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Nicole Siller
Finde deine
Lust!
Das Praxisbuch für weibliche Sexualität


Ich wähle hier die klassische (und nicht gendergerechte) Form des Schreibens – einfach, weil es leichter zu lesen ist.

STYRIA

BUCHVERLAGE

Wien – Graz

© 2019 by Kneipp Verlag

in der Verlagsgruppe Styria GmbH & Co KG

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-9904-0582-6

Bücher des Kneipp Verlages gibt es in jeder Buchhandlung und unter www.kneippverlag.com

www.facebook.com/KneippVerlagWien

Illustrationen:

iStock by Getty Images: Cover (lila-es), S. 53 (sudowoodo), S. 82-83 (NLshop), S. 154-155 (NLshop), S. 187 (professorphotoshop), S. 191 (NLshop)

Ilona Braune: alle anderen Illustrationen

Autorenfoto (U4): Mirjam Reither

Cover: Oskar Kubinecz, Emanuel Mauthe

Layout und Buchgestaltung: Sebastian Carl

Lektorat: Kneipp Verlag

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt

Inhalt

Einleitung

Ein Streifzug durch die Vergangenheit der weiblichen Sexualität

Frauen und Sexualität heute

Den Frauenkörper verstehen: Gesundheit, Entwicklung, Anatomie

Fakten über die weiblichen Geschlechtsorgane

Wie wir ticken: Glaubenssätze, innere Regeln, Werte, Schuld, Scham

Sichtweise, Entscheidung, Haltung, Fokus

Bedürfnisse, Begehren – die Entscheidung für die Lust am Sex

PRAXISTEIL

Für Ihre sexuelle Persönlichkeitsentwicklung und -entfaltung

Bestandsaufnahme: Wie Sie in fünf Tagen erkunden, wo Sie stehen

Von der Lustlosigkeit zur sinnlichen Wahrnehmung: Eine Anregung und fünf Forschungsaufträge

Was denken Sie über Ihren Körper und über Sex? Sechs Anregungen für frische Einsichten

Orgasmus gestalten und genießen: Zwölf Anregungen für einen erhebenden Höhepunkt

Verführung, Inszenierung, Phantasie: Elf Anregungen für Singles und Paare (und eine Extra-Anregung)

Quellen

Danksagung

Einleitung

Wenn Sie diese Zeilen lesen, kann es gut sein, dass Sie sich gerade jetzt intensiver mit Lust, Sinnlichkeit und Ihrer Sexualität befassen wollen – und genau um diese Themen geht es hier in diesem Buch. Es streift kurz die „Entwicklungsgeschichte unserer Sexualität“, beleuchtet, welche Mythen damit noch immer verbunden sind, vermittelt Wissen und bringt Anregungen für die Praxis: Ich möchte mit Ihnen eine Vision entwerfen, die Sie anregt, im Sinne Ihrer eigenen Bedürfnisse zu agieren. Lassen Sie uns gemeinsam Ihre selbstbewusste, selbstverständliche, sinnliche Lust und Ihre Sexualität neu erkunden.

Es geht um Sie

Ich lade Sie ein, einen bewussteren, liebevolleren Blick auf Ihren Körper, auf Sie selbst, zu werfen. Lernen Sie die wichtigsten Fakten rund um Ihren Körper und Ihre sexuelle Gesundheit kennen. Lassen Sie sich inspirieren und mitnehmen zu mehr Freude und vielleicht sogar Begeisterung und Leidenschaft. Erkunden Sie neugierig die eigenen Gestaltungsspielräume, um Ihr Liebesleben wacher und lebendiger genießen zu können. Wenn Sie einen spielerischen Zugang zu Ihrer Sexualität entdeckt haben, werden Sie auch mutiger.

Dies ist ein Buch der Lebenslust. Entscheiden Sie, welche Anregungen Sie aufgreifen wollen. Manchmal braucht es ein bisschen Zeit, manchmal ist es nur ein einziger Schritt, den es für das Gelingen einer Veränderung braucht. Finden Sie heraus, was Sie benötigen, um Ihr eigenes Leben in neue Bahnen zu lenken und mehr Lebendigkeit zu verspüren – nicht um sich selbst zu „optimieren“, sondern um sich selbst mehr zu spüren und möglichst entspannt, sorgsam und liebevoll leben zu können. Nicht für die anderen. Für Sie. Wenn Sie für sich unterstützend und wohlwollend sorgen, geht es automatisch auch den anderen besser.

