Reisen

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Über dieses Buch

Sie machten Furore, die Reportagen Meienbergs, erregten Aufsehen, wurden viel gelesen und diskutiert. Sie waren genau recherchiert, dramaturgisch sorgfältig gebaut und brillant geschrieben, ihr streitlustiges Engagement fuhr wie ein frischer Wind in den prätentiös-bildungsbürgerlichen Mief der Feuilletons, und bis heute haben sie ihre Frische bewahrt.

Der Inhalt dieses E-Books entspricht dem Kapitel «Reisen» aus Band 2 der Reportagen, ausgewählt und zusammengestellt von Marianne Fehr, Erwin Künzli und Jürg Zimmerli, Limmat Verlag, Zürich 2000:

Blochen in Assen, und auch sonst

Châteaux en Espagne

Liverpool

Rue Ferdinand Duval, Paris 4e

Ratten

Die Rue de Juifs ist stiller geworden

Die Fische von der Rue Saint-Antoine (auf dem Trockenen)

Das Judengerücht von Amiens

Ein langer Streik in der Bretagne

You are now entering Benjamin Franklin Village

Im Strudel von Algier

Wargasm on Constitution Avenue


Foto Roland Gretler

Niklaus Meienberg (1940–1993), Historiker, Schriftsteller und Journalist. Er erfand die Reportage neu und dichtete ungeniert mit dem überlieferten Material europäischer Lyrik. Mit seinen Texten zur Zeitgeschichte war er ein grosser Streiter, dessen «Sprachgewalt» auch seine Feinde bewunderten. Wie kein zweiter hat sich Niklaus Meienberg der Öffentlichkeit ausgesetzt, seine ganze Person hat er in seine Texte eingebracht, und mit seiner ganzen Person ist er für sie eingestanden.

Niklaus Meienberg

Reisen

Ausgewählt und zusammengestellt von Marianne Fehr, Erwin Künzli und Jürg Zimmerli

Limmat Verlag

Zürich

Blochen in Assen, und auch sonst

Für André Pieyre de Mandiargues

«Das einzig Starke an Dir

ist Deine Moto-Guzzi

Aber sonst bist du ja

so ein Fuzzi»

Udo Lindenberg

Das greift so seltsam ans Herz, wenn man diese lederverpackten rasenden Typen unter den mittelalterlichen Topfhelmen, kauernd auf ihren Maschinen mit angezogenen Beinen wie der Fötus im Mutterbauch, mit 260 Stundenkilometern über die Rennbahn von Assen blochen sieht hört riecht spürt.

In Daytona Beach geht’s noch schneller, dort fetzen die schweren Siebenhundertfünfziger mit 330 km/h, aber 260 ist auch ein Erlebnis, wenn man’s noch nie gesehen hat und selbst nie über 190 hinausgekommen ist auf einer Serienmaschine. Es sind Fünfhunderter, 500-Kubik-Maschinen, welche diese Spitze erreichen, aber vielleicht sind es auch 280 km/h, auf den Kilometer genau weiss man das nicht, die haben keinen Geschwindigkeitsmesser, nur einen Tourenzähler aufmontiert, damit der Fahrer weiss, bis in welche Höhen er den Motor hinauftreiben soll, bevor es ihn verjagt.

Wie der Agostini wieder vorbeigeschletzt ist in der zehnten Runde an der Zieltribüne auf seiner bärenhaft dumpf brummenden MV-Agusta mit ihrem Orgelton, die so vorteilhaft kontrastiert mit den japanischen Heulern (Suzukis, Yamahas)! Die sind ihm auf den Fersen, aber er hat das Feld schon in der zweiten Runde abgehängt, König Ago, wie sie ihn nennen, lässt keinen an sich herankommen, Präludium und Fuge über das Thema Kurvenschneiden, Präzisionsarbeit in der Schräglage, da kann man allerhand lernen für den eigenen Gebrauch, die Schätzungen gehen auseinander und schwanken zwischen 50 und 60 Grad Neigung in den Kurven, und wie er das wieder gemacht hat dort in der S-Kurve, wo er zuerst ganz links aussen, zwei Zentimeter vom Pistenrand, hart neben der Grasnarbe, die Maschine tief zu Boden drückte, mit abgewinkeltem linkem Knie, sie dann wieder emporriss, die Mitte der Rennbahn anvisierte, ganz kurz senkrecht stand und sich darauf nach rechts fallen liess, mit abgewinkeltem rechtem Knie in die Rechtskurve fegte, wumm!, und dabei die Verschalung und ein Auspuffrohr den Boden kratzten, wahrscheinlich auch die ledergeschützte Kniescheibe, ein hartes schnelles Knirschen, aber Agostini schon wieder aufgerichtet, Agostini fest im Sattel, dann stark fötal gekrümmt auf der Zielgeraden mit Vollgas, fünfter, sechster, siebenter Gang, wie der schaltet mit seinem hurtigen italienischen Fuss, ein König, begleitet von Musik aus den Lautsprechern, die den ganzen Parcours säumen, aber die Musik hört er nicht: I CAN’T GET NO SATISFACTION. Die Auspuffe, welche nach hinten aggressiv in die Luft stechen wie Maschinengewehre oder geil aufgestellte Schwänze, verbreiten eine Bewölkung aus Benzin und Rizinusöl, das dem Rennöl zur Leistungssteigerung beigemischt wird, wovon die Zuschauer nicht genug haben können: günstige Anästhesie, die den Lärm verdauen hilft, nochmals gut durchatmen, das begast die Nerven und hilft, die permanent hundertzwanzig und mehr Dezibel vier Tage auszuhalten.

