Philosophische und theologische Schriften

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Philosophische und theologische Schriften
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NICOLAUS CUSANUS

(1401-1464) war das, was man einen ‚Universalgelehrten’ nennt, denn er war auf nahezu allen Gebieten der Geistes-, Kultur- und Naturgeschichte bewandert, insbesondere auf dem Gebiet der Mathematik, der Philosophie und der Theologie. Dank seines außerordentlichen diplomatischen Geschicks machte er eine exzellente Karriere als Kardinal, päpstlicher Legat, Fürstbischof von Brixen und Generalvikar im Kirchenstaat. Nach seinem Tod hinterließ er ein umfangreiches Schriftwerk, das aus über 50 Schriften, beinahe 300 Predigten sowie zahlreichen Akten und Briefen bestand und sich inhaltlich seinen drei Hauptinteressensgebieten – Mathematik, Philosophie und Theologie – zuordnen lässt.

Zum Buch

Die prägende Gestalt europäischer

Geistesgeschichte zwischen Mittelalter

und früher Neuzeit

Zu Unrecht erlebt der Renaissance-Philosoph, dessen Denken bereits zu seinen Lebzeiten revolutionär war, erst in unserem Jahrhundert eine ‚Renaissance’. Literarisch hochgebildet, verbindet sich in seinen philosophischen und theologischen Schriften das mystisch-spekulative Gedankengut eines Meister Eckhart mit den neuplatonischen Theoremen etwa eines Proklon oder Pseudo-Dionysius Areopagita zu einer Lehre, die ihn als einen Philosophen ausweist, der bereits an der Schwelle zur Neuzeit und damit lange vor den postmodernen Theoretikern eine Rationalitätskritik avant la lettre übte.

Er war die prägende Gestalt europäischer Geistesgeschichte zwischen Mittelalter und früher Neuzeit und es ist daher nur angemessen, dass Nicolaus Cusanus heute eine – wenn auch denkbar späte – Renaissance erlebt. Zentrum seines hoch reflexiven, sich in seinen zahlreichen philosophisch-theologischen Schriften manifestierenden Denkens ist die coincidentia oppositorum, ein gedankliches Konzept, das die Auflösung und Verschmelzung der zwischen Immanenz und Transzendenz, zwischen Verstand und Vernunft herrschenden Trennlinie gewährt. Metaphysisch und theologisch sieht Cusanus in Gott den ‚Ort’ dieser Einheit. Obwohl eine letztgültige Aufhebung des an sich Unvereinbaren nicht möglich ist, kann sich der Mensch dem Göttlichen durch die vernunftbasierte Auslotung der vom Verstand gesetzten Grenzen immer wieder neu annähern.

Nicolaus Cusanus

Philosophische und theologische Schriften

Nicolaus Cusanus

Philosophische und
theologische Schriften

Auf der Grundlage der Übersetzung von Anton Scharpff,

herausgegeben und mit einem Vorwort versehen

von Eberhard Döring


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.

Es ist nicht gestattet, Abbildungen und Texte dieses Buches zu scannen, in PCs oder auf CDs zu speichern oder mit Computern zu verändern oder einzeln oder zusammen mit anderen Bildvorlagen zu manipulieren, es sei denn mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © by marixverlag GmbH, Wiesbaden 2013

