Aly und die Frauen

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Aly und die Frauen

Buch 2: Zaghafte Annäherungen

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Aly und die Frauen

Impressum

Aly und die Frauen

Buch 2: Zaghafte Annäherungen

Der Frühling 1950 lud zum Fahrrad fahren in die „Herrenwaldsiedlung“ ein.

Dort entstand eine große Siedlung unter diesem Namen. Herr Austl zeigte uns endlich das Musterhaus.

Wir „besuchten“ unser Grundstück worauf unser Eigenheim gebaut werden sollte. Heinrich Schneider war damals der Politiker. (Er war der Wirtschaftsminister von Hessen). Er ließ die Siedlung bauen. Wir alle sollten im Frühjahr 1950 den Waldboden roden. Das heißt mit Spitzhacke, Spaten und einer Säge bewaffnet, versuchte meine Mutter, mein Vater und ich, den Waldboden zu roden. Das war sehr schwer.

Meine Mutter sagte: „Nun besorgen wir uns endlich die Waldarbeiter, wir werden damit nicht fertig, Papa.“ So ist es dann geschehen, dass von vier Waldarbeitern einer unseren Waldboden bearbeitete. Ich fuhr fasst jeden Tag dorthin und sah zu, wie dieser Mann den Waldboden fachgerecht, Meter für Meter bearbeitete. Nach vier Monaten konnte man mit dem Ausschachten beginnen.

„Drei großen Eichen müssen stehen bleiben, weil es ja Herrenwaldsiedlung heißt. Das war die Bedingung“, sagte mein Vater.

Mein Vater vereinbarte einen Termin mit einem Fotographen aus Kirchhain. Es entstand ein sehr schönes Familienfoto. Das erste Foto nach dem Kriege. Meine Mutter sagte: „Jetzt haben wir uns für die Ewigkeit festgehalten.“

Zielchen und ich fuhren mit dem Rad, ich saß auf dem Gepäckträger. Ihr langer Rock wehte im Wind, wenn es bergab ging. Die Autos, die uns entgegen kamen, hupten. Ich fragte Zielchen: „Warum hupen die alle?“ „Na, weil mein langer Rock immer nach oben geht. Vielleicht, weil sie meine nackten Beinchen sehen.“ „Aber dein Popo ist doch bedeckt vom Sattel.“ „Du machst Witze, Alo. Da gibt es doch noch etwas anderes.“ „Nun sag doch schon, was denn?“ „Na, mein Höschen, das die Kerle dann sehen.“ „Ach so, deswegen hupen die.“

In der Schule lernte ich sehr viel. Meine Zeugnisse wurden etwas besser, weil mir mein Vater Nachhilfeunterricht gab. Das war aber immer noch für mich sehr langweilig. Ich fuhr nach dem Unterricht zum Bahnhof von Allendorf. Dort kaufte ich mir von meinem Schrottgeld einen „Diabolos“, damals „Propeller“ aus Plastik. Ich bastelte mir aus dünnem Sperrholz ein Gestell und nagelte die 8 Propeller an das Gestell. Dann drehte ich meine Lenkstange nach unten. Jetzt sah mein Fahrrad aus wie ein Rennrad. Dann oberhalb des Lenkrades waren nun meine 8 Propeller. Das sah so toll aus, dass sich fast alle Leute umdrehten, als ich an ihnen vorbei fuhr. Ich drehte mich nach ihnen um, weil ich sicher sein wollte ob sie tatsächlich hinter mir her guckten. Ich hatte mich nicht geirrt. Es kitzelte richtig in meiner Magengegend, weil die meisten mich immer noch beobachteten. Lehrers Sohn. Da die Farbe Weiß schon seit 1948 meine Lieblingsfarbe war, kaufte ich mir weiße Farbe und strich die

Speichen damit an. Nun schauten noch mehr Leute hinter mir her. Eigentlich wollte ich das Fahrrad ganz weiß anstreichen, aber ich merkte, das wird dann doch zu auffällig. „Es reicht jetzt“ sagte meine Mutter.

Ich war ja so stolz auf mein sehr auffälliges Fahrrad. Als ich nach Neustadt fahren wollte, montierte ich natürlich den Propeller ab. Als ich zu Hause die Hauptstraße herunter raste, genoss ich das Rauschen der Propeller: „rrrrrschschsch.“ Das war das Schönste.

Einmal kam mir der Lehrer Guba entgegen. „Langsam, langsam. Du bist zu schnell“.