Noch ein Schluck! Genug ist nicht genug! Die Gase, zusammen mit Hitze, Lärm und Musik, speeden die Zuschauer in einen höheren Zustand hinauf. I DO WHAT I WANT ist jetzt die Melodie, und SAY GOODBYE IT FEELS SO STRANGE, und jetzt kommt eine Gruppe von lauter Suzukis, im Volksmund «Sugi» genannt, in allen Tonarten zwischen h-Moll und F-Dur heranmusiziert. Die Maschinen preschen als zusammenhängender Klumpen in eine weidlich scharfe Kurve, wie aneinandergeklebt, zwanzig Zentimeter oder weniger Abstand von Mann zu Mann, mit einem Hundertdreissiger (tief geschätzt), und berühren sich nicht, die Artisten, es verscherbelt keinen einzigen, bravo, der Tod pulsiert in den Kurven und natürlich auch die Libido, und it feels so strange. Dennoch gab es heuer nicht einmal Knochenbrüche in Assen, nur weiche Verletzungen, Schürfungen/Prellungen/Hirnerschütterungen, und nur wenige kamen vorübergehend ins ZIEKENHUIS, wie die Spitäler in den Niederlanden heissen.

Alles funktionierte sportlich, auch Angel Nieto hat sich gemässigt; der Bodensurri aus Spanien auf seiner Bultaco-50-Kubik hat seine Konkurrenten, wenn sie ihn überholen wollten, nicht mehr bei 180 km/h in die Schienbeine gekickt oder in die Lenden, mit seinen hart kickenden Beinchen, hat niemanden unsportlich auf die Piste geworfen, auch keinen Wutanfall bekommen und seinen leichten Töff nicht mehr nach dem Rennen an die Wand geschmettert wie auch schon: Er wurde nämlich Sieger der 50er-Klasse und stand befriedigt und ausgepumpt in der Sommerhitze auf dem Podest, während die spanische Nationalhymne und ein Lorbeerkranz, der ihm bis zu den Knien hinunterhing, den Sieg verdeutlichten und er die Huldigung der Massen entgegennahm wie Franco bei der Siegesparade 1939 in Madrid, mit leicht winkendem Fetthändchen. Aus der Vorratskammer unter dem Siegespodest hatten die Pfadfinder, welche den Lorbeer betreuten, nach einigem Suchen den zutreffenden Kranz hervorgenestelt, jenen mit der Inschrift: Grosser Preis der Niederlande, 50 ccm. Er sah aus wie ein Beerdigungskranz, auf der violetten Schleife hätte auch stehen können: Für treue Dienste unserem unvergessenen Mitarbeiter Nieto, die Firma Bultaco. Angel Nieto hatte sein Lederkombi bis zu den Hüften hinuntergerollt. Es war heiss. Sein Oberkörper schwitzte.

Andere konnten die Siegerehrung nicht mehr im Vollbesitz ihrer körperlichen Kräfte entgegennehmen. H. Schmid, Beisitzer oder Beilieger von J. Martial in der Seitenwagenklasse, ein Gespann aus Zwitserland, wie dem Programm zu entnehmen ist, Start 16.15 Uhr am Samstag, vierzehn Runden auf Yamaha, hundertacht Kilometer in knapp dreiviertel Stunden, hat durchgehalten bis zur letzten Runde, hat den ersten Rang gemacht mit seinem Partner, musste, weil anscheinend in den Zustand der tiefsten Erschöpfung gefallen, unter den Klängen von TRITTST IM MORGENROT DAHER direkt vor der Zieltribüne in einen Krankenwagen versorgt und ins Ziekenhuis geschafft werden. Sein Zustand wurde als befriedigend angegeben. Schmids Müdigkeit sei derart gewesen, hiess es, dass er sofort nach dem Ausrollen vom Seitenwagen auf den Zement fiel wie tot, aber glücklich. SEH ICH DICH IM STRAHLENMEER.