Der Text basiert auf der Ausgabe marixverlag, Wiesbaden 2012

Lektorat: Dr. Bruno Kern, Mainz

Covergestaltung: Nicole Ehlers, marixverlag GmbH

Bildnachweis: Nicolaus Cusanus, Kreidezeichnung nach dem Relief

an seinem Grabmal, Kirche San Pietro in Vincoli, Rom, Italien

eBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main

ISBN: 978-3-8438-0098-3

www.marixverlag.de

INHALT

Vorwort des Herausgebers

Einleitung des Herausgebers

Vorwort des Übersetzers

I. SPEKULATIVE SCHRIFTEN

Von der Wissenschaft des Nichtwissens

Von den Mutmaßungen

Über das Gottsuchen

Über die Gabe des Vaters des Lichtes

Dialog über die Entstehung der Welt

Über das Sehen Gottes

Gespräch über das Seinkönnen

Über das Globusspiel

Von der Jagd auf die Weisheit

Sichtung (Kritik) des Alchoran

Über den Frieden oder die Übereinstimmung unter den Religionen

2. SPEZIELL DOGMATISCH-ETHISCHES

Wert der Literatur

Summe der heiligen Schrift

Altes und Neues Testament

Die heilige Schrift

Verständnis der heiligen Schrift

Verherrlichung Gottes – das Ziel aller seiner Werke

Jesus, das Ziel der Weltschöpfung

Lehre von den Engeln

Ursprung der Seele

Die Seele, von Natur eine Christin

Ursprüngliche Unschuld, Verlust derselben

Die Sünde

Das Böse, sein Wissen durch Gott, sein Ursprung nicht aus Gott

Warum Gott die Sünde zuließ

Sündenfall im Verhältnis zu Gott

Gewissen, Sünde, Todsünde

Der Teufel und seine Versuchungen

Fall des Teufels

Wirkungen des Teufels

Einfluß der Dämonen

Die Erlösung der Welt nur durch göttliche Vermittlung möglich

Bedürfnis einer objektiven substantiellen Wahrheit

Christus, der Erlöser. Bedingung der Aufnahme seiner Geistes

Jesus

Die Vollkommenheit Christi

Christus, ein Magnet

Maria, frei von der Erbsünde

Unbefleckte Empfängnis Marias

Adams Ungehorsam, Christi Gehorsam

Das Verdienst Christi durch seinen Tod

Rechtfertigung

Die Rechtfertigung ein Werk Gottes

Die Höllenfahrt Christi

Prädestination

Der heilige Geist – das Feuer der Liebe

Die Gaben des heiligen Geistes

Die Kirche als Organismus

Die Kirche und die verschiedenen Geistesrichtungen

Wir erlangen das christliche Leben, die geistige Wiedergeburt durch Vermittlung der Kirche

Über die drei Stände in der Kirche

 