Ich konnte mich erinnern, dass er mich schon 1948 warnte. Damals hatte ich Rollschuhe an und raste die Hauptstraße herunter, über die Kreuzung an der Bäckerei vorbei.

Ich hatte jetzt viele Freunde. Wir trafen uns an der Kreuzung, am großen Stein vor unserem Haus. An einem Sonntag sind wir mit 7 Jungen, Theodor war auch dabei, mit unseren Fahrrädern nach Neustadt ins Kino gefahren. Alle fuhren auf Herrenfahrrädern. Theo war so klein, aber er fuhr auf Papas Fahrrad. Mit einem Fuß unter der Querstange musste er das linke Pedal betätigen. Ich war besorgt um ihn.

„Es ist jetzt gut, Alo, lass mich in Ruhe. Ich kann jetzt auch Fahrrad fahren.“

„Aber wie, tut das nicht weh?“ „Nein, hör endlich auf, sonst erzähle ich alles der Mutti.“ Das hatte gesessen, Mutti durfte das nicht wissen. Ich hatte Mutti versprochen, mich um meinen Bruder zu kümmern.

In Neustadt angekommen fuhren wir ins Kino am Bahnhof. Und wieder diese Schifferklavier Musik mit Lautsprecheranlage. Viele Kinder und Erwachsene standen in der Schlange um Kinokarten zu kaufen. Das war eine Situation, toll. Mein Bruder stand abseits. Ich holte ihn zu mir. Ich fragte ihn: „warum stellst du dich nicht zu mir?“

„Weil du das Geld hast und die Karten kaufst.“ .

„Weißt du was, ich gebe dir 1.- DM. Du kaufst dir die Karte selbst. Von dem Rest kannst du dir Schokolade kaufen.“ Er freute sich darüber sehr. Er fragte mich ganz leise: „Stehe ich so richtig?“ „Ja, Theo.“ Er war ja so schüchtern. Als er endlich vor der Kasse stand, sagte er ganz laut: „Eine Kinokarte für mich, und für den Rest Schokolade. Wie viel kostet das?“ Einige Kinder lachten, aber Theo war ganz tapfer.

„Mit der Schokolade 1.- DM“ sagte die Kassiererin. Er sagte: „Bitte, hier sind 1.- DM.“ „Danke“ sagte die Frau an der Kinokasse. Sie lachte herzlich und sagte: „Ein freundlicher Junge“. Ach, du liebe Zeit, was spielen die heute überhaupt, ich kann die Reklame nicht vollständig erkennen. Die Großen stehen alle vor mir. Ich ging 1m zur Seite. „Gullivers Reisen.“ Ein Zeichentrickfilm von World Disney, ein Farbfilm, jeder

Buchstabe hat eine andere Farbe, toll. Jugendfrei ab 12 Jahre.

Oh mein Gott, dachte ich und sagte: „Theo, du bist jetzt 12 Jahre alt.“

„Das ist gelogen, Alo, das ist eine Sünde.“

Ein Erwachsener sagte: „Hat der Junge seine Kinokarte?“

„Ja“, sagte ich.

„Dann ist alles okay.“

„Alo, das musst du aber beichten, das ist eine Sünde.“ sagte Theo besorgt. Der Fremde lachte. Als wir das Kino betraten, war der Saal voll. Wir waren sehr enttäuscht und nahmen in der 4. Reihe Platz. Wir waren alle begeistert von dem Riesen Film. Der große Mann wurde von ganz kleinen Zwergen mit dicken Stricken gefesselt. Die schönen Farben begeisterten sehr. Die Handlung des Films war für uns Kinder sehr gut zu verstehen. Als der Film zu Ende war haben die Erwachsenen geklatscht, dann auch die Kinder. Als das Licht an ging, wollten die Kinder gar nicht das Kino verlassen. Einige weinten. Nach zwei Minuten kam der Kinobesitzer und sagte mit strenger Stimme: „Kinder, ihr müsst jetzt gehen. Die nächste Vorstellung fängt in 15 Minuten an. Ihr könnt ja nächsten Sonntag wieder kommen.“ Wir holten unsere Fahrräder, die wir hinten im Hof abgestellt hatten. Noch lange unterhielten wir uns über den hervorragenden Film.

Am nächsten Samstag gingen Theo und ich zur Heiligen Beichte. Ich beichtete dass ich meinen Eltern nicht gehorcht und sie belogen habe. Der Pfarrer fragte mich:

„Hast du „Unkeuschheit“ getrieben, mein Sohn?“

„Nein, Herr Pfarrer.“

„Dann bete zur Buße zwei Vater Unser.“

Ach ich war ja so glücklich dass ich alles gebeichtet hatte. Theo wartete in der Kirchenbank schon sehnsüchtig auf mich.

