Gewaltlosigkeit im Islam

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Gewaltlosigkeit im Islam
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Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen

Muhammad Sameer Murtaza

Gewaltlosigkeit im Islam –

Denker, Aktivisten und Bewegungen islamischer Gewaltfreiheit

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-86408-256-6 (Print) // 978-3-86408-257-3 (E-Book)

Korrektorat: Achim Klede

Grafisches Gesamtkonzept, Titelgestaltung:

Stefan Berndt – www.fototypo.de

Satz und Layout/E-Book-Herstellung:

Joh.-Christian Hanke

© Copyright: Vergangenheitsverlag, Berlin / 2019/20

www.vergangenheitsverlag.de

Bildnachweis:

Jawdat Said: Jeff Watts/American University Washington

Maulana Wahiduddin Khan: CPS International

Asghar Ali Engineer: Tom Heneghan/Mumbai

Muhammad Al-Hussaini Al-Schirazi: Archiv des Autors

Khan Abdul Ghaffar Khan: National Gandhi Museum/New Delhi

Khan Abdul Ghaffar Khan: National Gandhi Museum/New Delhi

Muhammad Ali Jinnah: Archiv des Autors

Muhammad Ali Jinnah: Archiv des Autors

Hasan Al-Hudaibi: Archiv des Autors

Nimr Baqir An-Nimr: Archiv des Autors

Saeed Amireh: Saeed Amireh/D. R.

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.


Inhalt

Geleitwort

Einleitung

Der Gelehrte: Jawdat Saʿids Ethik der Gewaltlosigkeit

Das gewaltlose Ethos im Islam

Die praktische Umsetzung des gewaltlosen Ethos im Islam

Hoffnung ist der Anfang aller Dinge

Der Lehrer: Maulana Wahiduddin Khans gewaltloser ğihād

Die Glorifizierung von Gewalt

Der gewaltlose ğihād

Braucht Frieden Gerechtigkeit?

Hoffnungsvolle Zukunft

Der Intellektuelle: Asghar Ali Engineers Konzept der Nichtaggression

Das Nichtaggressionsprinzip angewendet auf das Leben des Propheten Muhammad

Die ökologische Herausforderung

Der Großayatollah: Muhammad Al-Hussaini Al-Schirazis Theologie für eine waffenfreie Welt

Die Verantwortung der Weltgemeinschaft

Muslime als Friedensmacher

Der Aktivist und der Politiker: Khan Abdul Ghaffar Khans und Muhammad Ali Jinnahs Kampf um die Unabhängigkeit Indiens

Khans frühe Jahre

Eine neue Richtung: Schulen bauen

Qurʾān-Studium im Gefängnis

„Stolz der Afghanen“

Eine Armee der Gewaltlosigkeit

Gewaltloser Widerstand

Muhammad Ali Jinnah – „Der moderne Moses“

Pakistan – Das muslimische Zion

Die Teilung Indiens

Pakistan – Ein neues Medina

Das dunkle Zeitalter Pakistans

Der Richter: Hasan Al-Hudaibi und die militanten Muslimbrüder

Gründung einer islamischen Selbsthilfegruppe

Gewaltverzicht, karitative Ausrichtung und Bejahung der Demokratie

Der Ayatollah: Nimr Baqir An-Nimr und die gewaltfreie Bewegung in Saudi-Arabien

Die schiitische Minderheit in Saudi-Arabien

Gewaltloser Protest gegen den wahhabitischen Staat

Die Bewegung: Der gewaltlose Widerstand der Palästinenser

Der Nahost-Konflikt heute: ein gordischer Knoten

Der gewaltlose Widerstand der Palästinenser

Söhne Adams

Literatur

Geleitwort

Nie war es leichter, sich über die Welt zu informieren, als heute. Damit wächst aber auch die Gefahr, falschen Informationen zu erliegen. Die Vielfalt der politischen Herausforderungen und die Komplexität demokratischer Prozesse, national wie global, wecken bei vielen Menschen das Bedürfnis nach Klarheit und Orientierung. Populisten verschiedener Couleur greifen dies auf, indem sie simple Antworten auf komplizierte Fragen präsentieren, die von vielen dankbar angenommen werden.