Die Eucharistie

Transsubstantiation

Bedingung des würdigen Empfangs des Abendmahls

Unsterblichkeit der Seele

Unsterblichkeit

Untergang der Welt

Auferstehung

Allgemeines Gericht

Die Vortrefflichkeit der christlichen Sittenlehre

Die Gebote Gottes sind Gebote der reinen Vernunft

Nachweis des freien Willens

Gnade

Gnade, in uns aufgenommen durch Liebe

Die Bekehrung

Weg zur Lostrennung von der Sünde

Wiedergeburt

Der Christ bringt sich Gott zum Opfer

Glaube, objektiv

Glaube

Irdische Weisheit und Glaube, jedes in seinen Wirkungen nach Paulus

Glauben und Wissen

Glaube und Wille

Fruchtbarkeit des Glaubens. Der Glaube ein inneres Erfahren

Lebendiges Wissen – Weisheit

Wissen und Weisheit

Die Liebe als virtus infusa

Die Liebe

Die Liebe im Verhältnis zum Erkennen und zur Freiheit

Die Kraft der Liebe

Wirksamkeit der Liebe

Die Liebe im Verhältnis zu Glaube und Hoffnung

Liebe und Wissen

Liebe zu Gott und dem Nächsten

Über die Nachfolge Christi

Über die Trennung von der Welt und die Freundschaft mit Christus

Christus vergilt unsere Wohltaten

Begriff und Bedingungen des wahren Gebets

Gebet ist Nötigung Gottes

Belehrung über Anwendung des Vaterunser als Gebet

Erklärung des Vaterunser

Erklärung des Vaterunser in Fragen und Antworten

Eine andere Erklärung des Vaterunser

Macht des sittlichen Wandels

Der wahre Seelenhirt

Der Prediger

Der Prediger und wie er anzuhören ist

Der wahre Ordensmann

Erziehung der Jünglinge

Die Heiligen

Freundschaft

Selbstverleugnung

Selbstbeherrschung

Wert frommer Gelübde

Verschiedenheit des Lohnes

Der Friede

Die wahre Freude

Das Schöne

Höchste Glückseligkeit

3. RELIGIÖSE DIALOGE

Über die Verkündigung der glorreichsten Jungfrau Maria

Auf den Karfreitag

Dialog über die Auferstehung Christi

Dialog zwischen Maria Magdelena und einem Christen

4. PREDIGTEN

Rede bei Austeilung des heiligen Abendmahls

Der Beruf des Christen

Scheinchristen und wahres Christentum

Rede auf den Karfreitag

Über Abtötung

Anrede an Kanoniker, aus Veranlassung einer bevorstehenden Visitation

Aus der Rede auf Mariä Himmelfahrt, gehalten während des Interdicts

VORWORT DES HERAUSGEBERS

Der vorliegende Band als Studienausgabe stützt sich auf eine Übersetzung aus dem Jahre 1865 mit einer für damalige Zeiten üblichen Interpretation durch den Domkapitular Anton Scharpff, der als einer der ersten deutschen Übersetzer der Werke des Cusanus seinerzeit einen Preis von der katholisch-theologischen Fakultät Tübingen erhalten hat. Umso größer fällt die Herausforderung aus, in der Einleitung eine genuin philosophische Interpretation voranzustellen, die sich auch auf neuere Texte der Sekundärphilosophie zu stützen vermag. Die Theologie konnte einige Passagen der Cusanischen Schriften für sich reklamieren, bevor noch die Philosophie den Koinzidenzdenker Cusanus zur Kenntnis genommen hat, was aber in den letzten zehn Jahren immer mehr Verbreitung finden konnte.

Cusanus hat nun nach über 500 Jahren auch in der Philosophie als Reflexionsdisziplin Interesse geweckt, seine primär philosophischen Schriften in den Vordergrund der Beachtung zu rücken und dabei einen dialektischen Denker und einen antidogmatischen Rationalitätskritiker avant la lettre vorzufinden. Seine Philosophie trägt dabei ein Ensemble von aktuellen und noch immer nicht hinreichend beachteten Theoremen.

Will man heute ein Buch herausgeben, dessen Übersetzung ein anderer, noch dazu im Jahre 1865 geleistet hat, ist ein Vorwort erforderlich, das auf verschiedene Aspekte Rücksicht nehmen muß. Kommt noch hinzu, daß der Übersetzer eine vom Herausgeber abweichende Interpretation vertritt und diese bis in viele ausgelassene Passagen des lateinischen Originals hinein zum Ausdruck bringt, befindet man sich bereits inmitten der Philosophie, die als Reflexionsinstanz auf die Bedingungen und Voraussetzungen von Theorien und Interpretationen divergierende Auffassungen zur freien Diskussion stellt, wenn sie nicht einem Dogmatismus anheimfallen will. Noch mehr gilt dies im Zusammenhang der Philosophie des Cusanus, der als Philosoph und Kardinal selbst Positionen vertreten hat, die auf die äußerst denkwürdigsten Oppositionen besonderen Wert legen wollten und konnten.

Es bedarf von daher keiner sonderlich diplomatischen Strategie, die Übersetzungen eines katholischen Domkapitulars mit seinen theologischen Interpretationen einer philosophisch reflektierten Position gegenüberzustellen und dabei dennoch die Unterschiede herauszuarbeiten, wie diese aus verschiedenen Perspektiven ins Auge fallen. Hierbei braucht auch nicht Satz für Satz die in sich geschlossene Übersetzung aufgebrochen und schon gar nicht mit Gegenargumenten versehen zu werden. Es wird vielmehr dem Leser selbst überlassen, worin er die für ihn plausiblere Darstellung sieht, zumal Philosophen die beiden Texte aus einem anderen Blickwinkel in ihrem Kontext verorten als diejenigen, die mit einem theologischen Hintergrund aufwarten. Denn selbstverständlich enthalten auch Übersetzungen bereits Interpretationen, die von der Textauswahl bis in deren Darstellungen und Betonungen reichen. Im vorliegenden Zusammenhang kann die philosophisch geprägte Einleitung auch als gegensätzliche Interpretation zur fast 150 Jahre alten Übersetzung aufgenommen werden, wobei einem Koinzidenzdenker wie Cusanus in besonderem Maße gerecht zu werden versucht wird. So zeigt zumindest das Spätwerk seines Denkens, daß alle Lesarten durch die Brille der Vernunft (»de beryllo«) auf individuelle und kunstvolle Weise mit ihrer »ars coniecturalis« zur Koinzidenz gelangen können. Denn die Wahrheit liegt für Cusanus nicht, wie noch in seinem Frühwerk, im Verborgenen esoterischer Zugangsweise, sondern sie schreit nach Cusanus auf allen Gassen (»clamitat enim in plateis«), zumal der menschliche Geist (mens) als »nexus dei et mundi« sowie als »secundus deus« oder gar als »humanus deus« gedacht wird.

