Grosse Tiere

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Grosse Tiere
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Über dieses Buch



Sie machten Furore, die Reportagen Meienbergs, erregten Aufsehen, wurden viel gelesen und diskutiert. Sie waren genau recherchiert, dramaturgisch sorgfältig gebaut und brillant geschrieben, ihr streitlustiges Engagement fuhr wie ein frischer Wind in den prätentiös-bildungsbürgerlichen Mief der Feuilletons, und bis heute haben sie ihre Frische bewahrt.



Der Inhalt dieses E-Books entspricht dem Kapitel «Grosse Tiere» aus Band 2 der Reportagen, ausgewählt und zusammengestellt von Marianne Fehr, Erwin Künzli und Jürg Zimmerli, Limmat Verlag, Zürich 2000:



Einen schön durchlauchten Geburtstag für S. Durchlaucht!



O wê, der babest ist ze junc/Hilf, here, diner Kristenheit



Gespräche mit Broger und Eindrücke aus den Voralpen



Sprechstunde bei Dr. Hansweh Kopp



In Hüttwilen



Jagdgespräch unter Tieren



Ein gravierender Fall



Offener Brief an den frisch verstorbenen Charles De Gaulle



Der traditionelle Neujahresempfang



Sexaloiten



Der restaurierte Palast



Denn alles Fleisch vergeht wie Gras



Apocalypse now im Berner Oberland









Foto Roland Gretler



Niklaus Meienberg (1940–1993), Historiker, Schriftsteller und Journalist. Er erfand die Reportage neu und dichtete ungeniert mit dem überlieferten Material europäischer Lyrik. Mit seinen Texten zur Zeitgeschichte war er ein grosser Streiter, dessen «Sprachgewalt» auch seine Feinde bewunderten. Wie kein zweiter hat sich Niklaus Meienberg der Öffentlichkeit ausgesetzt, seine ganze Person hat er in seine Texte eingebracht, und mit seiner ganzen Person ist er für sie eingestanden.




Niklaus Meienberg



Grosse Tiere



Ausgewählt und zusammengestellt von Marianne Fehr, Erwin Künzli und Jürg Zimmerli



Limmat Verlag



Zürich




Einen schön durchlauchten Geburtstag für S. Durchlaucht!



Der Fürst von Liechtenstein, Franz Josef II., ist siebzig Jahre alt g’word’n. Das kann jedem passieren. Manche sind in diesem Alter etwas tattrig, andre etwas flattrig. Der Fürst von Liechtenstein jedoch, in bemerkenswerter geistiger Frische und umgeben von seinen Kunstschätzen und auch seinem Volk, ist beneidenswert gut erhalten. Er geht beneidenswert-bemerkenswert rüstig in sein achtes Jahrzehnt, er ältelt und gräuelet nur wenig und wird seinem Volk noch lang erhalten bleiben, Gott erhalte Franz den Fürsten. Auf den Fotos, die zum feierlichen Anlass ausgegraben wurden, sieht man einen Franz Josef II. von anno 1938, der damals schon ganz genauso aussah wie heute, derselbige ehrwürdig-versonnene Landesvaterkopf unterm Zylinder, über die Brust ein Ordensband, der Fürst blieb im Zustand von 1938 erhalten wie tiefgefroren, Schnauz, Lächeln, Ehefrau: Alles ist noch da.



Was erhält den Fürsten so jung? Er hat es dem Historiker Golo Mann, der einen ebenso zeitlosen Kopf besitzt wie der Fürst, verraten (exklusiver «Weltwoche»-Report bzw. Interview vom 4. August): Es sind das Elixier der Macht und der Umgang mit den Grossmächtigen dieser Welt. Ein veritabler Jungbrunnen für Franz Josef II.! Nun kommt es nicht oft vor, dass ein Fürst von einem Geistes-Fürsten so schmuck befragt wird wie in diesem Interview und dass er so hübsch auspackt; und noch seltener dürfte es wohl sein, dass ein Historiker wie Golo Mann, immerhin auch nicht aus schlechtem Haus, so untertänig Fragen stellt (fast wie ein Landeskind bei der Audienz) und so deutlich seine politischen Ansichten enthüllt. Golo Mann gibt Antworten, indem er fragt. Man weiss jetzt, wenn man es noch nicht wusste, wie stark seine republikanischen Überzeugungen verwurzelt sind. Der Grossbürger spielt Pingpong mit dem Aristokraten, und siehe da: Es war eine prästabilierte Harmonie in der Luft.