Dieses Phänomen betrifft auch die Religionen und in besonderer Weise den Diskurs über Religion im Kontext von Krieg und Gewalt. Angesichts der Medienberichterstattung über religiös geprägte Gewaltkonflikte kann es nicht verwundern, dass Religionen wahrlich nicht im Ruf besonders geeigneter Friedensstifter stehen, ganz im Gegenteil. In der westlichen Welt gilt vorzugsweise der Islam als Bedrohung des gesellschaftlichen und globalen Friedens. Infolge der zahlreichen Gewaltakte bekennender Muslime – sei es in (Bürger-)Kriegen oder durch Terroranschläge – wird „dem Islam“ ein friedensethischer Gehalt kaum zugetraut, nicht selten gar vollständig abgesprochen. Dies offenbart jedoch eine enorme Unwissenheit über die Vielgestaltigkeit des Islams im Allgemeinen und über islamische Friedensaktivitäten im Speziellen.

Wo muslimische Friedensakteure in Erscheinung treten, wird ihre Religionszugehörigkeit häufig ignoriert, oder sie werden als die berühmte „Ausnahme von der Regel“ betrachtet. Oder aber ihr Muslim-Sein wird mit einem leisen Erstaunen zur Kenntnis genommen, als würden diese Personen zum Frieden beitragen, obwohl sie Muslime sind – und nicht etwa, weil sie Muslime sind.

Dabei hat die islamische Friedensethik eine weit zurückreichende Geschichte in Theologie und Praxis, stellvertretend seien Jawdat Saʿids Ethik der Gewaltlosigkeit und Khan Abdul Ghaffar Khans gewaltloser Kampf an der Seite von Mahatma Gandhi erwähnt. Sie und andere Verfechter eines islamisch-theologisch begründeten Gewaltverzichts werden in diesem Buch vorgestellt. Der Autor konzentriert damit seine langjährige Beschäftigung mit der Friedensthematik, die bereits in zahlreichen Publikationen Niederschlag gefunden hat, auf den Aspekt der Gewaltlosigkeit im Islam. Wissenschaftlich fundiert und durchaus kritisch, folgt er dabei in bester Weise der journalistischen Devise „to inform and to enlighten“. Und doch geht es ihm um mehr als Aufklärung. Es geht ihm auch um „empowerment“, um theologische und praktische Ermächtigung zum gewaltlosen Einsatz für den Frieden. Dafür gebührt ihm Dank und Anerkennung!

Die hier beschriebenen Personen und Initiativen sind Leuchttürme, doch keine Einzelfälle. Ihr Denken und Leben war und ist für viele Menschen Inspiration, Ermutigung und Orientierung – auch und gerade angesichts religiös begründeter Gewalt in ihren muslimischen Herkunftsgesellschaften, von den Paschtunen unter britischer Besatzung im damaligen Ost-Indien über Syrien bis Saudi-Arabien in heutiger Zeit. Und darum ist dieses Buch in doppelter Hinsicht so wichtig:

Den muslimischen Leserinnen und Lesern mag es Anregung und Ermutigung sein: Anregung, sich aus dieser oft vernachlässigten Perspektive der eigenen Religion neu zu nähern. Und Ermutigung, der gewaltverharmlosenden oder -verherrlichenden Rhetorik wie auch den schrecklichen Gewaltakten anderer Muslime selbstbewusst eine ganz andere, nämlich friedensorientierte und gewaltlose Lesart und Praxis der religiösen Überlieferungen entgegenzustellen.

 

Allen Leserinnen und Lesern, gleich welcher Religionszugehörigkeit oder auch ohne eine solche, mag es die Augen öffnen für die Vielfalt und lange Tradition friedensethischen Denkens und Handelns im Islam. Es wäre töricht, damit die unbestreitbaren religiös legitimierten Gewaltakte verschiedenster Zeiten und Akteure „aufrechnen“ zu wollen. Aber es trägt zur dringend notwenigen Differenzierung im Diskurs über Religion, respektive über den Islam, bei. Es macht deutlich, welche Friedenspotenziale auch in muslimischen Religionsgemeinschaften vorhanden sind. Diese Potenziale sind – wie in allen Religionen – bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Aber sie zu erkennen, ist ein wichtiger Schritt zu ihrer Verwirklichung: in und zwischen den Religionsgemeinschaften, privat oder organisiert, lokal wie national und international.

Tübingen, im Mai 2019 Dr. Markus Weingardt

Einleitung

Vor mehr als 1.400 Jahren rief ein Mann namens Muhammad ibn Abdallah in einem entlegenen Winkel der Welt, nämlich der Arabischen Halbinsel, seine henotheistischen Zeitgenossen zu dem Glauben an den einen und einzigen Gott auf, den er in seinen Predigten als den Erbarmer, den Barmherzigen beschrieb.