Setzen Sie sich mit Ihren – oft unbewussten – Glaubenssätzen und inneren Regeln auseinander. Wenn Sie diese erkennen, können Sie hinderliche Muster verändern oder loslassen. Finden Sie sinnliche und körperliche Anregungen, die Sie unterstützen können, Ihre wirklichen Bedürfnisse und Gefühle sowie Ihren Körper, wie er jetzt gerade ist, wieder intensiver und positiver wahrzunehmen.

Never too late

Zu Beginn einer Veränderung braucht es Erkennen und Mut. Wenn man bekannte Komfortzonen verlässt, kann es auch unbequem werden. Oft heißt es: Starten Sie jetzt, damit es am Ende gut wird. Wir wollen aber nicht auf ein Ende warten. Lebendige Sexualität verändert sich ein Leben lang, ob man will oder nicht – gestalten Sie Ihre eigene doch einfach mit. Es ist ein Weg, der niemals enden muss, auch wenn wir sicherlich mit 20, 50 oder 100 Jahren unterschiedliche Bedürfnisse haben.

Falls Sie schon ein paar Jahre Erfahrungen mit Ihrem Sexualleben sammeln durften: Können Sie sich noch erinnern, was Sie im Laufe Ihres Lebens alles erlebt haben, was Ihnen richtig gutgetan bzw. was Sie so richtig erregt hat? Haben Sie Ihre erotischen Träume schon vergessen oder haben Sie noch Kontakt zu den Bedürfnissen, die in Ihnen schlummern? Worauf warten Sie? Egal ob Sie in einer Beziehung sind oder gerade allein, mit diesem Buch können Sie in jedem Fall sich selbst und Ihrer Sinnlichkeit näherkommen.

Ihre körperlichen, psychischen und mentalen Möglichkeiten und Bedürfnisse ändern sich im Laufe des Lebens. So ist es auch mit der Sexualität. Nur weil wir mit Anfang 20 vielleicht richtig viel Spaß am Sex haben und vielleicht auch ganz selbstverständlich tolle Orgasmen genießen, heißt das noch nicht, dass uns mit 57 dieselben Spielvarianten glücklich machen. Nur weil wir mit 35 noch keinen lustvollen Sex genossen haben, vielleicht noch nie einen Orgasmus hatten, heißt das noch lange nicht, dass wir nicht mit 36 oder 80 den besten Sex unseres Lebens genießen können.

Vor kurzem erzählte mir eine Frau, ihre Mutter hätte sich nun, mit 78 Jahren, einen Liebhaber zugelegt und erzähle ihr ständig, ob sie es hören wolle oder nicht, sie hätte den besten Sex ihres Lebens.

So keep on dreaming and dancing, till you meet a person you like to play with.

Vielleicht haben Sie keine Lust auf Sex und sind frustriert, weil Sie nicht wissen, wie Sie diese wieder aktivieren können? Solche Phasen gibt es im Leben fast jeder Frau (fast jedes Menschen!) – ob nach einer Schwangerschaft oder durch eine Beziehungskrise, durch Stress, Hormonumstellungen oder aus ganz anderen bzw. keinen erkennbaren Gründen. Diese Phasen können kommen und sie dürfen wieder gehen, dafür können Sie einiges tun. Und zwar genau so intensiv und in dem Tempo, wie es für Sie persönlich passt.

Ein ganzes Leben lang

Unser Bedürfnis nach Sinnlichkeit und Sexualität ist natürlich angeboren, unsere Sexualentwicklung aber dauert ein ganzes Leben, wie auch immer unser individueller Weg verläuft. Dass wir uns sexuell stetig weiterentwickeln – bewusst oder unbewusst –, ist vielen Menschen jedoch ein fremder Gedanke. Sie haben zum Teil kaum vermittelt bekommen oder gelernt, dass Sexualität etwas Wunderschönes sein kann, viel mehr als ein mechanischer Akt der körperlichen Annäherung. In unserer Gesellschaft – und ihren Medien – wird schließlich hauptsächlich suggeriert, nur junge und schöne Menschen seien attraktiv, begehrenswert und damit sexuelle Wesen.