«Durchlaucht, 70 Jahre sind ja nach modernen Begriffen kein hohes Lebensalter», fängt das Duett an. Immerhin so hoch, dass sich Franz Josef II. noch an Franz Joseph, Kaiser von Österreich-Ungarn, erinnern kann. Was für ein gütiger Herr! «Da ist mir die Erinnerung geblieben an seine Augen, erstaunlicherweise nicht an seinen Bart. Es ist interessant, dass mir als Kind nicht der Bart den grössten Eindruck gemacht hat.»



Den Völkern der weiland Donaumonarchie haben weder Bart noch Augen den grössten Eindruck gemacht, sondern die unbegrenzte Unterdrückungslust des versteinerten Monarchen, der weder das demokratische noch das Nationalitätenprinzip anerkennen wollte und die Herrschaft der adligen Grossgrundbesitzer, der Hochfinanz und der Pfaffen mit seinem Gottesgnadentum verbrämte. Die Fürsten von Liechtenstein, steinreich und mächtig, waren eine der führenden Familien in diesem sklerotischen Kasten- und Klassenstaat, der rückwirkend von Sissi-Filmen und Historikern wie G. Mann verklärt wird: Grossgrundbesitzer in Böhmen-Mähren (und auch in Schlesien), und «trotz der sogenannten Bodenreform (nach dem Ersten Weltkrieg) waren uns 65'000 Hektar Land geblieben, davon vielleicht 3000 Hektar Landwirtschaft, und der Rest war Wald. Der Wald hat mich immer interessiert.» Die junge tschechoslowakische Republik hat einiges von diesem adligen Boden verstaatlicht, das war die «sogenannte Bodenreform». Einfach den Adligen ein Stück von ihrem Land wegnehmen, pfui, und der Fam. Liechtenstein nur noch fünfundsechzigtausend Hektar lassen! «Bei uns in der Tschechoslowakei, da gab es doch eine ziemliche Hetze gegen den Adel, besonders von der Gruppe um Benesch, der ja immer noch so gefeiert wird im Westen …» Darauf Golo Mann: «… Nicht von mir!»



Allerdings. Der republikanische Staatsmann Benesch und die Republik überhaupt sind diesem G. Mann recht suspekt, er feiert sie keineswegs, sie sind ihm suspekter als die Donaumonarchie. Armer Fürst! Musste S. Durchlaucht doch mit den eigenen höchstselbigen durchlauchten Augen eine Arbeiterrevolte in Wien sehen: «Da habe ich von den Unruhen gehört, und weil meine Grossmutter und meine Tante in Wien waren, bin ich dann gleich zu Fuss zu ihnen geeilt. Auf der Strasse sind mir dann bald die Taxameter entgegengekommen, mit flüchtenden Leuten darin, mit eingerollten Fahnen dabei, aber das waren doch eher Leute, die kaum österreichisch ausgesehen haben. Da waren fremde Agitatoren dabei …»



Russen? Chinesen? Schweizer?