Einen andern konnte man treffen, der lag nach dem Rennen zusammengekrümmt und japsend im Gras, stand eine Stunde lang nicht mehr auf, schnappte nur still nach Luft und suchte Kühlung. Auch einer von den Seitenwagenfahrern, auch auf seinem Gesicht ein Reflex von Glück, nachdem der Sanitäter ihm gesagt hatte, er sei gut plaziert. Seitenwagenfahren stellt besondere Ansprüche. Auf den geraden Strecken liegen die Beifahrer bäuchlings ausgestreckt auf ihrem länglichen Gefährt, die Füsse ragen hinten über den Rand hinaus, Fussspitzen wenige Zentimeter über der Piste, sieht aus wie ein rasender Sarg. In den Kurven wird gekniet und beidseitig weit hinausgelehnt. Hosenboden wieder knapp über dem Zement, manchmal auch leicht darauf schleifend. Eine Kunst.

Die Motoren dieser Klasse sind immer überbeansprucht: fünfhundert Kubik, so viel, wie einem Solisten sonst zur Verfügung steht, müssen jetzt zwei Mann und das schwere Gefährt bewegen. Also ständig ENGINE TROUBLE, wie der Kommentar aus den Lautsprechern sagt, Maschinenpech, die Hälfte der Konkurrenten fällt aus, klemmende Kolben, ausgeleierte Lager, Melancholie auf den Gesichtern der Fahrer, welche ihre Gespanne selbst zusammengebastelt haben und voll Zärtlichkeit speziell frisierte Bootsmotoren und andere Fabrikate auf die niederen Chassis pfropften, und dann in der achten oder neunten Runde, wie bei Rudi Kurth und seiner in den Kurven akrobatisch turnenden Gefährtin, die auf einer wirklich genialen Maschine mit revolutionären Neuerungen in den Kampf blochen: Schluss, Engine trouble, alles für die Katz. Das Gespann Rudi Kurth/Dane Rowe steht immer kurz vor dem grossen Durchbruch, ihre Maschine wird immer revolutionärer (sagen die Spezialisten), die Bewunderung für ihren Durchhaltewillen ist gross, das Mitgefühl der Zuschauer wegen der nicht errungenen, ganz knapp verpassten Siege auch.

 

Man sieht die beiden in den Pausen zwischen den Trainingsläufen angestrengt vor ihrer Maschine hocken, sie reden ihr gut zu, die Zündkerzen, Lager, Kolben, Vergaser werden beschwichtigt und geputzt, der ganze Mechanismus demontiert, neue Teile eingefügt, der Ton wird nach Unregelmässigkeiten detektivisch abgehorcht; was für den Laien nur ein wüstes Brüllen ist, wird in den zarten Öhrchen der Liebenden eine Symphonie … Da geht die ganze Liebe hinein in die Maschine, und auch die ganze Zeit.

Neben ihrer Maschine steht im Fahrerlager der Transporter, auch selbst gebastelt, darin wohnen sie, mit dem fahren sie und ihr YAMAHA wie die Landstörzer von Rennen zu Rennen zwischen März und September, ausgebucht fast jedes Wochenend, von ihrer Heimat bleibt ihnen nur die Nationalhymne, wenn sie doch einmal gewinnen. Ihre eigentliche Heimat ist der Töff, ein rasendes Vaterland mit Pannen. Drei oder vier Tage in der Woche wird trainiert, und samstags oder sonntags dann gilt es jeweils ernst: das Rennen in Hockenheim oder auf der Isle of Man oder in Imola oder Spa oder Barcelona oder Clermont-Ferrand.