Der Mensch als zweiter Gott bzw. als menschlicher Gott gedacht, kann gerade zu Zeiten des Cusanus eine häresieverdächtige Provokation darstellen, die bis heute aus katholischer Sicht gerne ausgeblendet wird, wie auch Scharpffs Übersetzung nur fragmentarisch (und eklektizistisch) ausgefallen ist. Dies braucht aber auch nicht zu überraschen, wenn man die zeitliche Differenz und den Unterschied zwischen katholischer und philosophischer Betrachtung berücksichtigt.

Die Einleitung des Herausgebers stellt den komprimierten Text meiner Vorlesung dar, die im Sommersemester 2005 an der Staatsuniversität Riga als Kompaktveranstaltung gehalten wurde. Für die Einladung hierzu bedanke ich mich bei meinen dortigen Kollegen und Studenten, insbesondere bei der Direktorin des Philosophischen Departments, Frau Prof. Dr. phil. habil. Maija Kule, sowie für die lebhaften Diskussionen mit den Studenten, die kaum Zugang zu entsprechender Literatur haben und meine Vorlesungen in englischer Sprache verfolgen mußten. Ihnen allen gebührt mein herzlicher Dank.

Eberhard Döring

EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS

Nicolaus Cusanus war zwar ein Kirchenmann, sogar ein Bischof und Kardinal, aber er war kein professioneller Theologe, der etwa eine Professur für Theologie angenommen hätte. Er war eben vor allem ein bedeutender Philosoph, wenn er auch dafür angebotene Professuren schlicht abgelehnt hat. Als Allround-Genie hat er sich nirgends fest binden lassen, sondern hat zunächst als Jurist, als Fürst und somit als Politiker stets mehrere Fäden zugleich zusammengehalten und sich damit synergetisch auf verschiedenen Terrains meist erfolgreich bewegt. In seinem Gesamtwerk, wenn man auch all seine Predigten etc. berücksichtigen will, überwiegen zwar quantitativ seine theologischen Schriften, aber der intellektuelle Gehalt seines nicht nur seinerzeit revolutionären Denkens geht eindeutig aus seinen philosophischen Werken hervor, die in unserem Jahrhundert erneut große Beachtung verdienen und quasi eine Renaissance des Renaissance-Philosophen haben entstehen lassen.

 

Diese werden auch im vorliegenden Band vorangestellt und umfassender kommentiert, da aus seinen philosophischen Reflexionen auch seine anderen Schriften leichter verständlich werden. Wenn das Wort nicht so schillernd semantisch besetzt wäre, könnte man ihn auch zu den großen Mystikern zählen, wie dies zumindest aus seiner gründlichen Lektüre Meister Eckharts hervorgeht. Darüber hinaus war er ein glänzender Kenner der Schriften des mittelalterlichen Philosophen Raimundus Lullus und anderer Größen aus dieser Zeit. Besonders jedoch hat er sich mit Platon und Aristoteles beschäftigt, dessen Logik und deren Reichweite er so kritisch untersuchte, daß er dafür von einem Heidelberger Theologieprofessor (Johannes Wenck) den Vorwurf des Atheismus, mindestens aber die Einschätzung als unwissenschaftlicher Denker einstecken mußte. Wenn auch die darin erhobenen Einwände gegen Cusanus aus der Perspektive des verabsolutierten oder dogmatischen Aristotelismus den Kern der cusanischen Rationalitätskritik treffen, so wäre es falsch zu vermuten, Cusanus hätte die »süße Simplizität der zweiwertigen Logik« (um mit dem großen amerikanischen Logiker Quine aus dem 20. Jahrhundert zu sprechen) nicht hinreichend durchschaut.