„Na, hast du alles gebeichtet, Alo?“ flüsterte er.

Plötzlich hörten wir die Stimme vom alten Pfarrer: „Jetzt hört doch endlich uff zu schwätze, das ist ein Gotteshaus, da hat man nichts

zu schwätze.“

Bevor wir die Kirche verließen betete ich die zwei „Vater Unser“ als Buße. Wir machten, dass wir aus der Kirche kamen. Wir nahmen Weihwasser und bekreuzigten uns.

Ich war fast jeden Tag im Schwimmbad. Zielchen und Werner waren auch oft dort. Ich übte fleißig meine Schwimmbewegungen. Und mein Fahrrad war meine ganz große Freude. Ich sah bei einem großen Jungen eine Dreigangschaltung. Er sagte:

„Wenn du den Berg hoch fährst, dann schaltest du hier um, auf den „kleinen Gang. Hier, dieses kleine Rädchen sorgt dafür, dass du es nicht so schwer hast, die Pedale zu treten.“ Ich wollte mir am nächsten Tag die Gangschaltung kaufen. Doch sie kostete 32.- DM. So viel Geld hatte ich nicht. Sehr enttäuscht fuhr ich nach Hause und erzählte es meiner Mutter.

„Du musst jetzt solange sparen, bis du das Geld zusammen hast.“

Papa fasste an seine Geldbörse, er wollte mir das Geld geben.

„Ich könnte ihm die 32.- DM abzahlen.“

 

„Papa, du musst auch den Jungen zum Sparen erziehen. Aloys soll lernen, wie man mit Geld umgeht. Er soll nicht auf Pump kaufen.“

„Mutti hat Recht, du bekommst jetzt jeden Monat 5.-DM Taschengeld von mir. Du gehst ja schrotteln, in der WASAG und DAG. Da verdienst du sogar selbst ein wenig. Dann hast du in ein paar Wochen das Geld für deine Dreigangschaltung zusammen.“

Ich ging sogar weniger ins Kino, um zu sparen. Das Schrotteln ging immer schwerer. Es kamen immer mehr Leute, die altes Eisen sammelten. Es war in der WASAG. Neben einem alten Fabrikgebäude haben die Leute viel Schutt mit dem Spaten weggeräumt. Siehe da, unter dem Schutt lagen sehr viele verrostete Patronenhülsen. Nee, das war nichts für mich. Ich suchte unter den sehr vielen Büschen und anderen Schuttplätzen altes Eisen. Eines Tages fand ich Bleiplatten, die sehr schwer waren. Ich legte altes Eisen auf die Bleiplatten, somit konnte keiner erkennen was für einen „Schatz“ ich da gefunden hatte. Nun fing ich auch an zu graben. Ich fand wieder unter dem Schutt sehr viele gut erhaltene, leere Zementsäcke. Die legte ich fein säuberlich über die Bleiplatten. Mein Leiterwagen war sehr schwer geworden. Ich lud die Hälfte Eisen ab und begrub diese unter den Büschen, damit sie mir ja nicht geklaut würden.

Der Schrotthändler bezahlte 18.-DM für das Blei, dem Eisen und für die Zementsäcke. Ich erzählte keinem Menschen, wo ich das andere Eisen versteckt hatte. Schon nach 3 Wochen hatte ich DM 40.- zusammen. Ich war überglücklich. Voller Stolz zeigte ich das Geld meiner Mutter.

„Na siehst du mein Sohn, so musst du in Zukunft vorgehen. Zuerst überlegen und dann handeln. In diesem Fall allerdings, erst überlegen, dann sparen. Wenn du das Geld gespart hast, dann kannst du es zur Sparkasse bringen. Wenn du wieder etwas kaufen möchtest, musst du wieder erst überlegen, ob du es wirklich brauchst. Brauchst du denn wirklich eine Schaltung für dein Fahrrad?“

„Mutti, das heißt Dreigangschaltung.“ verbesserte ich sie.

„Ja, ja, die Jugend von heute. Der ist alles so wichtig geworden“, stöhnte Mutti.