An die österreichische Republik hat S. Durchlaucht damals nie so richtig geglaubt, kein Wunder, er wusste genau, wie heftig sie von Adel (dem Grafen Starhemberg und anderen) und Bürgertum bekämpft wurde: lauter republikfremde Agitatoren. «Im Gegensatz zu vielen meiner Bekannten, gerade auch vom Adel, habe ich die Erste Republik stets als unstabil klassifiziert», und gehorsam ist sie dann auch untergegangen, jedoch Fam. Liechtenstein blieb stabil und erinnerte sich an ein vernachlässigtes Besitztum im «fernen Westen», nämlich eben das heutige Liechtenstein, und schlug dort, wo sonst früher nur die Sommerfrische verlebt wurde, Wurzeln. Und trat von dort aus den Mächtigen mit steifem Selbstbewusstsein entgegen. Da gab es diesen Hitler, den Emporkömmling, dem hat es Franz Josef II. besonders deutlich gezeigt, bei einem Staatsbesuch in Berlin: «Er war sehr verlegen. Ein ganz winziges Männchen, so wie der Dollfuss in der Grösse, er hat mir nur bis zur Brust gereicht.» Den Hitler hat vermutlich die Angst vor der liechtensteinischen Wehrmacht so klein gemacht, drum hat er nicht annektiert seinerzeit, und das lässige Auftreten der hochgewachsenen Durchlaucht hat ihn zusätzlich eingeschüchtert: Hitler hat bekanntlich nie Länder angegriffen, deren Lenker ihn körperbaumässig überragten: «Meinen Regierungschef Dr. Hoop habe ich (während des Staatsbesuchs) nicht mehr anschauen können, so habe ich mit dem Lachen kämpfen müssen, da ich bemerkte, dass auch Dr. Hoop Hitler nicht für voll nahm.» Ein Hitler zum Ausstopfen, den man «wie einen Affen im Käfig betrachtet», ein stadtbekannter Witzbold, den die Herrschaften sich leicht amüsiert vorführen lassen. Küss die Hand, gnä’ Fürst.



Der Besuch bei de Gaulle war schon standesgemässer, der Präsident hat sich sehr zusammengenommen und etwas auf die Zehenspitzen gestellt, die beiden waren dann etwa gleich gross: «Ich habe mich mit ihm sehr gut unterhalten, und es wurde mir mitgeteilt, dass damals selten ein Besuch im Elysée in so herzlicher, gelöster Atmosphäre verlaufen sei. De Gaulle war überhaupt nicht steif oder formell.» Hier müssen wir dem Fürsten unbedingt Glauben schenken, nach all den anstrengenden Besuchen von wirklichen Potentaten, wie Nixon usw., wird sich der alte Steinbeisser im Elysée enorm gefreut haben, mit dem Operettenprinzen ein Stündlein unverbindlich zu schäkern. Oder wollte de Gaulle vielleicht Steuerflucht betreiben, sein Geld nach Liechtenstein transferieren, sah er das Ende seiner Herrschaft voraus? «Übrigens war er über Liechtenstein ausgezeichnet informiert. Ich habe mich mit ihm sehr gut unterhalten.»



Auch Papst Pius XII. hat ihm einen «überragenden Eindruck gemacht», obwohl er ihn «nur fünf- oder sechsmal gesehen hatte». Nur! Ein paar Amulette gefällig für die Frau Gemahlin? Ein päpstlicher Segen für den fürstlichen Nachwuchs? Ein kleiner Bannstrahl gegen den gottlosen Kommunismus, der den Liechtensteins nun endgültig die letzten Hektare in der Tschechoslowakei weggenommen hat? «Unser ganzer Besitz wurde enteignet. Man glaubte, die Wahlen würden die Kommunisten wieder hinwegfegen, aber es ist ja dann anders gekommen.» Golo Mann trauert mit dem Fürsten: «1945 muss ja dann eine sehr schwere Zeit gewesen sein für das Haus Liechtenstein durch die Eroberung Ostmitteleuropas durch die Russen!» Gott sei Dank hat er jetzt noch diesen kleinen Besitz an der Schweizer Grenze, und dann «der stürmische Aufschwung auf dem Wirtschaftssektor», das heisst das Paradies für Steuerhinterzieher aus der ganzen Welt, und dann die fürstlich-liechtensteinische Bildersammlung. Nur zufällig ist der Fürst nicht selber Maler geworden, er war mit Staatsgeschäften überhäuft. «Haben Sie je gezeichnet?» fragt ihn G. Mann, und der Fürst darauf wehmütig: «Ja, aber ich komme leider nur wenig dazu. Ich habe sogar Zeichenunterricht genommen. Ich stamme, über die Braganza, Löwenstein und die Holländer, von Velasquez ab. Der ist auf meiner Ahnentafel.»