Im Gegenteil: Die aristotelische Logik war Cusanus nicht ausreichend genug, das genuin reflektierte Denken der Philosophie zu erfüllen. Er hat sogar als Philosoph von Rang und Namen die Erfindung der Syllogistik durch Aristoteles in hohem Maße gewürdigt und ihr dabei sogar eine exklusive Stellung im Ensemble der zu berücksichtigenden Regionen des dynamischen Denkens eingeräumt. Er hat sich aber von der Logik nicht blenden lassen, wie etwa der sog. »kritische Rationalismus« sogar noch im 20. Jahrhundert.

Cusanus konnte dem logischen Rationalismus vieles an Bedeutung abgewinnen, aber er hat diese Position von ihrer eigenen Verabsolutierung entgrenzt und sie trotz allen Respekts zugleich begrenzt. Die der aristotelischen Logik verpflichtete Rationalität wollte er keineswegs aus dem Denken exkludieren, sondern vielmehr integrieren in ein dynamisches Schema, das vor ihm und bis hin zu Schelling oder Hegel kaum ein Philosoph in dieser Präzision und elastischen Stringenz zugleich geleistet hat. Logik und Rationalismus waren für Cusanus elementare Bestandteile seiner Philosophie, die mit ihren fast schon transzendentalen Anteilen sowie seiner Unterscheidung zwischen Verstand (ratio) und Vernunft (intellectus) sowie vor allem mit ihrem dynamischen Grundmuster zur Aszendenz und Deszendenz innerhalb seiner (noch zu erörternden) Regionentheorie schon einiges vorwegnehmen konnte, was sich für Kant und seine Auseinandersetzung mit dem Empirismus von Locke und Hume sowie mit dem Rationalismus von Leibniz und anderen Denkern des 18. Jahrhunderts als äußerst hilfreich angeboten hätte. Doch seine Philosophie wurde über lange Zeit nur aus zweiter Hand (Giordano Brunos) und auch da nur fragmentarisch vermittelt, wie man dies bei Hamann und Goethe, aber auch bei Hegel nur stichwortartig, die Oppositionskoinzidenz betreffend, bei näherem Hinsehen feststellen kann.

Die »coincidentia oppositorum« bildet den Mittel- und Schwerpunkt der Cusanischen Philosophie und steht innerhalb dieser quasi trans-logisch oder supra-rational der Vernunft zur Verfügung, übersteigt den rationalen Verstand und leistet damit eine contradictio im Sinne einer regula veri und nicht einer contradictio falsi. Diesen zentralen Aspekt in der Philosophie des Cusanus gilt es stets zu berücksichtigen, wenn man wissen will, wie der Verstand zur Vernunft kommen kann, ohne dabei den Verstand zu verlieren. Besonders jedoch gilt es, die Grenzbegriffe in seiner Regionentheorie (aus »sensatio«, »ratio«, »intellectus« und »deus«) zu berücksichtigen, da sich an der jeweiligen Grenze von einem Bereich gegenüber dem »höheren« oder »niedrigeren« Bereich sein durchaus dialektisches Philosophieren begreifbar machen läßt. Weder die Sinnlichkeit alleine (»sensatio«), noch der Verstandesbereich (»ratio«), noch die Region der Vernunft (»intellectus«) oder gar die Dimension des »deus« (also Gottes) sind für Cusanus in ihrer isolierten Betrachtung oder gar Verabsolutierung reflektierbar. Nur das Sehen (»visio«) aller genannten Bereiche und ihrer Grenzen sowie in ihrem Zusammenhang kann die Einheit im Ensemble der gesamten Aspekte erfassen, wie man auch immer im Blick behalten muß, daß seine Philosophie, wie bereits erwähnt, den großen Philosophen des Deutschen Idealismus (also Kant, Fichte, Schelling und Hegel) aus Gründen der Quellenlage nicht bekannt war.