Die Familie, die wir 1947 in Rüdigheim kennengelernt hatten, wohnte jetzt in Neustadt. Meine Mutter und ich fuhren an einem Sonntag dorthin. Die Begrüßung war sehr herzlich. Es gab Kaffee und Kuchen. Nachdem wir den Kuchen mit Genuss gegessen hatten, gingen wir in den Neustädter Wald. Die Frau sagte zu ihrem Sohn und zu mir: „Geht doch mal zur Quelle, sie entspringt dort auf der Anhöhe.“ Für mich war es langweilig: Volker wollte mir im Sand die Bruchrechnung erklären. Ich habe das alles damals schon nicht verstanden. Volker hat es schnell aufgegeben. Wir unterhielten uns über Filme, die ich schon alle gesehen hatte.

Er sagte: „Filme finde ich sehr langweilig, weil die Schauspieler das alles sagen müssen, was das Drehbuch vorschreibt. Das ist unrealistisch und falsch“.

Ich war entsetzt, als er noch hinzufügte: „Da lobe ich mir lieber eine Gleichung in Mathematik“

Er lachte. Ich habe den Jungen schon damals nicht verstanden. Es war ja soo langweilig bei denen zu Hause. Der Bruder von Volker ist mit meinem Fahrrad mit der Dreigangschaltung gefahren und hat diese total kaputt gemacht. Sehr traurig fuhr ich mit dem kaputten Fahrrad nach Hause. Ich brachte es nächsten Tag zur Fahrradwerkstatt in Allendorf. Am nächsten Tag war das Fahrrad wieder in Ordnung. Überglücklich fuhr ich in den Wald. Meinen schönen Waldweg, immer am Werkszaun entlang.

1950 war Firmung in Allendorf. Lehrer Müller war mein Firmpate. Meine Mutter fand keinen anderen Firmpaten. Es war furchtbar für mich, dass Lehrer Müller mein Firmpate sein musste. Er stand hinter mir In der Kirche. Ich war froh, als er sich von uns verabschiedete. Mutter lud ihn zu unserem Mittagessen freundlich ein. „ Neiii“, sagte er „ich habe einen Stock höher genug zum Mittagessen.“ Der Mann war im höchsten Grade undiszipliniert. Meine Mutter hatte Tränen in den Augen.

Als ich mit meinen Freunden ins Kino fahren wollte, amüsierte Mutter sich über meine Plastik Propeller vor meiner Lenkstange.

„Aloys, das ist Kinderkram. Tu das weg. Das passt nicht zu uns. Du bist kein kleines Kind mehr.“

Ich habe alles weggeschmissen. Ich träumte wieder von einem verrückten Kerl. Immer dasselbe. Ich rannte immer weg vor ihm und wurde immer schneller. Ich hob dann ab und machte im Flug meine Schwimmbewegungen. Dann flog ich in ein tiefes, schwarzes Loch und wachte danach immer auf. Oft war mein Glied morgens ganz groß. Ich versuchte das einfach zu ignorieren. Manchmal gelang es mir. Seltsam – als ich dann am Frühstückstisch saß, war alles weg. Sobald ich ein anderes Problem hatte, wie z. B. mein angeblicher Buckel, wurde mein Glied wieder klein. Dann hatte ich wieder eine Zeitlang meine Ruhe. Aber da war immer noch der angebliche Buckel. Das habe ich auch ignoriert. Große Sorgen machten mir meine Zeugnisse in jedem Jahr. Zufällig wurden sie aber besser. Mein Vater lernte jetzt sehr viel mit mir. Nur die Fächer in denen ich besondere Schwierigkeiten hatte. Das war Rechnen, Erdkunde und Schönschrift.

In den Herbstferien fuhr ich am Sonntag nach dem Mittagessen alleine mit meinem Fahrrad nach Marburg. Ich fuhr durch die Orte Kirchhain, Anzefahr, Bürgeln, Cölbe. Es waren 24 km. Ich war sehr aufgeregt. Ich bin sehr schnell gefahren. Geld hatte ich genug dabei. Ich kam nicht auf die Idee, mit dem Zug zu fahren. Ein Zug fuhr links von mir ca.100 m parallel mit mir entlang. Ich dachte mir: Das ist bestimmt langweilig, im Zug zu sitzen. Ne, mit dem Fahrrad ist das spannender. Boa! 24 km in 45 Minuten bin ich gefahren. Ich konnte den Bahnhof und die Uhr sehen. Den Bahnhof kenne ich doch, ich war schon mit Magda hier.