 



Das dreiseitige Gespräch, welches der letzte freilebende Hofhistoriker mit der letzten ambulanten Reliquie der Donaumonarchie führte und das nicht etwa auf der Witzseite des blauen Wochenblatts, sondern unter der Rubrik «Weltwoche-Report» publiziert wurde, klingt philosophisch aus. «Welche Eigenschaften des Menschen würden Sie als die schädlichsten ansehen?» fragt Chefreporter Golo Mann abschliessend den Fürsten auf dem Gampiross, und dieser schürft nochmals ganz tief: «Ich finde, das Schädlichste ist, nur an sich selbst zu denken. Daraus folgen dann leicht Neid, Egoismus, Missgunst, und daraus entsteht dann viel Unheil.»



Prägnanter kann man den europäischen Hochadel nicht charakterisieren.



PS I: Heftige Glückwünsche für das Manuskript gekriegt. Arthur Meyer, Inlandredaktor, nimmt’s entgegen, fällt dem Schreibenden sozusagen fast um den Hals: «Einen schönen Artikel hast Du geschrieben! Stimmt alles genau!» Auch Verena Thalmann, Toni Lienhard, Hans Tschäni lassen gratulieren, das sei fällig gewesen, nachdem sich die ganze schw. Presse in Untertänigkeit diesem Franz Joseph zu Füssen geworfen habe, zum Geburtstag.



Nach der Publikation weniger Glückwünsche. Tschäni entschuldigt sich brieflich bei den 35 Liechtensteinern, die den «Tages-Anzeiger» vorübergehend abbestellt haben. Die Zeitung hat 250'000 Auflage. Da die Schwester des Verlegers Coninx in Vaduz wohnt und periodisch zum Thee ins Schloss geladen wird, aber nicht mehr nach diesem Artikel, und sich ihr Bruder Otto, als Zeitungs-Fürst, betroffen fühlt (wie Max Frisch sagte: «Damit hast du gleich drei Dynastien getroffen, Mann-Liechtenstein-Coninx»), wird der Schreibende wie ein räudiger Hund zum Teufel gejagt bzw. im Blatt, dem er fünf Jahre gedient hatte, öffentlich hingerichtet mit einer Notiz der Geschäftsleitung. Der Artikel über den Fürsten v. L. im «Tages-Anzeiger« hatte den «Tages-Anzeiger» als Fürstentum entlarvt.



Den Redaktoren, die den Artikel unredigiert ins Blatt genommen haben, passiert nichts. Arthur Meyer ist heute Korrespondent des ta in Wien, Lienhard in Washington, Tschäni in Ehren pensioniert, Thalmann im Inland.



Vom Schreibenden erwartet heute der «Tages-Anzeiger», dass er sich dem «Tages-Anzeiger» gegenüber, wo er immer noch Schreibverbot hat, ruhig und besonnen verhalte.



PS II: Diesen Artikel widmet der Schreibende après coup (post festum): Maximilien Robespierre, c/o Comité du Salut Public, au fond de la cour à gauche, Paris 2e.




O wê, der babest ist ze juncHilf, herre, diner Kristenheit*

Eine übernatürliche Reportage oder noch ein Beitrag zur Realismusdebatte



Pfingst-Dienstag, 08.35, * Stoss-Seufzer des Walther von der Vogelweide, als der 37jährige Lothar dei Conti zum Papst gewählt wurde (Innozenz III.). In Anlehnung an den Dichter könnte man von Wojtyla sagen, dass er vielleicht nicht ze junc, aber ze robust und ze unangelkränkelt sei von jedem Zweifel. Flughafen Kloten, Zuschauer­ter­ras­se. Zwei Tage nach dem Heiligen Geist wird der Heilige Vater erwartet. Er ist jetzt noch in der Luft, sieht die Berge von oben; blättert ein wenig im Brevier; nippt an einer BLOODY MARY – andern Quellen zufolge an jenem mit polnischem Wodka geläuterten Tomatensaft, welchen ihm sonst die polnische Nonne Kathinka regelmässig zum vatikanischen Mittagessen kredenzt –, findet eine hilfreiche Stelle im Brevier: DOMINE AD ADJUVANDUM ME FESTINA, Herr, eile mir zur Hilfe; findet noch eine weitere Stelle: SUPER ASPIDEM ET BASILISCUM AMBULABIS ET CONCULCABIS LEONEM ET DRACONEM, über Schlangen und Basilisken wirst Du schreiten und zermalmen den Löwen und den Drachen, und die Stellen kann er brauchen, denn die christlichen Politiker warten im ganzen Land auf SEINEN Besuch und wollen sich in SEINEM Glanze sonnen und SEINE geistlichen Kraftströme auf ihre weltliche Mühle lenken. Wyer wird ihn empfangen, das überragende walliserische Schlitzohr, auch Furgler, Egli, Schürmann, Wiederkehr, Cottier – die geballte politische Unchristlichkeit.