Gleich, wie man Muhammads Wirken bewerten mag, sein Aufruf, seine spirituellen Übungen, Ethik und Taten haben die Welt verändert. Nach einigen Historikern leitete jener Mann, der heute im Allgemeinen unter Muslimen und Nichtmuslimen schlicht als „der Prophet“ bekannt ist, die Zeitenwende von der Antike zum Mittelalter ein. Nach dem französischen Schriftsteller und Politiker Alphonse de Lamartine (gest. 1869) war Muhammad „Gründer zwanzig irdischer Imperien und eines geistigen Reiches“1, sodass seine Gestalt in einer nahezu erstaunlichen Weise bis heute global präsent ist.

Seine Weltbedeutung provoziert. Zahlreiche Muhammad-Bilder kursieren unter Muslimen und Nichtmuslimen. Seine Bekanntheit und das scheinbare Wissen, wer Muhammad war, erschweren eine Annäherung an ihn und seine Botschaft, insbesondere zu einer Zeit, in der weite Teile der Welt, und damit Nichtmuslime als auch Muslime, sich mit der Herausforderung eines islamisch verbrämten Terrorismus konfrontiert sehen. Für Muhammad-Verehrer und -Sympathisanten hat der Islam nichts mit Gewalt zu tun. Für Muhammad-Gegner wurzelt die Gewalt in der Botschaft des Propheten und seinen Handlungen.

Für die in diesem Buch vorgestellten Gelehrten, Denker, Aktivisten und Bewegungen einer islamisch begründeten Gewaltfreiheit beginnt das Nachdenken über Gewaltlosigkeit mit einer Reflexion über Muhammad. Sie gelangen zu einem Bild vom Propheten, der in einer gewaltsamen und grausamen Gesellschaft lebte, in der das Primat des Stärkeren dominierte, und dagegen Nichtaggression, Barmherzigkeit durch Nächstenliebe und das Primat des Rechts lehrte. Muhammad ist für sie alle Identifikationsfigur für ein spirituelles Leben vor Gott und den Menschen, das sich durch inneren Frieden auszeichnet, der in die Welt hinausgetragen wird. Muslim zu sein, bedeutet für sie, Botschafter des Friedens zu sein und dort, wo Konflikte vorherrschen, zu ihrer Deeskalierung beizutragen.

Doch dieses Muhammad-Bild, darin sind sich alle in diesem Buch vorgestellten Persönlichkeiten einig, wurde nach dem Ableben des Propheten nach und nach zugunsten der Expansionsbestrebungen muslimischer Dynastien verdrängt. Es entstand das geschichtsmächtige Bild eines Propheten, der Staatsmann und Militärführer war, obwohl er selber niemals persönlich gekämpft hat oder bewaffnet in eine Schlacht zur Verteidigung Medinas zog, so der Muhammad-Biograph Syed Ameer Ali.2

Konfrontiert mit einem islamisch verbrämten Terrorismus und Totalitarismus infolge der Ideologisierung des Islam Anfang des 20. Jahrhunderts sehen sie es als ihre Pflicht durch Wort, Schrift und Tat, der Friedensbotschaft des Propheten in der Welt abermals Gehör zu verschaffen und umzusetzen. Damit befinden sie sich inmitten eines Deutungsstreites mit Gewalttätern muslimischen Glaubens, aber auch passiven Gläubigen über das „richtige“ Muhammad-Bild und somit über das Erbe des Propheten und die Zukunft seiner Gemeinschaft.

Ob sie erfolgreich sein werden? Veränderungen geschehen niemals plötzlich. Veränderungen sind kein einfaches Unterfangen. Nie frei von Kontroversen und herben Rückschlägen. Veränderungen brauchen Nachdruck, Beständigkeit und Entschlossenheit. Die Saat wurde gesät. Sie kann aufgehen und schließlich Veränderung bewirken. Genau hiervon erzählt dieses Buch.