Anders als z.B. bei Kant1 steht das Philosophieren des Cusanus in einem engen Zusammenhang mit seiner Vita, weshalb man sein Leben auch bis in sein letztes, zwar schmales, aber doch reifes Büchlein »De beryllo« und darauf gestützt, sogar als eine biographische Koinzidenz durch die Brille des Geistes (»mens«) bezeichnen könnte. Cusanus wurde im Jahre 1401 unter dem Namen Nikolaus Chryfftz (d. h. Krebs) in Cues an der Mosel geboren (heute als Bernkastel Kues wegen des von ihm dort etablierten Altenpflegeheimes (St.-Nicolaus-Hospital), aber auch wegen des Moselweins bekannt). Sein Vater Johann Chryfftz war ein reicher Winzer und Schiffseigner im selben Ort, in dem Cusanus bis zu seiner Schulausbildung in einer wohlhabenden Familie aufwachsen konnte. Bereits im Alter von 16 Jahren begann er für kurze Zeit sein Studium der freien Künste (»artes liberales«) in Heidelberg, bevor er schon ein Jahr später sein Studium des Kirchenrechts (1417–1423) in Padua aufgenommen und dort fortgesetzt hat. Bereits vor seinem Studienbeginn wurde der tschechische theologische Reformer Jan Hus aus Böhmen im Jahre 1414 trotz der Zusage freien Geleits zum Konzil von Konstanz unterwegs verhaftet und dort 1415 als Ketzer verbrannt. Die Nachricht hiervon drang natürlich auch zu Ohren des Cusanus, der also frühzeitig gewußt hat, wie man seinerzeit mit Häretikern umzugehen pflegte: verlogen und mit einer harten Brutalität sanktioniert. Die katholische Kirche war äußerst mächtig und nutzte ihre Macht auch dazu, aufs Ganze (»kat’ holou«) zu gehen, wenn sich Skepsis oder Reformbemühungen an ihrer dogmatischen Lehre meldete. Wer sich gegen sie wehren oder sie kritisieren wollte, hatte, trotz und gerade als Intellektueller mit christlicher Überzeugung, mit Verhaftung, Folterung und meist abschließend mit der Todesstrafe auf dem Scheiterhaufen zu rechnen. Schon der bloße Verdacht auf Häresie reichte aus, inquisitorisch behandelt und mit dem Segen Gottes von der Kirche aus dem Verkehr gezogen zu werden.

All dies war Cusanus natürlich bekannt, weshalb er in seinen frühen Predigten auch noch das Bestrafungsritual der Kirche mit ihrem Talionsrecht voll und ganz zeitgenössisch unterstützt hatte. Als Kirchenrechtler hingegen wußte er auch genau, wo die Grenzen des Machbaren liegen und wie man diese diplomatisch für sich nutzen konnte. Wäre sein philosophisches Spätwerk »De beryllo« (1457) schon zu Zeiten seiner »Docta ignorantia« (1438–1440) erschienen, in der er zwar auch schon häresieverdächtige Thesen veröffentlicht hat, hätten ihm auch die Sanktionen wie bei Jan Hus blühen können. Aber vor der Niederschrift von »De beryllo« mit dem Mantel eines Kardinals ausgestattet, mit der Frühschrift »De concordantia catholica« (1437) gerüstet und vor allem mit einer treffsicheren Diplomatie versehen sowie mit kirchenmächtigen Freunden um ihn herum, konnte er es sich eher leisten, bis an die Grenzen zu gehen, diese aber auch nicht zu überschreiten.