Der Papst seufzt. Er hat kurz nach dem Abflug in Rom/Fiumicino in den Reden geblättert, die er spontan überall in der Schweiz halten wird. Er weiss jetzt schon, dass ihm die Freiburger Jugend «ernsthafte Fragen», die er noch nicht gehört hat, stellen wird, und hat die Antworten darauf sicherheitshalber bereits in Rom formuliert. Im Frachtraum der päpstlichen Al-Italia-Maschine liegen ein paar hundert Kilo hektographierte Papstreden bereit, dt. frz. engl. span. ital., die werden in den verschiedenen Pressezentren entlang der päpstlichen Route in schönster Auslegeordnung zu finden sein. Über der Lombardei hatte der Papst einen Lachanfall. Eine Ansprache, die er vor kurzem den Papuas in Neuguinea gehalten hat, war durch ein Versehen seines Sekretärs in das schweizerische Reden-Konvolut geraten, und zwar an jener Stelle, wo der Bundesrat im Landgut Lohn begrüsst werden sollte – «Und so entbiete ich denn Eurer alten Stammeskultur, Euren Speeren und Schildern, Euren prächtigen Bemalungen und Eurer unangekränkelten Urwüchsigkeit meinen brüderlichen Gruss.» (Applaus.)



Unterdessen in Einsiedeln –



«Schweissgebadet kam der bekannte Telefönler Franz Lüönd, Rothenthurm, am Mittwoch ins Dorfzentrum. Eben habe er eine Arbeit erledigt, die er noch nie gemacht und auch nie wieder tun werde: Er habe für den Papst in dessen Zimmer im Kloster das Telefon eingerichtet. Mit dem grauen Tastapparat kann der Papst direkt nach Rom telefonieren! Er besitzt eine Nummer, die noch niemand hatte. Aber von draussen kann man den Papst nicht direkt erreichen, der Anruf geht über die Zentrale des Klosters. Sichtlich ergriffen schilderte der FKD-Betriebsmeister sein Erlebnis: Das Zimmer des Papstes sei sehr einfach, ein ganz normales Bett und eine praktische Waschvorrichtung ohne jeden Pomp stehen dem Gast zur Verfügung. (…)



Zwar drücke die Verantwortung, die auf ihm laste, schon ziemlich stark. Aber es sei doch ein einmaliges Erlebnis, wenn er denken könne, nun telefoniert der Papst mit meinem Telefon! Hoffen wir für den rührigen Telefönler, dass alles ohne Panne abläuft!» (EINSIEDLER ANZEIGER vom 15.6.84)