Fakt ist jedoch, dass wir von der Entstehung bis zum Ende unseres Lebens sexuelle Wesen sind – selbstverständlich mit unterschiedlichen Bedürfnissen, die mit Porno-Sex wenig bis nichts zu tun haben. Genuss und Sexualität sind nicht nur ein Grundbedürfnis wie Essen, Trinken, soziale Nähe und ein warmes Zuhause, sondern auch ein gar nicht so unwichtiger Faktor für Gesundheit.

 

Bereits 1975 hat die Weltgesundheitsorganisation WHO per Definition festgehalten, dass sexuelle Gesundheit untrennbar mit Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensqualität verbunden ist: Sexuelle Gesundheit ist ein Zustand des körperlichen, emotionalen, mentalen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf die Sexualität und nicht nur das Fehlen von Krankheit, Funktionsstörungen oder Gebrechen. Sie setzt eine positive und respektvolle Haltung zu Sexualität und sexuellen Beziehungen voraus sowie die Möglichkeit, angenehme und sichere sexuelle Erfahrungen zu machen, und zwar frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt. Sexuelle Gesundheit lässt sich nur erlangen und erhalten, wenn die sexuellen Rechte aller Menschen geachtet, geschützt und erfüllt werden. Selbstverständlich gilt diese Definition für alle Menschen dieser Erde, egal, welcher Kultur und Religion, welchen Geschlechts oder welcher Herkunft sie sind.

Sexualität „weiterdenken“

Oft ist die eigene Sexualität tabu, während uns das Thema Sex gleichzeitig an jeder Ecke anspringt. Viele von uns durften im Heranwachsen einfach wenig sexuell wert- und lustvolle Bildung oder den entsprechenden Raum dafür genießen. Zu viele Menschen geben sich mit eingelernten Gewohnheiten, Mustern und ihren Trieben zufrieden, zu viele verheddern sich in ihrer Angst oder Scham und bleiben darin verwickelt. Wenn auch Sie dort verharren möchten, dann legen Sie dieses Buch einfach weg, verschenken Sie es oder werfen Sie es in den Müll.

Sie lesen weiter? Schön, dann können Sie sich in diesem Buch einiges bieten lassen: Ich möchte Sie hier – als Frau oder als Mann, der Frauen liebt – inspirieren, sich mit Ihrer Lust und Ihrer Sexualität auf verschiedenen Ebenen zu befassen, egal ob Sie in einer Beziehung oder „single“ sind, ob Ihr Begehr Männer, Frauen oder beide Geschlechter sind. Lassen Sie sich anregen, Ihre persönlichen Gewohnheiten und Normen zu erkennen und falls es für Sie passt, „weiterzudenken“.

Für die meisten Menschen ist es schwer möglich, in ihrem gestressten oder recht gleichförmigen Dasein auch Ekstase, Hingabe, Sexualität zu leben. Diese melden sich ja nicht immer so dringlich wie Hunger, Durst oder das Bedürfnis, zu schlafen. Sexualität ist nicht lebensnotwendig, die Lust darauf kann einfach einschlafen. Da heißt es also loszugehen – weg vom alltäglichen Funktionieren, von den Mythen und Ängsten, vom Pseudowissen und von der Unsicherheit, hin zu mehr Selbstbewusstsein, zu Spielräumen, Lust, Sinnlichkeit, Genuss und der Liebe zum Leben. Es gibt hier kein Richtig oder Falsch, solange Sie sich nicht auf Kosten oder zum Schaden anderer Befriedigung verschaffen. Es gibt hier keine Bewertung dessen, was Sie persönlich mögen oder was Sie erregt. Wann fühlen Sie sich so richtig lebendig? Wonach sehnen Sie sich? Was fehlt? Was brauchen Sie eigentlich nicht mehr? Was möchten Sie gerne beim Sex (er-)leben und wie können Sie dem näherkommen?