So kommt man in die Welt hinaus, ringelum, irgend etwas treibt sie auf allen europäischen Rennbahnen im Kreis herum. Das Geld? Nicht der Rede wert, die Startgelder und Prämien sind bescheiden, damit kann man kaum die laufenden Unkosten berappen. Der Kitzel? Sie empfinden die Schnelligkeit nicht als Kitzel, sondern als Rohmaterial für Präzisionsarbeit. Der Ruhm? Nur ganz wenige können sich einen Namen machen, wie man sagt, die andern bleiben namenlos im Schatten. Wer dann einen Namen hat, wie Barry Sheene oder Phil Read, der kommt wie diese beiden tatsächlich mit dem Rolls-Royce angefahren und mit vier, fünf Ersatzmaschinen, einem Camion voll Ersatzteilen und einem halben Dutzend Mechanikern, alles von Herrn Suzuki oder Harley Davidson bezahlt oder von Gauloises und Marlborough gesponsort, wie man sagt. Da schläft man auch nicht mehr im Fahrerlager (im Wohnwagen, den die meisten mit sich schleppen), sondern im Hotel, und hat einen ganzen Tross von Griten und Gritli bei sich, fast wie die Autorennfahrer; die Schönheit der Begleitmädchen nimmt mit dem Erfolg zu, versteht sich. Agostini hat in Assen die meisten, Barry Sheene die schönsten.

Und der Ruhm, wie kommt der? Am ehesten dort, wo die beste Maschine sich mit dem tüchtigsten Fahrer paart zu einem rasenden Zentaur. Die besten Maschinen muss man, bevor sie dem tüchtigsten Fahrer von einer Firma samt Zubehör und Mechanikern gratis gestellt werden, kaufen, eine Fünfhunderter-Suzuki für ca. dreissigtausend Franken, und dann die teuren Ersatzteile: Kolben nach 600 Kilometern oder schon vorher durchgescheuert, ständig neue Lager, Vergaser, Ketten usw. Ein reicher Vater kann auch in diesem Sektor nicht schaden, Leute wie Sheene oder Agostini konnten schon immer verschwenderisch mit ihrem Material umgehen, während die ärmeren Kollegen sparen und ihre Maschine nicht selten bis zur äussersten Risikogrenze belasten müssen. Klassenkampf, auch im Reich der Zentauren. Und dann: survival of the fittest, der Mutigste überlebt, wenn er nicht verstirbt wie Pasolini, von dem es im Motorrad-Guide (Ausgabe 1974) heisst: Renzo Pasolini wurde Werkfahrer bei Benelli, die mit ihren neuen Vierzylindermodellen viel Erfolg zu versprechen schienen. Bei den letzten Rennen des Jahres war die Sensation perfekt, als er mit einer aufgebohrten 350er in Vallelunga die 500er-Klasse vor Ventura auf Gilera gewinnen konnte und Agostini beim Versuch, den Benelli-Spitzenmann zu überholen, zu Fall kam … Endlich schien ihm der Durchbruch zur internationalen Spitze, zu der er von der fahrerischen Seite her schon längst gehörte, zu gelingen. Sein Ziel war es, auf einer italienischen Maschine einmal Weltmeister zu werden. Er verunfallte, vor Saarinen liegend, in Monza tödlich.

Es war eine der seltenen Massenkarambolagen, bis zu zwanzig Maschinen sollen ineinandergebumst sein, das Rennen wurde abgebrochen, die rote Fahne geschwenkt: als Zeichen für den Abbruch. Die dabei waren, sprechen nicht gerne davon. Vom legendären Jarno Saarinen (1945–1973) heisst es im Motorrad-Guide: Wenn ein ganz Grosser des Sportes sein Leben verliert, so erschüttert das Millionen. Saarinen war ein ganz Grosser, man sprach von ihm als einem der grössten Fahrtalente aller Zeiten, und er besass die Sympathie der ganzen Welt, wie jeder in der Rolle Davids, der Goliath (= Agostini) bezwingt. Er hatte kämpfen müssen um seine Karriere. Wenn andere schliefen, überholte er spät nachts eigenhändig den Motor seiner Maschine mit der Liebe zum Detail eines Uhrmachers, statt im Hotel nächtigte er in seinem Lieferwagen im Fahrerlager, er nahm alle Entbehrungen der Welt auf sich, um es zu etwas zu bringen, um Bester zu werden … Jarno Saarinen hatte schon einmal Ende 1972 von einem möglichen Rücktritt gesprochen. Die Angebote, die er für die Saison 1973 erhielt, und die damit verbundene Aussicht, einem Haus und einer Familie etwas näher zu kommen, liessen ihn seine Rücktrittsgedanken vergessen. Mit demselben Kampfgeist, der ihn schon zuvor beflügelt hatte, stürzte er sich in die Saison 1973 und gewann, was zu gewinnen war – und verlor am Ende doch alles.