Flughafen Kloten, 08.46, Zuschauerterrasse, Herr Cahannes von der Kirchenpflege Opfikon/Glattbrugg ist mit seinem Feldstecher, den er sonst ausschliesslich für die Jagd in Graubünden benützt, erschienen. In ca. 400 Meter Entfernung scharrt ungeduldig das Empfangskomitee. Vorn am roten Teppich die zürcherische Regierung, deutlich erkennbar der borstige Wiederkehr (cvp), der unter Papst Pius XII. und Johannes XXIII. in Disentis geformt und unter Papst Paul VI. zum Regierungsrat gewählt worden war. Dann ist der rote Teppich kurz unterbrochen, ein wenig Flughafenboden scheint hervor, den wird der Papst dann küssen, schmeckt er nach Esso- oder Shell-Flugbenzin?, dann kommen die Bischöfe mit ihrem Gruss, und hinten rechts steht ein Rednerpültchen, dort wird der Papst den Gegengruss entbieten, nachdem er von Bundespräsident Schlumpf begrüsst worden ist. Jetzt werden von italienisch sprechenden Männern zahlreiche Fähnchen in den vatikanischen Farben auf der Zuschauerterrasse verteilt, damit wird gewedelt, sobald die päpstliche Maschine in Erscheinung tritt. Die fährt in einem grossen Bogen zum roten Teppich, und zwar dergestalt, dass den Zuschauern auf der Terrasse der Anblick des aussteigenden Papstes nun jählings entzogen wird. Das Fernsehen und die Journalisten und die Prominenten sind so postiert, dass sie die feierliche Seite der päpstlichen Maschine sehen können, den Zuschauern auf der Terrasse bleibt der Blick auf die Logistik: Kisten und Gerätschaften werden aus dem Bauch der Maschine entladen, Tausende von Medaillen, Rosenkränze, die päpstliche Garderobe sind darin enthalten, Kelche und was es noch braucht. Ein ganz beträchtliches Frachtgut! Eine grosse Geschäftigkeit! Herr Cahannes ist enttäuscht, er hat den Papst nur kurz im Fadenkreuz gehabt. Dessen Stimme zittert jetzt über die Piste. Die Verstärkeranlage ist weniger gut als jene in Fribourg, welche für 38'000 Franken bei der Scientology-Sekte gemietet worden ist. Fluglärm und Musik.



Unteressen in Einsiedeln –



«Dass die vielen teuren, technischen Apparate und Installationen wie auch das ganze Innenleben des Dorfzentrums bewacht werden müssen, ist klar. Die Securitas hat die nicht leichte Aufgabe übernommen und garantiert mit Mann, Funk und Hund für optimale Sicherheit. Sämtliche Notausgänge sind verschlossen, jedoch so, dass sie im Brandfall leicht geöffnet werden könnten. Alp-Jösy als alter Fuchs bei der Securitas hat seine Augen überall und war massgebend beim Überwachungskonzept beteiligt. Nach menschlichem Ermessen ist also für alles vorgesorgt.» (EINSIEDLER ANZEIGER, 15.6.84)



Pfingst-Dienstag, 22.20, Fribourg. Der Papst ist in dieser bemerkenswerten Stadt angesagt; hat vermutlich von ihrer Schönheit gehört. Anstatt direkt von Zürich nach Fribourg zu reisen, macht er einen zeit- und kräfteraubenden Umweg über Lugano und Genf, wo ihm von den Neugläubigen eine Pendule geschenkt wird, und über Lausanne, wo ihm nochmals eine Pendule geschenkt wird (von der Regierung). Die letzte Uhr wird ihm später in der Klosterkirche Einsiedeln geschenkt werden, es ist eine Gabe der Firma Landis & Gyr; mit der Inschrift: ZEIT IST GNADE. Die buchstäblich Hunderte von Gaben, die dem Papst dargeboten werden, Käse, Edelweiss, Absinth und Bücher, nimmt dieser selbst in Empfang, reicht sie dann fast unbesehen seinem Truchsess weiter, der sie dem Mundschenk weiterreicht, der sie dem Leibarzt überreicht; während die symbolischen Präsente, die der Papst verschenkt, auf einen je nach Geschenk anders modulierten Pfiff des Papstes, einen murmeltierartigen, nur den Eingeweihten vernehmbaren Pfiff, von drei andern Hofschranzen an den Papst weitergereicht werden, der sie dann eigenhändig übergibt. (Vollautomatische Rosenkränze, irisiernde Medaillen etc.) Von seiner Hand reicht er den Schüttelnden, wie man in Fribourg gut beobachten konnte, zwecks Schonung nur den vordersten Teil, etwa einen Drittel, also die beiden ersten vier Fingerglieder der rechten Hand, während er nicht selten mit dem Handballen seiner linken Hand etwas väterlich über den Handrücken seines Händeschlagpartners fährt. Kinder streichelt er sowohl übers Haar wie auch direkt am Gesicht, dieses meist von oben nach unten. Küsse werden auf dem Haar der kleinen Gläubigen angebracht, manchmal auch auf Stirn und Wangen (immer tonlos). Von den Männern haben nur die Kleriker Anrecht auf den Bruderkuss; bei diesen aber nicht nur die Römisch-Katholischen, sondern auch die Griechisch-Orthodoxen, Kopten, Russisch-Orthodoxen, Maroniten, Eremiten, Leviten, Styliten, Anachoreten, Zoenobiten. Die Frauen werden, in kussmässiger Hinsicht, wie Kinder behandelt, ein väterlicher Schmatzer auf die Stirn, ein schnelles Übers-Haar-Streicheln.