Grenzbestimmungen spielen auch in seiner Philosophie eine wichtige Rolle, insbesondere in »De coniecturis«, worin die wichtigsten Unterscheidungen z. B. zwischen Verstand (ratio) und Vernunft (intellectus), aber auch zwischen unserer Sinnlichkeit (sensatio) und dem nicht erfaßbaren Gottesbegriff (deus), zu finden sind, für den Cusanus eine ganze Reihe von Metaphern (»Possest«, »Non-aliud« etc.) kreiert hat, um ihn als Grenzbegriff denken zu lassen. Allerdings folgt aus dem Denkzwang kein Seinszwang, worin die eigentliche Häresie des Koinzidenz-Denkers liegt, der im Jahre 1423 zum Doctor decretorum (Kirchenrecht) promovierte, bevor er nach einem Jahr in Rom wieder in seine Geburtsstadt Cues zurückgekehrt ist. Zwei Jahre später studierte der promovierte Kirchenrechtler an der Universität zu Köln noch Theologie, vor allem jedoch Philosophie und hielt nebenbei, jedoch ohne Professur und quasi als Gastdozent, kirchenrechtliche Vorlesungen. 1428 unternahm er eine Studienreise nach Paris und erhielt im selben Jahr einen Ruf als Professor an die erst kurz zuvor (im Jahre 1425) gegründete Universität zu Löwen, den er jedoch nicht annehmen wollte. Dafür nahm er 1430 die Stelle als Sekretär des Trierer Domherren Ulrich von Manderscheid an und wurde zwei Jahre später dessen persönlicher Berater und Advokat auf dem Konzil von Basel. Die Vertretung seines Anspruchs auf den Trierer Bischofssitz verlief jedoch ohne Erfolg; während im Jahre 1431 Jeanne d’Arc in Rouen unter Leitung des Bischofs von Beauvais verbrannt wurde.

Bereits im Jahre 1435 erhielt Cusanus erneut einen Ruf an die Universität Löwen, den er jedoch abermals ablehnte und dafür lieber die Stelle als Propst des außergewöhnlich begüterten Augustinus-Chorherrenstifts Sankt Martinus und Severus in Münstermaifeld wählte. 1437 wechselte Cusanus zur Konzilsminderheit und verließ schließlich ganz das Konzil, um sich dem Papst Eugen IV. anzuschließen. Ein Jahr später unternahm er eine Gesandtschaftsreise im Auftrag des Papstes und erlebte 1438 auf der Rückreise auf hoher See seine »visio intellectualis«, die ihn von nun an seine Koinzidenzphilosophie etablieren ließ, die wie durch einen Zufall der Forschung als plötzlicher Einfall in einem Augenblick ausgelöst wurde. Der Priesterweihe ein Jahr später folgte im Jahre 1440 die Vollendung seiner »Docta ignorantia« als Resultat seines blitzartigen Erlebnisses auf dem Schiff, die sozusagen sein philosophisches Erstlingswerk darstellt. Damit nimmt die Koinzidenzlehre ihren Lauf, die zwei Jahre später in der Schrift »De coniecturis« und ihrer funktionalontologischen Regionentheorie mit dem Unterschied zwischen Verstand und Vernunft in der Mitte die Dimension Gottes als Grenzbegriff denken ließ.

