haus, zielte in die Höhe und gab ein paar Schüsse ab. Ich weiss nicht, ob er je einmal getroffen hat. Je­denfalls verschwanden die Vögel, aber sie kamen immer wieder; vermutlich hatten sie sich an die Knallerei gewöhnt. Ein Habicht hatte sich an eine unserer Hennen herangemacht, mittags, wäh­rend wir drinnen assen; grosse Aufregung im Haus, Vater schoss mit dem Jagdgewehr zum Fenster hinaus, traf aber leider das Huhn, während der Raubvogel mit schweren Flügelschlägen über die Baumwipfel davonflog.

Unsere beste Eierlegerin war spurlos verschwunden, wir fanden nicht einmal die Federn. Mutter trauerte ihr nach; doch eines Tages, während sie im Freien Wäsche aufhängte, erschien die Hen­ne aus dem Wald und kam gluckend die Wiese herauf, gefolgt von einer Schar weisser Kücken.

Hie und da sah man einen Adler. Auch er kreiste geduldig über unseren Häusern, meistens abends nach Sonnenuntergang, wenn wir unten bereits im Schatten lagen und er oben noch im rötlichen Licht. Wir staunten, wie lange er kreisen konnte, ohne ein einziges Mal die Flügel zu bewegen.

Ich denke an Grass, den Fotografen aus Zernez, der uns hier vor dem Haus fotografiert hat. Das Foto besitzen wir noch immer. Mich, den Kleinsten, hat man auf ein Tischchen gesetzt, die Geschwister stehen daneben, geputzt, gekämmt, die beiden Brüder mit dem Sonntagspullover, die Schwester mit zwei festgedrehten Zöpfchen. Die Geschwister würde man auf dem Bild leicht erkennen, mich wahrscheinlich noch nicht – zweieinhalbjährig, ich käme jedenfalls kaum darauf, dass ich das selber bin, mit diesen Locken, einem weichen, noch traumbefangenen Kindergesicht. Un­ser Jüngster fehlt noch; der kam erst Jahre später zur Welt, hat unterdessen gelebt und ist bereits wieder gegangen, so wie auch die andern drei. Schade, dass die Eltern auf diesem Foto fehlen. Es wäre eine Gelegenheit gewesen, wenigstens einmal alle zusammen auf ein Bild zu bringen. Doch Vater wird in seinen Tunneln gewesen sein, Mama wird beiseite gestanden haben, um zu schauen, wie Grass seinen Apparat einstellte und fotografierte. An sich selbst dachten sie kaum.

1933 zogen wir von Carolina weg. Es war Ende April, es schneite ein bisschen, leichter Flockentanz wie oft im Frühjahr. Ich hatte zum Geburtstag neue Schuhe bekommen, deren Lederduft mich bezauberte. 1933 – ein berüchtigtes Jahr, nur wusste man in jenem Alter noch nichts von Politik und Weltgeschichte. Wir lebten unbehelligt von einem Tag zum andern, wir hatten genug zu essen, wir wurden nie vertrieben, wir mussten nie fliehen. Als wir den Ort verliessen, geschah das friedlich, und man hatte Zeit genug, alles sorgfältig einzupacken. Nachdem unser Hausrat weg war und wir hier die Türe zumachten, hörten wir deutlich, wie es innen widerhallte. Meine Schwester und ich waren mit der Mutter als letzte hier geblieben; ich weiss nicht, warum Mutter zögerte, nochmals öffnete und in den verdunkelten Flur hineinschaute.

Unterdessen ist mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen, andere Leute sind hier eingezogen und später wieder fortgegangen. Nun ist das Haus nicht mehr bewohnt, Türen und Läden ge­schlos­sen. Schade, dass man nicht durch ein Fenster in die Stube hineingucken kann, oder durch jenes andere in die Küche. Es wäre ein flüchtiger Blick in den rätselhaften Raum der Vergangenheit. Geschlos­­sen auch der kleine Stall dort, wo wir unsere Ziegen unterbrachten. Eine von ihnen war gemsrot, eine andere (die «Tog­gen­bur­gerin») war braun, eine hell und dunkel gefleckt. He­di, die hörnerlo­se, war ganz weiss; sie mochte ich am liebsten, und es schien mir, sie rieche geradezu nach Milch.

Es gibt Erinnerungen, die mit einer gewissen Regelmässigkeit wiederkehren, andere scheinen für immer gelöscht. Doch es kommt vor, dass etwas plötzlich wieder auftaucht, wie die Tigerkatze mit den grünen Augen, die einen Sommer lang verschwunden blieb und dann unerwartet zurückkam, einen Tag vor Winter­einbruch.

Da oben die Bahnlinie, eben geht ein Zug vorbei, ohne zu halten. Man sieht die Strombügel der Lokomotive, die Dächer einiger Wagen, die Böschung dämpft das Geräusch. Sonst ist nichts zu hören als weit unten der Fluss, den man von hier nicht sieht. Die Lärchen sind noch hellgrün, einige Wipfel werfen ihre Schatten über den Vorplatz, am Himmel ein paar leichte Wolken.

Dass etwas einmal war und dass es jetzt nicht mehr ist, kommt uns oft merkwürdig vor. Wir achten nur nicht immer darauf, weil die Zeit geräuschlos vergeht, und weil das ihre uralte Gewohnheit ist, zu vergehen.

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