Nicht viele enden so dramatisch wie diese zwei und bleiben öffentlich als Helden in der Erinnerung kleben; den meisten geht mit dem Alter der Schnauf aus, das Kurvenfräsen wird ihnen unheimlich, ab Mitte dreissig wird’s kritisch, man zieht sich in den Beruf zurück, aus dem man gekommen ist. Garagist, Werkzeugmacher, Mechaniker, Schlosser, Motorradhändler; sozialer Abstieg ist selten. Aber wenigstens hat man einmal gelebt, bevor man in den Alltag zurückfällt. Man hat das Lebensgefühl gesteigert. Geschwindigkeit und das schräge Blochen in die Kurven ist Lebensgefühl; der Alltag ist für manche so trüb, dass man ihm gar nicht schnell genug entblochen kann. Man kommt vom Fleck, man bewegt sich, wenn auch nur zum gleichen Fleck zurück, man rast sich selbst und seinen Bedingungen davon, man ist frei, provisorisch. Man wird befördert mit einer unheimlichen Wucht, und man ist gleich wie die andern in der betreffenden Kubik-Klasse, wenn auch einige noch etwas gleicher sind. Und Brüderlichkeit gibt es auch, man hilft sich mit Ersatzteilen aus.

In den Kreisen, aus denen die meisten Fahrer kommen, kann man auch mit grosser Tüchtigkeit fast nie Unternehmer, Kardinal, Dirigent, Autorennfahrer, Schriftsteller werden, aber Töffrennfahrer, das liegt vielleicht drin, da ist ein Ausbruch möglich, wie auch in andern proletarischen Sportarten, wenn man den Rank findet und keine Angst (z.B.) vor dem SPEED-WOBBLING hat, wie man das leichte Schwabbeln des Lenkers nennt, durch welches ein bevorstehendes Abschmieren der Maschine angezeigt wird, meistens.

Es gibt auch Unfälle ohne Vorwarnung: Die überaus heiklen Antriebsketten können reissen. Wenn die Kette wegspickt, hat man Glück, sonst schlingt sie sich eventuell um die Radspeichen, das ist weniger glücklich. Oder der profillose Hinterpneu, sogenannter Slick, profillos, um höhere Geschwindigkeit zu erzielen, kann platzen, oder die stark beanspruchten Kolben können sich festbrennen, was ein geübtes Ohr allerdings einige Sekunden vorher hört, wird doch der Ton deutlich um einen Halbton tiefer, dann muss man nur noch auskuppeln und kann so das abrupte Blockieren der Räder und das anschliessende Überschlagen der Maschine vermeiden. Oder ein Ölfleck kann die Strasse glitschig machen, aber dann steht jeweils bald schon ein Rennfunktionär mit der Flagge da, welche bedeutet: Achtung! Ölfleck!, und dirigiert die Fahrer, wenn das noch geht, an der schlüpfrigen Stelle vorbei.

Oder man erwischt die Kurve nicht mehr, weil man, um einige Sekundenbruchteile zu gewinnen und in falscher Einschätzung der Fliehkraft, das Gas nicht zurückgenommen und nicht heruntergeschaltet hat, aber für diesen Fall stehen überall an den kritischen Punkten Strohballen bereit, so dass die Zuschauer vor der Maschine und dem Fahrer, die wie ein Geschoss auf sie einschlagen könnten, geschützt sind. In Assen waren die Strohballen mit Plastiktüchern umwickelt, damit sie auch nach einem eventuellen Regen noch brauchbar gewesen wären. Dreimal habe ich an jener Strecke erlebt, wie die Strohballen funktionierten; an derselben Stelle hat es dreimal hintereinander Maschinen verschiedener Klasse aus der Kurve gejätet (gejettet), und jedesmal sind die Fahrer elegant wie Ballettänzer abgesprungen, vielleicht auch abgepurzelt, man sah es nicht genau, so schnell ging’s. Die Maschinen fetzten ins Stroh und die Fahrer zum Teil hintendrein, doch alle konnten sich noch aus eigener Kraft davonschleppen, und die Sanitäter, welche alternierend mit den Strohballen alle paar hundert Meter bereitstanden, mussten nicht allzusehr schockiert werden. Motorradunfälle haben gegenüber Autounfällen den Vorteil, dass sich der Mensch im kritischen Moment von der Maschine trennen und geschmeidig der ihn umgebenden Natur anpassen kann.