Wenn ich von Sexualität schreibe, meine ich damit nicht nur den Geschlechtsverkehr, auch kein „rein zielorientiertes Vorspiel mit darauffolgendem Geschlechtsverkehr“, ich betrachte Sexualität vielmehr ganzheitlich: Es geht dabei um Ihre Sinne, Ihr Wohlfühlen, Ihre Erregung, Ihre Genussfähigkeit und Freude, um Ihre Lust, Ihre Möglichkeiten, Ihre Phantasien und Ihre Körperlichkeit, Ihre Bedürfnisse.

Was die Wirtschaft mit unserem Sex zu tun hat

Was Sie hier nicht finden werden, ist ein Programm, um sich selbst zu optimieren, um „beim Sex besser zu funktionieren“, es geht nicht um Techniken und Stellungen, um Kalorienverbrauch oder Performance.

Medien und Wirtschaft präsentieren ein Zerrbild, zeigen uns, wo wir angeblich unzulänglich sind, damit wir manipulierbare Käuferherden werden bzw. bleiben. Je unzufriedener und unsicherer wir Menschen uns fühlen, umso eher kaufen wir „rasche Befriedigung“ bzw. „Belohnung“. Je öfter man uns sagt, dass wir mit Produkt X wieder sexy sind oder mit Produkt Y voll im Trend, umso kaufwilliger werden wir. Das einzige Ziel, das von der Wirtschaft und oft auch von den Medien verfolgt wird, heißt: in die eigene Börse arbeiten. Man suggeriert uns laufend, Glück sei nur etwas für die Jungen, Gesunden, Makellosen. Gehören wir nicht in diese Gruppe (und wer tut das schon?), könne man dem aber beikommen: Wir müssten uns nur jetzt dieses Produkt kaufen.

Wenn wir zu viel auf die Bewertungen anderer geben, entfernt uns das immer weiter von unserer eigenen Selbstwertschätzung und Zufriedenheit und damit auch von jener Basis, auf der entspannte, genussvolle Lust gerne wächst.

Generation Porno

In meiner Praxis habe ich immer öfter mit Menschen aus der „Generation Porno“ zu tun. Sie sind der festen Überzeugung, dass die verzerrten Spielfilmwelten einer realen Sexualität entsprechen. So erzählte mir ein Klient, Mitte 30, nennen wir ihn Max, er habe seine Freundin vor etwa zwei Jahren kennen gelernt und sei zu Beginn völlig irritiert gewesen, weil sie beim Sex „den perfekten Pornostar“ abgegeben habe. Viele junge Menschen möchten von anderen als „gut im Bett“ beurteilt werden und lassen sich nicht darauf ein, die eigene Sexualität zu entwickeln. Freilich, auch früher hat es das schon gegeben, nur verdichten sich heute durch den Pornografie-Overflow die Ansprüche. Bereits Kinder werden damit konfrontiert. Was macht es mit ihnen, wenn sie so aufwachsen und schon vor der Pubertät den Kopf voll einseitiger, oft sehr roher und verzerrter Bilder haben? Wie sollen sich da die eigene Sexualität und die eigenen Erregungsmöglichkeiten natürlich entfalten?

Zurück zu Max: Seine Freundin lernte mit der Zeit und durch seine ehrlich geäußerten Anregungen ihre eigenen authentischen Bedürfnisse in der Sexualität kennen. Das ging nicht von heute auf morgen, es brauchte offene Worte, Sicherheit und Vertrauen. Nun hat die junge Frau einen völlig anderen, lustvolleren Zugang gewonnen, sie gibt nicht mehr vor, sondern genießt und gestaltet ihre Sexualität mit einem Mann erstmals so, wie es ihr guttut – und auch Max. Wir brauchen mehr Menschen, die keine Show machen, sondern ein neugieriges und entspanntes Spiel gestalten, bei dem es vor allem um sinnliche Genüsse und echte Nähe geht.