Ich fuhr über die Lahnbrücke auf der rechten Seite. Dann schaute ich nach rechts. Ich las ganz laut, noch außer Atem, „Roxi Kino“. Mit meinem Fahrrad in der Hand trat ich an die Kino Kasse:

„Na Junge, willste ins Kino? Dein Fahrrad kannst du im Hof, hier nebenan, hinstellen. Das wird nicht geklaut. Stell erst mal das Fahrrad ab, dann holst du die Kinokarte“.

Ich grinste die Frau an. Ich freute mich. Sie grinste zurück. Sie war alt. Ich schätzte sie so alt wie meine Mutter. Aber nicht so hübsch wie meine Mutter. „Du hast Glück, heute zeigen wir den Film „Die Drei von der Tankstelle“, mit Heinz Rühmann. Der Film ist jugendfrei“. Ich bezahlte 60 Pfennig. Dann kaufte ich mir noch 1 „Nappo- Krefeld und Karamell Bonbon.

„Das macht zusammen DM 1,70. Hast du denn so viel Geld? Du bist noch ein bisschen jung.“

„Ich bin 12 Jahre alt.“

„Oh entschuldige, ich habe dich auf höchstens sechs Jahre geschätzt.“

Ich grinste sie wieder an. Ich murmelte so laut, dass sie das hören sollte: „Kinderkram“. Eigentlich wollte ich ganz was anderes sagen:

„Meine Mutter ist aber schöner als Sie.“ Die hat das tatsächlich verstanden, denn sie lachte von ganzem Herzen.

Der Film war sehr schön. Die Zuschauer und ich haben viel gelacht. Herrliche Lachszenen. Dieses Mal blieb ich nicht sitzen, sondern machte, dass ich aus dem Kino kam. Ich musste unbedingt wissen, wie spät es war, also fuhr ich zum Bahnhof und schaute auf die Uhr. Ach du liebe Zeit, es war 17 Uhr. Jetzt aber schnell los, damit ich um 18:30 Uhr zu Hause sein konnte. Ich fuhr jetzt langsamer als auf der Hinfahrt. Ich war pünktlich zum Abendessen zu Hause und war sehr erschöpft. Meine Mutter fragte mich prompt:

„Wo warst du, Aloys?“

„Ich war im Kino“. Ich nickte sehr beiläufig.

„Was hast du gegessen?“ Als ich nicht antwortete, kam sie ganz nah zu mir, und sagte:

„Ich höre?“

„Schokolade.“

„Was noch?“

„Karamellbonbons.“

„Und?“

„Ja, und Nappo aus Krefeld.“

„Oh mein Gottchen, meine Bekannten haben Recht. Alle Kinder essen im Kino Schokolade und andere Süßigkeiten. Deswegen haben sie zum Abendessen keinen Hunger.“ In diesem Moment schoss es mir durch den Kopf: Dein Buckel kann von Schokolade und Karamellbonbon größer werden. Mutter sagte: „Ich verbiete dir, ab jetzt im Kino Schokolade und andere Süßigkeiten zu essen“. Mein Vater hörte das. Er legte die Schulhefte zur Seite, die er gerade korrigierte, und sagte:

„Das kannst du dem Jungen nicht verbieten. Wir schließen einen Kompromiss.“

„Was ist das, Papa?“

„Das heißt, wir lösen das Problem so, dass jeder sein Recht bekommt.“

„Das heißt?“ fragte Mutter. Vater erläuterte weiter:

„Alles, was du an Süßigkeiten kaufst, bringst du die Hälfte davon nach Hause.“ Ich musste so lachen.

„Ja, Papa, ich esse nur die Hälfte.“

„Das glaubst du doch selber nicht, dass dein Sohn nur die Hälfte isst.“

„Doch Mutti. Ich verspreche dir das. Du wirst sehen.“

„Und jetzt bin ich gespannt wie viel Brot du jetzt essen wirst, mein Sohn.“

Meine Mutter und mein Vater wussten ja nicht, wo ich heute gewesen war. Ich hatte wirklich großen Hunger. Ich aß zwei Stullen und ein großes Stück Kuchen vom Sonntagskaffee. Meine Mutter freute sich sehr und sagte:

„Du musst immer viel essen, damit du groß und stark wirst.“

„Ja Mutti, ich verspreche dir, das ich so viel essen werde, wie ich kann.“

Dann bekamen wir von unseren Bekannten wieder eine Einladung. Wir fuhren mit dem Zug nach Neustadt, meine Eltern und ich. Wir haben bei der befreundeten Familie zu Mittag gegessen. Es gab Täubchen. Als ich das Hühnerfleisch fast aufgegessen hatte, sagte meine Mutter:

„Ach, ich habe vergessen dir zu sagen, was du da isst. Es ist Täubchen-Fleisch.“ „Das schmeckt aber gut.“

„Dieser Herr ist Taubenzüchter“ klärte mich Mutter auf.