Mittwoch, Donnerstag, Freitag: Training. Das Fahrerlager liegt im Herzen der Rennstrecke, begrenzt von den rasend ringsherum fegenden Mauern aus Töffs. Es ist ein Wohnwagendorf plus aufgebockte Maschinen vor den Autos. Seltsamer Kontrast zwischen den strotzenden Vollblütern und dem gemächlich schleichenden Leben in den Wohnwagen. Gardinen und Kanarienvögel, Lockenwickler in den Haaren der Gattinnen, und ihre Knirpse fahren auch schon Töff, speziell giftige Knirpstöffe, alles dreht sich um die heiligen Maschinen, den ganzen Tag werden Zündungen eingestellt, profillose Pneus mit Feilen leicht abgeschmirgelt, Kolben überprüft. Metall wird geschliffen, dann wieder werden Maschinen im ersten Gang ausprobiert zwischen den Wohnwagen, so dass einen der peitschenknallartig helle Ton in die Nerven beisst.

Der Auspuffrauch kommt bläulich aus den Auspufftöpfen. Rizinusöl. Es ist nicht ein Geräusch wie bei serienmässigen Strassenmaschinen, sondern ein hundertfach verstärktes Gesumm von Libellenflügeln, Falsett-Töne der japanischen Exportindustrie, yam, yam, yaaaam, mit an- und abschwellendem hellem a, bis einem das Wasser in die Augen springt; nur die Europäer tönen anständiger, vor allem die MV-Agusta und die unvergleichliche Morbidelli, welche in der 125er-Klasse die zwei ersten Plätze belegte.

Morbidelli – im Namen steckt das ganze Programm fürs Rennen.

Die haben alle nur den Töff im Kopf, es geht vermutlich nicht anders, nur Monomanie bringt sportlichen Erfolg. Einer kam in die Kantine, setzte sich, bestellte ein Bier, legte die rechte Hand auf den Tisch, schloss die Hand um einen imaginären Gasgriff, während die linke Hand eine Zangenbewegung manisch wiederholte: kuppeln, auskuppeln. Ob sie nachts, wenn sie bei ihren Frauen in den Wohnwagen liegen, auch immer kuppeln, schalten, Gas geben und die betreffenden Körper mechanisch traktieren? Ihre Maschinen jedenfalls streicheln sie manchmal so, wie man Frauen streichelt, und beim Start bespringen sie ihre Töffs, denn diese haben keinen elektrischen Anlasser und müssen also angeschoben und dann besprungen werden.

Das ist ein phallokratischer Anblick, wenn achtundzwanzig Fahrer im gleichen Moment ihre Maschine bespringen und dann loszischen, nachdem die Stute Feuer gefangen hat. Dazu im Hintergrund die Fahnen, nicht nationale Flaggen der Rennfahrer, sondern multinationale Symbole des Imperialismus: Chevron-, Shell-, Esso-Fahnen.

J’ATTENDRAI LE JOUR ET LA NUIT TON RETOUR singen die Lautsprecher, und – die Knappen, Steigbügelhalter, Mechaniker, Vasallen und Zeitmesserinnen, welche die Maschinen ihrer Herren zum Start begleitet haben, warten, bis sie die Tiere nach der 16. Runde wieder in Empfang nehmen und in die Karawanserei zurückstossen dürfen. Wenn ein Renner während des Rennens vorzeitig aufhören muss – Maschinenpech, verfrühte Erschöpfung–, streckt er das rechte Bein hinaus zum Zeichen, dass er ausschert, damit die andern ihm nicht von hinten in die Maschine wetzen.

Wenn sie dann schwitzend bei den Fahrerboxen sich aushülsen, kommen überraschende Figuren ans Licht, unter kriegerischen Helmen und der windschlüpfrigen Lederrüstung stecken Sprenzel und magere Buben, selten richtige Fetzen. Sie sind jetzt geschrumpft, ohne Helm, Jockeyfiguren, besonders für die unteren Kubikklassen. Damit man mit einer 50er-Maschine, die soviel Kubik hat wie ein normales Moped, eine Spitze von 200 km/h erreichen kann, und die erreichen die Fahrer tatsächlich, muss man sehr leicht sein, schon fast körperlos, ein reiner Geist. Auch ihre hochfrisierten Mopeds sind vergeistigte, zierliche Insekten. Körperlich an ihnen ist nur der Ton. Der fräst sich hinein bis ins Gekröse. Den wird man wochenlang nicht mehr los. Wenn man vier Tage lang beim Start das Aufheulen aller Klassen erlebt, kann man Gehörschäden davontragen.