Sie bekommen hier wohltuende Anregungen, wenn Sie …

•keine Lust auf Sex haben und nicht wissen, wie Sie die Lust wieder aktivieren können

•nicht abschalten können, weil der Kopf ständig an tausend Dinge denken muss

•schon lange keinen Sex mehr mit jemandem hatten und denken, das wird auch nichts mehr

•beim Sex einfach mitmachen, alles über sich ergehen lassen, vielleicht aus Angst, dass er oder sie sonst geht

•sich beide auf den kleinsten gemeinsamen Nenner geeinigt haben und diesen laufend wiederholen

•sich in Ihrem Körper nicht wohlfühlen, wenig Zugang zu Ihrer Sinnlichkeit haben

•sich beim Sex kaum noch spüren

•Angst haben, sich nackt zu zeigen mit ihren lustvollen Bedürfnissen

•sich nicht hingeben können, aus Angst, verletzt zu werden

•Sex einfach auf Ihrer To-Do-Liste stehen haben, er erledigt wird, ohne Sie zu berühren

•in Ihrem Kopf Dinge hören wie „Das gehört sich nicht“ oder „Das tut man nicht“

•Sex nicht als sehr befriedigend empfinden, sondern nur als okay

•nicht wissen, wie Sie Ihrem Partner zeigen oder sagen können, was Sie wollen

•(und Ihr Partner?) darauf warten, dass von selbst etwas Lustvolles passiert

Ich schreibe für Sie, für die Frauen, die mehr wollen und auch bereit sind, etwas dafür zu tun. Wenn wir etwas ändern wollen, dann hilft es, einen Entschluss zu fassen, einen Sinn zu erkennen oder eine spürbare Verbesserung anzustreben. Der bestimmt aufwendigere Teil ist dann jener des Übens und Dranbleibens, bis das, was Sie sich wünschen, zur neuen, prickelnden Gewohnheit geworden ist. Hirnforscher sagen, es dauert zumindest 21 Tage, bis Sie Ihren Kopf überzeugt und eine neue Spur gelegt haben.

Das faule Gehirn braucht einen Anreiz und ein bisschen Ausdauer

Sie gehen gerne spazieren, haben Ihre bekannten Wege. Meist gehen Sie früher oder später über eine große Wiese, vielleicht auch eine größere Lichtung. Sie gehen den Ihnen bekannten und ausgetretenen Pfad – Sie sehen ihn genau, er führt quer und direkt über die Wiese, es ist ein feiner, kleiner Weg, deutlich sichtbar. Rundherum darf sich die Wiese entfalten, die Gräser und Blumen stehen manchmal kniehoch.

Nun hat Ihnen jemand verraten, dass es an einer bestimmten Stelle am Rand, ganz weit hinten und ganz versteckt, wunderbare Himbeer- und Brombeersträucher gibt. Sie sind neugierig geworden und haben Lust bekommen, die Sträucher zu suchen, verlassen also den Pfad und wandern suchend über die Wiese. Und Sie finden die Stelle! Wunderbar! Hmmm, das wird ein Fest! Die Beeren sind noch längst nicht reif, aber Sie wissen jetzt immerhin, wo sie auf Sie warten werden. Sie gehen also zurück auf den bekannten Pfad und den bekannten Weg weiter. Und Sie nehmen sich vor, nun jeden Tag zu den Beeren zu gehen, um nachzuschauen, ob Sie schon reife Früchte ernten können. Vielleicht sind die Himbeeren ja etwas früher genießbar als die Brombeeren – oder umgekehrt?

Am nächsten Tag finden Sie schon etwas rascher und direkter zu den Sträuchern. Einige Umwege, die Sie tags zuvor zurückgelegt haben, machen Sie nicht mehr. Sie entdecken, wie viele Sträucher da sind. Haben die Beeren nicht bereits einen Hauch mehr Farbe? Tag für Tag machen Sie sich nun auf zu den Sträuchern. Zu Beginn ist es noch etwas mühsam, aber nach einigen Tagen wissen Sie genau, wo Sie abbiegen müssen – Sie haben das Gefühl, dass es schon einen kleinen Trampelpfad gibt, finden sich von Tag zu Tag ein wenig besser zurecht und meinen, den Weg zu kennen.