In meinem Kopf arbeitete es. Ich ging ans Fenster und sah einige Tauben fliegen. Dann setzte ich mich wieder.

„Mein Sohn, warum schaust du so auf das Fleisch? Du isst ja auch Hühnerfleisch.“

Mein Vater sagte: „Zum Beispiel auch Schweinefleisch. Das Täubchen Fleisch ist zart und schmeckt vorzüglich.“

Er nahm sich noch ein Stück Fleisch. Ich war auch noch nicht satt. Ich holte mir mit meiner Gabel vom großen Teller ein Stück Fleisch. Als wir alle satt waren, sagte die Dame:

„Heute ist Kirmes in Neustadt.“

Mutti sagte zu mir: „Du kannst ja den Papa mitnehmen, Aloys.“-

„Oh ja fein, darüber würde ich mich aber sehr freuen.“

Die Kirmes war sehr groß. Wir sind Kettenkarussell gefahren. Ich dachte oft an Margot. Durch neue Eindrücke wurde ich schnell abgelenkt. Plötzlich sah ich kleine Autos, die an Strom angeschlossen waren, erklärte mir Vater. Wir trauten uns nicht, damit zu fahren. Wir spielten Glücks- und Geschicklichkeitsspiele. Und ich dachte schon wieder an Margot.

Wir hörten hinter einem Bretterzaun lautes Lachen und mehr Schreie. Papa bezahlte 1,50 DM. Mir verschlug es schon wieder die Sprache: Es war ein Rondell aufgebaut, Durchmesser ca. 5 Meter. Zur Mitte hin, ging es steil nach oben. Dieses Rondell drehte sich langsam. Oberhalb des Rondells war ein Holz Keil, von einer Länge von ca. 50 cm festgemacht. Daran hielten sich einige Kinder krampfartig fest. Das Rondell wurde von einem Mann bedient. Dieser sorgte dafür dass es sich langsam oder schnell drehte. An diesem Holz Keil hingen 4 – 6 Kinder. Es waren auch Mädchen darunter. Ich sah oft ihre Schlüpfer. Aber die waren immer in Bewegung – Die Mädchen in ihren Höschen.

Plötzlich löste sich von ganz oben ein Medizinball, der an einem Strick befestigt war. Diesen dicken Strick betätigte ein anderer, ein zweiter Mann. Er sorgte und dirigierte den Medizinball so, dass er ganz dicht über den Köpfen, der verzweifelten Jungen und Mädchen, die sich am Holz Keil festklammerten, herüber schwebte. Er versuchte die Kinder zu berühren. Wenn der Mann am Strick zog, kam der Medizinball von oben, knapp an den Köpfen der Kinder vorbei. Manchmal traf er den Körper eines Kindes, es sauste, und rutschte durch die Fliehkraft vom Rondell herunter. Ich habe meinen Vater noch nie so lachen hören. Und ich erst. Das war ganz fantastisch, wenn die Kinder immer wieder versuchten sich an den Holzkeil zu klammern, während das Rondell sich drehte. Der Medizinball kam so oft von oben angesaust bis alle Kinder, bis auf einen kräftigen Jungen, übrig blieben. Mit einer Hand stieß er den Ball von sich, mit der anderen Hand hielt er sich fest. Die Leute klatschten wie verrückt. Wir auch. Nun drehte sich das Rondell ganz schnell. Durch die starke „Fliehkraft“ und den Medizinball löste sich dann doch der eine und der andere Arm. Der kräftige Junge rutschte bis zu den Zuschauern. Er grinste ins Publikum. Ein tosender Beifall brach aus. Es war so ein großes, lautes Lachen – es hat die Anlage übertönt.

 

Später konnte ich die Worte aus dem Lautsprecher endlich wieder verstehen. Die Zuschauer beruhigten sich langsam. Der Ansager sagte: „Jo wo sei me dann hier. Kruzifix, jo, wo so a dammischer Hiirsch. Do lägst di nieda. – Juljo sog i, juljo. Jo so a Saupreiss. – du host a fuel zu fuel Gfuel. (Du hast viel zu viel Gefühl).-

„Papa, was ist denn das für eine Sprache?“

Papa lachte: “Das ist ein Dialekt, ein bayrischer Dialekt, mein Sohn.“

„Ich finde die Sprache ganz toll, Papa.“

„Das nennt man Dialekt, mein Sohn. Genauso wie es den hessischen Dialekt gibt. Es gibt auch den Ostpreußischen Dialekt. Jedes Land hat seinen Dialekt.“ Jetzt spricht wieder der Ansager im bayrischen Dialekt.