 

Im Schlachtenlärm von Assen kommt mir die eigene Maschine in den Sinn, Erinnerung an die Natur, welche meine 750er vermittelt. (Assen ist eine abstrakte Maschinenwelt.) Sie ist in Auxerre geblieben, Engine trouble vor kurzem auf der Autoroute du Sud, bei 180 ein Kolben festgegangen, wenn rechtzeitig ausgekuppelt wird, kann man das Blockieren der Räder vermeiden. Kein Vehikel vermittelt die Welt so intensiv wie eine anständige Maschine: Man sitzt nicht eingesperrt in den eigenen vier Wänden wie die seltsamen Autofahrer, man riecht die Jahreszeiten und hat eine volle Rundsicht auf Werden und Vergehen, der Wind massiert die Haut und schlüpft gelegentlich in die Kleider; man ist auch nicht eingesperrt im Verkehr, bewegt sich frei noch in den schmalsten Korridoren zwischen zwei Wagenkolonnen, Hindernisse gibt es nicht ausser den Verkehrsampeln, man lernt auf dem sensiblen Siebenhundertfünfziger spielen wie auf einem Instrument, mit ihm spielen, Körper und Instrument beginnen zu harmonieren, die Maschine instrumentiert den Körper, der Körper die Maschine.

Vielleicht sollte man es einmal gespürt haben, bevor man leichtfertige Urteile über das Töff-Fahren abgibt, eine Passfahrt im Sommer über Oberalp und Furka, oder ein Ausflug ins Elsass, vielleicht auch die Landschaft zwischen Rocamadour und Montségur, oder die Cevennen. Sich in die Landschaft einfühlen, Bewegungsfreiheit spüren, die Natur wie am Film-Montagetisch beschleunigt abrollen lassen als RUSH, dann wieder sanft vorübergleiten lassen, nichts um sich spüren als Licht und Wind, den man kräftig oder mild wehen lassen kann, dabei die Körperstellung verändern vom Liegen zum Schräg- und Aufrechtsitzen, bei einsamen Strecken die Füsse auf den hinteren Fussrasten, und dann wieder ein Spurt auf geeigneten Strassen mit dem Gefühl der Allgegenwärtigkeit bei dieser Beschleunigung: Man ist sofort überall, in fünf Stunden von der Schweiz in Paris. Man wird nicht befördert wie im Auto, man befördert sich, man ist bei der Sache in einem Zustand höchster Wachheit und Konzentration, die man im Auto nicht braucht, eine Mischung aus Lustgefühl und Kurvenberechnung und leichtem Überschwang, den man hin und wieder drosseln muss, manchmal auch Lachen vor lauter Wohlbefinden, doch das eigene Lachen hört man nicht bei den Geschwindigkeiten, es wird sofort aus dem Mund gerissen.

Verschmelzung mit Maschine und Natur, abends nach einer langen Fahrt hineingeritten in die grossen Städte, überall durchgeschlüpft und noch schnell über die Grands Boulevards geblocht, die Stadt ist befahrbar und erlebbar, man sieht wieder ihre Monumente und wie schön sie gebaut ist, eine grosse Synopse aller Sehenswürdigkeiten, alles zugleich bei dieser Geschwindigkeit: Zusammenschau, fast eine Flugaufnahme. Und dann einfach parkiert auf dem Trottoir, keine Parkprobleme (aber Eigentumsprobleme: mit einer dicken, auch von starken Beisszangen nicht zu öffnenden Kette die Maschine anbinden am nächsten Baum, sonst wird sie gestohlen, die serienmässige Lenkerblockierung genügt nicht).

Da steht sie dann, ruhig, aber strotzend, man kann sie wieder einmal betrachten, die Vorurteile bedenken, welche von Töff-Feinden, Philistern, Banausen, Nicht-Töff-Fahrern verbreitet werden: es handle sich um Kompensationsobjekte, Sexmaschinen, unbefriedigte Menschen müssten sich so abreagieren, wer keine Freundin hat, fährt Töff, und was man sonst alles zu hören bekommt, Potenz-Maschinen usw. Dabei gibt’s, bitte sehr, nichts Innigeres, als mit einer Freundin zusammen verschmolzen durch die Stadt zu reiten, nachts auf der Zielgeraden der Rue de Vaugirard, dann eng geschmiegt und angenehm schräg noch um das Grab des Unbekannten Soldaten zu wetzen, das heisst um den Triumphbogen, die schönste Rundstrecke in Paris, und dann dem Fluss entlang, voie Express. Die Lust wird potenziert, nicht kompensiert. Und beim Bremsen die noch enger aufeinandergerutschten Körperchen! Auch hier Naturvermittlung. Schliesslich, nachdem sie beim Absteigen gesagt hat, es sei halt wie ein Rausch, noch eine Zwiebelsuppe in der Coupole, zur Ernüchterung.