1448 ernannte ihn sein Freund, der neue Papst Nikolaus V., zum Kardinal in petto. Die Verteidigungsschrift gegen den Heidelberger Theologieprofessor Wenck mit dem Titel »Apologia doctae ignorantiae« erschien im selben Jahr, bevor die öffentliche Erhebung zum Kardinal und zum Bischof von Brixen im Jahre 1450 erfolgen konnte, in dem auch seine »Idiota-Schriften« erschienen sind (»De sapientia I und II«, »De mente« und »staticis experimentis«). In das Jahr 1453 fielen die Eroberung Konstantinopels und eine Vielzahl von weiteren philosopischen und theologischen Schriften (u. a. »De visione dei« und »De pace fidei«), bevor im Jahre 1457 sein eigentliches philosophisches Hauptwerk »De beryllo« erschienen ist. Der neue Papst und Humanist Enea Silvio Picolomini, Pius II., rief ihn ein Jahr darauf nach Rom, wo viele weitere Schriften des Cusanus – seiner Spätphilosophie folgend – entstanden sind: u. a. »De possest«, »De non-aliud«, »De venatione sapientiae«, »De apice theoriae« etc. Am 16. 7. 1464 erkrankte Cusanus auf dem Weg nach Venedig zur Vorbereitung eines Kreuzzuges gegen die Osmanen und starb am 11. 8. 1464 in der umbrischen Bergstadt Todi. (Drei Jahre später starb auch Papst Pius II. in Ancona). Man kann also sagen, daß in den knapp 25 Jahren von 1440 bis 1464, in der Mitte des 15. Jahrhunderts, die eigentliche Schaffenskraft des Cusanus lag, der als beständig häresieverdächtiger Theologe und als dialektisch denkender Philosoph nicht nur eine theoretische Oppositionskoinzidenz, sondern auch eine biographische »coincidentia oppositorum« in sich vereinigen konnte: Als »humanus deus« oder als »secundus deus in creando« in seinen eigenen Worten ausgedrückt. Mit seinem fast schon liberalen Geist (dem Mittelalter gegenüber), seiner dialektischen Philosophie als regula veri (der contradictio falsi gegenüber), seinem vernunftbetonten Geist (dem Rationalismus gegenüber) und mit seinem dynamischen Mentalismus (der Ontologie gegenüber) sowie seinen transzendentalphilosophischen Anklängen (dem Positivismus gegenüber) bis hin zu seinen pragmatischen Individualitäts-Aspekten (dem Dogmatismus gegenüber) und seinem Relativismus (der Beliebigkeit gegenüber) war Cusanus der Universalgelehrte der Renaissance als Jurist, Theologe, Astronom, Mathematiker und nicht zuletzt als der Philosoph des 15. Jahrhunderts, der bis in unsere heutigen Tage noch einige Aufarbeitung benötigt, vor allem aber zur Kenntnisnahme durch die Philosophie und zugleich der Theologie sowie durch die Modeströmung des unreflektierten Naturalismus einlädt.

Und dazu genügt es nicht, dem Verstandesdenken der Wissenschaften alleine die philosophische Reflexion zu überlassen. Es bedarf vielmehr der Vernunft, die den Bedingungen und Voraussetzungen der wissenschaftlich rationalen Theorien und deren Zustandekommen wie auch deren Reichweite und Geltungsbereich mit philosophischer Skepsis und Kritik begegnet. Denn »tanto quis doctior erit, quanto se sciverit ingorantem«. Und dies stellt eine Einsicht der Vernunft (intellectus) und nicht des Verstandes (ratio) dar. Daß der Verstand überhaupt zur Vernunft kommen kann, ist ein Verdienst der Vernunft und nicht des Verstandes – daß die Vernunft dabei nicht um den Verstand gebracht wird, ist hingegen ein Verdienst des Verstandes und der Vernunft, so könnte man im ersten Zugriff das Reflexionsverhältnis bei Nicolaus Cusanus bestimmen, das zu seinen zentralen Theoremen führt.

Warum ist es aber überhaupt sinnvoll, zwischen Verstand (ratio) und Vernunft (intellectus) zu differenzieren, und welche Instanz trifft hierbei die Unterscheidung? Ist es die Wissenschaft, die uns mit ihren rationalen Einteilungen Wissen verschafft? Oder ist es die philosophische Reflexion, die mit ihrer Rückbeugung auf die Bedingungen und Voraussetzungen der Wissenschaft eine zugleich höhere und tiefere Einsicht ermöglicht? Philosophie als Reflexionsdisziplin wäre gewiß überflüssig, wenn die auf Rationalität verpflichtete Wissenschaft von sich aus in der Lage wäre, die genannten Fragen auch selbst zu beantworten. Doch welche Mittel stehen der Philosophie zur Verfügung, wenn sie quasi trans-rational und vernunftgeleitet derartige Spezifikationen explizieren will, die bis in den Kern ihrer eigenen Prinzipien hineinreichen? Oder kurz: Was unterscheidet die wissenschaftlich rationale Vorgehensweise von der Reflexion der Philosophie?