„Ja, Ich finde den Dialekt ganz toll. Wenn ich den höre, muss ich lachen, Papa.“

„Ja, weil dieser sehr lustig klingt, wie Musik – manchmal.“

Mein Vater hat ja so Recht: Er weiß auf alles die richtige Antwort. Der Ansager sagt: „Gemma, gemma, so a Gaudi is döös. Hier , Himmelsakra, Kruzifix, juljo sog i. – Na, na, na – jo di meini du Saupreiss, du nett mi, du bist scho 4 mol do gwesn. Du bist jetza sooo miiid. Du gehst off di Wisn, schlofa. A jo, - gemma. Pfi di Gooott.“

„Papa, ich habe alles verstanden, aber was heißt denn“Pfir di Gooott?“

„Ich könnte mir denken, dass es „behüte dich, Gott“ heißt. Wenn wir nach Hause gehen, frage ich den Ansager.“

Dann suchte der Ansager 2 Boxer. Sie waren schnell gefunden. Sie bekamen Boxhandschuhe. Das Rondell drehte sich nun langsamer. Sie gingen beide auf das Rondell und fingen an zu boxen. „Sie boxen wirklich“, sagte mein Vater. Dann kam auch noch der Medizinball. Der Ansager machte wieder seine bayrischen Sprüche, herrlich. Ich verstand alles. Es war zum Totlachen. Wir schauten 1 1/2 Stunden zu. Meine Lachmuskeln taten schon weh. Eigentlich wollte ich noch nicht gehen. Es war fantastisch für mich. Mein Vater ging tatsächlich zum Ausgang. Der Ansager sagte:

„Jo, mei läwer. Dös is halt unsere Sprachn. I sogs dir jetza: Pfürdi Good heißt „behüte dich Gooott.“ Host mi, jo Servus. Bazi .“

„Papa, was heißt jetzt „Bazi?“

„Ich glaube Freund. Wir suchen uns jetzt erst mal eine Toilette, ja?“

„Okay, Papa.“

Zu Hause erzählte ich vor lauter Begeisterung von dem Dialekt Mutter, Zielchen und Thea. Sie haben sich köstlich amüsiert, und sehr lange haben sie gelacht. Ich musste alles erzählen. Zum Schluss sagte meine Mutter:

„Ich habe den Dialekt überhaupt nicht verstanden“.

„Was für ein Wort hast du nicht verstanden?“

„Na, diese komischen Worte „Pfirdi – Good.“

„Das habe ich Aloys schon zweimal gesagt, „behüte dich Gott.“

„Der Junge soll erst mal richtig deutsch lesen können, Papa.“

Alle lachten herzlich und aus vollem Hals. Ich habe es nie vergessen.

In den nächsten Monaten fuhr ich sehr oft zu unserer „Baustelle“, wie Papa immer zu sagen pflegte, nach Allendorf, in die Siedlung. Der Mann hatte inzwischen unser Grundstück komplett gerodet. Jetzt wurde fleißig ausgeschachtet.

Der neuste Sport in der Schule war „Schlagball“ englisch „Baseball.“ Das war ein sehr gefährlicher Sport. Das ging solange gut, bis bei einer Stadtmeisterschaft in Kirchhain, ein Junge schwer verletzt wurde. Der Ball traf ihn mit voller Wucht. Der Junge war lange im Krankenhaus. Der Schlagball wurde vom Schulrat, Herrn Mütze verboten. Ich habe Herrn Schulrat 1947 kennengelernt, als mein Vater einen Gesprächstermin hatte.

Meine Dreigangschaltung und das Fahrrad machten mir weiter viel Freude. Wir, 4-5 Freunde, fuhren oft nach Neustadt ins Kino. Ich hatte immer Geld vom Schrotteln. Eines Tages hatte ich kein Geld mehr, weil viele Leute „geschrottelt“ hatten. Ich konnte nichts abliefern.