Um 22.25 ist er im Salonwagen angekommen, auf Perron 1. Vom frei zugänglichen Perron 2 aus, wo sich im Moment der Ankunft keine Polizei befand, hätte man ohne Schwierigkeit ein Attentat unternehmen können, um so mehr, als die ganze Bahnhofbeleuchtung gerade rechtzeitig aussetzte. Welche Schande für Fribourg wäre das gewesen: ein toter Papst auf Perron 1. Die Regierung des Kts. Fribourg, die ihn begrüsst hatte, wird begrüsst. Der Papst spricht ein leidliches Franzesisch mit einem hart rollenden r, auch sein Deutsch ist passabel, er pflegt auf polnische Art das ö durch ein e zu ersetzen: Erlese uns von dem Besen. Italienisch soll er auch kennen, dazu etwas Englisch und Lateinisch. Unter den Begrüssenden war Regierungsrat Marius Cottier, der begabte Mirage-Pilot. Er ist Chef der Erziehungsdirektion, und als Cottiers hervorstechendste Eigenschaft wurde von seiner Partei (cvp) während der Wahlkampagne die Tatsache erwähnt, dass er Mirage-Pilot gewesen sei. Ein bekannter Christ und Familienvater. Er hat mit mir in Fribourg studiert, war, wie ich, in einem philosophisch-theologischen Club, den Hans-Urs von Balthasar inspirierte. Was für eine liebe Schlafmütze ist Marius doch immer gewesen! Überall während dieser Reportage die Hände meiner ehemaligen Gschpänli, Regierungsratshände, die von Wiederkehr in Kloten, die von Cottier in Fribourg: die haben Anrecht auf eine Knetung durch den Papst. Nachdem die Regierung begrüsst war, winkte der Heilige Vater oder très Saint Père, wie sie in Fribourg sagten, vom erhöhten Perron 1, eingerahmt durch die Inschriften LA GENEVOISE ASSURANCE und BUFFET PREMIERE CLASSE, dem Volk zu und formte seine Hände zu einem Trichter und rief dem Volk etwas zu, während einige ultramontane Schreihälse immer wieder HALLELUJAH! HALLELUJAH! krähten. Dann preschte die stattliche Wagenkolonne hinauf ins stacheldrahtgeschützte, von Hund und Mann und Funk bewachte, verbunkerte, hochsicherheitstraktmässig geschützte Priesterseminar; wo der Stellvertreter Christi – wieviel Polizei hatte der Religionsgründer bei seinem Einzug in Jerusalem gebraucht? – neuen Händeschüttelungen ausgesetzt und dann nach der Einnahme eines leichten Abendmahls (Fondue Moitié Vacherin, Moitié Gruyère) und dem Aufsagen des kirchlichen Nachtgebets TE LUCIS ANTE TERMINUM/RERUM CREATOR POSCIMUS und der Verabfolgung eines Bruderkusses durch den vampirhaft dreinschauenden Bischof Mamie in den kurz bemessenen Schlaf sank. (Die letzen Worte von Bischof Mamie am Abend des 12. Juni waren: Dormez bien, très Saint Père; die letzten Worte des Papstes: Et vous aussi, cher frère, et soyez prudent avec votre Saugtherapie.)