Dann fahren Sie ein paar Tage weg, nur ein verlängertes Wochenende. Bereits auf dem Heimweg freuen Sie sich auf Ihren gewohnten Spaziergang und natürlich auf „Ihre“ Beerensträucher. Neugierig gehen Sie gleich los – und stellen fest: Da gibt es nichts mehr zu sehen. Sie haben keine Ahnung, wo der Weg gewesen sein könnte, die Wiese hat sich sofort wieder ausgebreitet, das Gras ist höher als zuvor. Aber Sie lassen sich nicht entmutigen, wissen ja bereits, was Sie erwartet, und beginnen von vorne, Ihren Weg zu suchen und zu finden.

Diesmal bleiben Sie dran: Bei Ihrem täglichen Spaziergang, manchmal in Begleitung eines netten Menschen, manchmal mit Ihrem Hund, bauen Sie den kleinen Schlenker fix ein. Sie freuen sich: Die Beeren reifen merklich. Nach einiger Zeit werden Sie endlich mit den ersten Früchten belohnt. Wie gut und süß die schmecken! Ihren Weg finden Sie inzwischen ganz selbstverständlich, Sie haben sich wieder einen zarten Pfad über die hohe Blumenwiese „ergangen“. Nach ein paar weiteren Tagen beginnt die „große Erntezeit“, Sie nehmen sogar einen Becher von zu Hause mit, den Sie mit den frischen Früchten füllen (dann haben Sie auch später noch etwas davon).

Ihr täglicher (Um-)Weg ist zu einer wohltuenden Gewohnheit geworden. Auch als längst schon alle Früchte abgeerntet sind, schlagen Sie den Haken über die Wiese, um nachzusehen, wie es Ihren Beerensträuchern geht.

Genau so funktioniert unser Gehirn: Wenn Sie etwas verändern möchten, ist es zu Beginn oft mühsam. Das Gehirn ist nämlich faul und benötigt deutlich mehr Energie, wenn es Neues verarbeiten soll. Anfangs müssen Sie vielleicht täglich aufs Neue die Entscheidung treffen, dass Sie sich auf den Weg machen wollen. Es ist noch nicht zur Gewohnheit geworden, Sie probieren erst aus und üben. Nach einigen Tagen bekommen Sie langsam eine Ahnung, ob Sie sich für den passenden Weg entschieden haben, ob es überhaupt sinnvoll ist, ihn auf diese Art und Weise zu gehen, oder ob Sie doch noch etwas verändern möchten. Auch das „innere Belohnungssystem“ will überlistet werden – sind wir es doch gewohnt und geradezu aufgefordert, rasch, sofort, gleich Erfolg zu haben: Wir wollen den schnellen Kick. Bleiben Sie dran – nach ungefähr drei Wochen läuft es schon viel besser oder sogar ganz wie von selbst.

Warum ich Ihnen das so ausführlich erzähle? Weil ich Ihnen vermitteln will, dass es auch Ihre bewusste Entscheidung ist, wie Sie „Ihr Leben leben“. Darf es lustvoll sein und Freude machen? Dürfen Sie glücklich sein? Leider sieht kein Bildungssystem der Welt derzeit vor, Menschen darin zu schulen, ihr Leben freudvoll zu gestalten (mit Ausnahme von Bhutan mit seinem „Bruttonationalglück“). Statt den Fokus in der Bildung auf die Talente, Stärken und Bedürfnisse der Schüler zu legen, lernen wir, unsere Schwächen zu bekämpfen.

 

Wir sind oft nicht darin geübt, Entscheidungen für etwas zu treffen, und schon gar nicht darin, wirklich lustvoll und freudig im Einklang mit unseren Bedürfnissen zu leben. Dabei ist jeder einzelne Mensch viel produktiver, motivierter und gesünder, wenn er Dinge tun kann, die er für sinnvoll erachtet, die ihm Freude bereiten, leicht fallen und gelingen. Ein lustvolles Leben ist die beste Voraussetzung, um lustvollen Sex zu haben – auch wenn da vielleicht noch ganz andere Komponenten mitspielen.

„Es gibt natürlich auch zufällig guten Sex, aber ich warte nicht darauf, dass er manchmal einfach passiert, ich möchte etwas für mein sexuelles Wohlgefühl tun!“

Eine Klientin, 39