Freitag nachmittag in Assen. Es ist soweit, die Trainingsläufe sind vorbei, der Fahrer Stadelmann liegt im Spital mit leicht erschüttertem Gehirn, aber sonst wohlbehalten, Maschine gestaucht im Zelt, wo sie jetzt ganz allein ist, im Fahrerlager sonst keine grossen Unfälle. Ueli Graf mit einer Sehnenzerrung, ein Kollege hat ihm den Lenker in den Oberschenkel gebohrt, zu nahe aufgeschlossen in der Kurve, vermutlich. Ein Geruch von Schweiss und Rennöl in der Luft, flimmernde Hitze über der Piste. Die berittene Königliche Reichspolizei, KONINKLIJKE RIJKSPOLITIE, mit langen, am Sattel herunterbaumelnden Schlagstöcken aus Gummi, hält die Ordnung aufrecht, ohne Schwierigkeiten, die Zuschauer friedlich, die Rocker aus Hamburg, welche früher jeweils herübergeprescht kamen und das Fest mit Schlägereien durcheinanderbrachten, werden dieses Jahr nicht erwartet. Hundertvierzigtausend Zuschauer waren es 1975, etwas mehr wurden diesmal erwartet. Die ersten sind schon da, eine gewaltige Armada aus ganz Europa ist unterwegs, es werden schliesslich hunderttausend Maschinen sein, die ihre Nachtmusik im Städtchen Assen veranstalten, später sieht man sie aufgebockt in ungeheuren, glitzernden Massen auf einer quadratkilometergrossen Wiese. Die Rennmaschinen der Rennfahrer ziehen magnetisch die Serienmaschinen der Strassenfahrer nach Assen, ein grosser Sog ist entstanden, und die Kawasakis, Hondas, bmw, Ducatis, Laverdas, Nortons, Harleys, Yamahas konnten nicht widerstehen, es sieht aus, wie wenn sie selbsttätig zusammengeströmt wären, alle Maschinen Europas, mit Vier-in-eins-Auspuffanlagen, die bei schlankem, unnachahmlichem Styling das Drehmoment verbessern, kraftvolle Beschleunigung und dynamisches Spurtvermögen, elastisch, ruckfrei, leiser Lauf und sichere Handlichkeit. Chrom und Leder, Auspuffe wie Orgelpfeifen bei der sechszylindrigen Benelli, gewaltige Verschalungen, Abänderungen, Frisierungen.

Aus Schweden und Italien, Deutschland und Frankreich, aus Dänemark und Luxembourg und der Schweiz sind sie herbeigeritten, viele mit ihrem Mädchen im Sattel, und tauschen Erfahrungen aus. Wie hast du es mit der 1000er-Honda? Solid, aber ein bisschen schwerfällig in der Kurve. Und die 1000er-Laverda? Unerhörtes Spurtvermögen, aber weniger solid, reparaturanfällig. Welche Verbesserungen bringt die Vier-in-eins-Auspuffanlage bei der Siebenhundertfünfziger-Honda gegenüber dem normalen, vierfach geführten Auspuff?

Aus Osnabrück ein ganzer Motorradklub, Arbeiter, Techniker, Handwerker, die gehen immer zusammen auf Reise, letztes Jahr waren sie im hohen Norden, einer von ihnen folgt im VW-Bus, dort sind alle Ersatzteile und das Campingmaterial. Der Moto-Club Lägern ist auch hier, von denen geht keiner ins Bett heut nacht, um 4 Uhr wollen sie schon an der Abschrankung stehen, für einen guten Platz. Die meisten blutjunge Geschöpfe um die Zwanzig, aber auch ehrwürdige Leute; der Hausi aus Aarau mit dem grauen Bart, ein Rentner auf bmw 650, ist die Autobahn von Basel heruntergekommen, hat eine gute Zeit herausgefahren. Wie die Kreuzfahrer ins Heilige Land sind sie nach ihrem sakralen Rennort unterwegs gewesen, Richard Löwenherz auf Kawasaki, Gottfried von Bouillon auf Laverda, auf den Strassen der Niederlande haben sie die andern Maschinen mit leicht majestätischer Handbewegung gegrüsst, die niederen Kubik grüssen zuerst, die höheren grüssen zurück, einige kommen aus Flandern oder der Lombardei. Manche haben blaugemacht und Geld gepumpt und andere Schwierigkeiten bewältigt und kommen buntgefärbt in ihren polychromen Helmen, eine glühbunte Prozession, anzusehen wie ambulante Ostereier, in das beschauliche Städtchen hineingeschletzt und geben dort mit ihren Motoren ein Konzert, das die Scheiben der holländischen Stuben klirren lässt, und morgen werden sie den grossen Tag haben.