Mein Vater machte mit seiner Klasse einen Naturkunde-Ausflug, in Richtung Emsdorf. Eines Abends sagte er:

„Mein Sohn, heute, bei unserem Ausflug, fanden wir eine Fliegerbombe aus dem 2. Weltkrieg. Du fährst mit dem Leiterwagen Richtung Emsdorf auf einen Hügel. Du wirst sie dann schon sehen können. Ich habe die völlig kaputte Bombe genau untersucht. Es ist nur das Eisen noch vorhanden, alles andere ist weg.“

Ich musste Theo mitnehmen. Wir haben sie tatsächlich gefunden. Nicht zu übersehen lag sie demonstrativ auf einem Hügel. Die Spitze, völlig kaputt, ragte aus dem Gras hervor. Theo und ich haben vom Schrotthändler 8.- DM erhalten. Ich fragte den Schrotthändler wo man in der DAG noch suchen könnte. Er sagte:

„Du musst einen Spaten mitnehmen und ein bisschen graben.“

Theo war sehr krank geworden. Er lag in der St. Elisabeth Klinik in Marburg. Ich durfte nicht zu ihm ins Zimmer. Deswegen haben wir uns am Krankenhaus draußen am Fenster unterhalten. Er sprach sehr wenig. Seine Stimme krächzte. Nach drei Wochen waren die Mandeln heraus operiert worden. Dann musste er wieder ins Internat.

Ich fuhr mit meinem Leiterwagen und einem Spaten in die DAG. Ich grub unter den Büschen und ganz woanders. Ich wurde sehr oft fündig. Ich fand viel altes Eisen. Überall wo Schutthügel waren, lagen Zementsäcke und Blei und altes Eisen. Mein Herz schlug bis zum Hals, als ich „meine Schätze“ wieder wochenlang mit dem Spaten aushob. Das war ein guter Tipp von meinem Freund, dem Schrotthändler.

In der Schule musste ich sehr viel lernen. Der Lehrer Völk war sehr streng. Wir schrieben viele Aufsätze. Mein Vater nahm eine große Landkarte von Deutschland. Er zeigte mir die Länder innerhalb von Deutschland. Ich musste die alle auswendig lernen. Es war wie immer langweilig für mich. Ich hörte Zielchen das Lied singen:

„Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei, nach einem Dezember folgt wieder ein Mai“. Mir wurde dann immer sehr warm ums Herz. Mein Vater sagte:

„Du musst die Schule schaffen, mein Sohn. Du hast ja gehört, was Zielchen eben gesungen hat: „Es geht alles vorüber“ usw. Wenn du fleißig lernst, und du viel weißt, dann geht es dir gut und alle sind zufrieden mit dir. Aber wenn du nicht lernst, dann sind wir mit dir nicht zufrieden. Merke es dir doch endlich.“

„Ja Papa“.

Als ich dann mein Zeugnis in der Hand hielt, hat mein Vater gesagt:

„Siehst du, jetzt sind wir zufrieden mit dir. Hier hast du 5.- DM, es ist zwar wenig, aber es kommt von Herzen. Du warst sehr fleißig, In den wichtigen Fächern hast du eine „3“ bekommen. Hättest du nicht gelernt ständen viele vierer im Zeugnis, und das wäre nicht gut. Mach weiter so, mein Sohn. Der alte RÖMER SENECA hat diesen Spruch gesagt: „Nicht für die Schule sondern für das Leben lernen wir.“

Es war schlechtes Wetter. Es regnete den ganzen Tag. Mein Vater korrigierte Schulhefte, hörte Radio, unterhielt sich mit mir und meiner Mutter. Mutter fragte Vater, ob sie mehr Haushaltsgeld bekommen könnte, sie schaffe es nicht mehr, alles davon zu bezahlen.

„Jetzt hör doch endlich auf, zu korrigieren oder Krimis im Radio zu hören. Du unterhältst dich mit Aloys und hörst nicht zu, wenn ich mit dir über wichtige Dinge rede.“

„Oh doch, Mutti, ich habe genau zugehört, was du gesagt hast. Du schreibst eine Liste. In Stichwörtern schreibst du auf, was du noch brauchst, außer dem Haushaltsgeld, wie viel und was es kosten würde.“

„Nein, das werde ich nicht aufschreiben. Ich sage dir in Stichworten was ich brauche, und du schreibst es auf.“

„Ist gut, ich höre auf zu arbeiten.“ sagte der Papa brav.

„Schreib, Papa: Toilettenartikel, Nähzeug, z.B. Stopfgarn für die Strümpfe, Kleidung für die Jungen, Kleidung für die Mädchen, das heißt Kleidung für uns alle.“

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