 



*



Am andern Morgen ging es zeitig aus den Federn (05.30). Nach einer kurzen Waschung (kalt) und einer Anrufung der Vereinigten Müttergottes von Tschenstochau & Einsiedeln wurde, wie jeden Tag, dem Brevier gefrönt. (DOMINE AD ADJUVANDUM ME FESTINA). Dann Gabelfrühstück; reichlich Aufschnitt, Eier, spanische Nierchen, Hafermus, Corn Flakes, kaltes Poulet, Ovomaltine (heiss), Gruyère, Vacherin, Butter, dazu Vollkornbrot und, von den Berner Katholiken dargereicht, Berner Züpfe (aus Kemmeribodenbad). Morgens isst der Papst, so darf man wohl sagen, immer wie ein polnischer Drescher.



Dann ab in die Kathedrale Saint Nicolas zur Begrüssung des Domkapitels (08.00) und schon um 8.30 hinübergesaust in die benachbarte Kirche der Cordeliers, wo ein Kastratenchor den Papst begrüsst. Kastraten sind eine alte römisch-päpstliche Spezialität. Die Päpste hatten jahrhundertelang etliche von den sangeswilligen, singbegabten Untertanen noch vor dem Stimmbruch kastrieren lassen, damit sie ihre schönen Sopranstimmen das ganze Leben lang behalten konnten; und in Fribourg, dem päpstlich gesinnten, hat sich dieser Brauch insofern erhalten, als jedes Jahr, seit dem Attentat auf den Papst, eine Anzahl von besonders idealistisch gesinnten Vätern ihre Söhne verschneiden lassen, um dem Papst ihre spezielle Wertschätzung auszudrücken. Diese ödipal konstellierte Opfergabe, welche in ihrer gemilderten Form auch als Zölibat, d.h. freiwillige Ehelosigkeit bei weiterbestehender Zeugungsfähigkeit, auftritt, soll dem Vernehmen nach von Johannes Paul II. besonders geschätzt werden.



09.30 sodann Fahrt im Papamobil zur Universität. Das Papamobil ist ein umgebauter Range Rover, den hintern Teil bildet so etwas wie ein senkrecht stehender, gläserner Sarg oder Reliquienschrein, wohinein der Papst sich nun begibt, damit er, als eine Statue, dem Volk vorgeführt werden kann, hinter schusssicherem Glas. Zwei Seitenfenster stehen offen, damit er winken kann. Neben dem Papst stehen links und rechts zwei Prälaten, die auch ins Volk hinaus winken, obwohl ihnen niemand gewinkt hat. So geht es nun hinauf zur Universität, unter begeisterten Vivats und Acclamationen des Volkes. Das Papamobil ermöglicht eine optimale Zurschaustellung des Nachfolgers Christi. Der Papst besetzt sein Territorium, der ist hier ganz zu Hause, mehr als im heidnischen Rom. Wie kleidsam doch seine weisse Soutane mit dem papstwappenverzierten Zingulum wirkt. So freundlich, ein angenehmer Kopf, und schöne Bewegungen macht er mit seinen Händen, gleich wird er eine Handvoll Bonbons aus den Fenstern werfen (sogenannte Feuersteine).



Leut-Selig, das ist er. Und wegen der Rede, die er jetzt sofort im Hof der Universität halten wird, mussten für 26'000 Franken neue Schlösser an sämtlichen Türen der Universitätsräumlichkeiten angebracht werden, weil nämlich einige Nachschlüssel im Laufe der Jahre verlorengegangen waren und die Polizei damit rechnete, dass der Attentäter mit traumwandlerischer Sicherheit einen dieser Schlüssel hätte behändigt haben können –. Und dann mit dem Zielfernrohr aus dem germanistischen Seminar –. Im grossen Hof der Universität waren etwa 500 Leute, davon 150 Journalisten, fast keine Studenten, wenig Professoren versammelt. Der Papst erzählt langfädig einen Mummenschanz, abgestandene neoscholastische Spekulationen: dass Wissenschaft und Glaube kein Widerspruch seien; dass der Glaube die Wissenschaft befruchte etc. Die Rede ist wirklich keine 26'000 Franken wert, und solche Sprechblasen hat man an dieser Uni jahrzehntelang von einfachen domin