1 Vgl. Haikal, Muhammad Hussain (1987: 7).

2 Vgl. Ali, Syed Ameer (1873: 95).

Der Gelehrte: Jawdat Saʿids Ethik der Gewaltlosigkeit


Jawdat Saʿid

Jawdat Saʿid (geb. 1931) ist ein muslimischer Gelehrter aus Syrien, der sich ausdrücklich in die Tradition von Reformern wie Jamal Al-Din Al-Afghani (gest. 1897),3 Muhammad Abduh (gest. 1905),4 Muhammad Iqbal (gest. 1938),5 Malek Bennabi (gest. 1973) und Muhammad Asad (gest. 1992) stellt.6 Während andere muslimische Gelehrte und Denker weiterhin unbefangen über die juristische Frage publizieren, wann der ğihād als gerechte Selbstverteidigung legitim ist, wie ein solcher Kampf ausgefochten werden darf und was seine Grenzen sind, schlägt der an der Al-Azhar-Universität ausgebildete Gelehrte eine Gegenrichtung ein, wenn er in dieser schwierigen Zeit vom „Tod jeglichen Krieges“7 schreibt und damit seine intellektuellen Energien in den Dienst eines islamischen Friedenspotenzials stellt.

Saʿid hatte während seiner Studienzeit Ende der 1940er-Jahre miterlebt, wie die ägyptische Muslimbruderschaft immer militanter wurde.

Ihre Versuche, durch Attentate eine politische Veränderung zu erreichen, schadeten nicht nur dem Islam, sondern schufen zugleich ein gesellschaftliches Klima der Angst. So war es dem Staat dann möglich, Schritt für Schritt, zugunsten der Sicherheit, die bürgerlichen Freiheiten einzuschränken – bis heute. Von daher betrachtet er seinen Ansatz eines gewaltfreien islamischen Widerstandsrechts ausdrücklich als eine Gegenposition zu den muslimischen Gruppierungen in der Moderne, die allzu oft Gewalt als Mittel zum Zweck einsetzen, um politische Realitäten zu verändern. Insbesondere wendet er sich gegen das Denken des Ideologen Sayyid Qutb (gest. 1966), der den ğihād als Befreiungskampf zur Errichtung einer globalen Gottesherrschaft deutete.8 Als Reaktion auf dessen gewaltlegitimierenden Schriften verfasste Saʿid schließlich 1966 sein wegweisendes Buch Die Schule von Adams Sohn: Das Problem der Gewalt in der islamischen Welt. In elf weiteren Büchern baute er seine Lehre von der Gewaltlosigkeit im Islam weiter aus.

Nach seiner Rückkehr nach Syrien arbeitete Saʿid als Lehrer in Damaskus. Nach mehrmaligen Verhaftungen wegen seines gewaltlosen Engagements wurde er schließlich aus dem Staatsdienst entlassen. Ab 1973 siedelte der Gelehrte daher in sein Heimatdorf auf dem Golan zurück. Für den Versuch Anfang der 2000er-Jahre, seine Lehre in die Praxis umzusetzen und in Syrien eine Bürgerrechtsbewegung zu gründen, wurden seine Mitstreiter mit bis zu fünf Jahren Haft verurteilt. In den Bewegungen des Arabischen Frühlings bekam Saʿid in Syrien für seine Thesen dann wieder mehr Aufmerksamkeit. Auf Protestbannern konnte man immer wieder Zitate aus seinen Büchern lesen, und er selbst ermahnte die Demonstranten, sich nicht vom Assad-Regime zu gewalttätigen Handlungen provozieren zu lassen. Doch die Revolution schlug um in einen bewaffneten und blutigen Konflikt als der syrische Präsident mit Gewalt gegen die friedlich Protestierenden vorging.

Der 26-jährige Schneider Ghiyath Matar, der in seiner Heimatstadt Daraya den Spitznamen „Kleiner Gandhi“ innehatte, postete damals auf seiner Facebook-Seite: „Wir wählen die Gewaltlosigkeit nicht aus Schwäche oder Feigheit, sondern aufgrund einer moralischen Überzeugung; wir wollen den Sieg nicht erringen, indem wir unser Land zerstören.“9 Am 6. September 2011 wurde er von Sicherheitskräften festgenommen, wenige Tage später wurde seine verstümmelte Leiche seiner Familie und seiner schwangeren Frau zurückgegeben.10

Nach Amnesty International wurden zwischen 2011 und 2015 auf Anordnung von höchster Ebene bis zu 13.000 Häftlinge hingerichtet, entweder nach einem kurzen Scheinprozess oder ohne Gerichtsurteil. Assad zielte hierbei auf Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer, Intellektuelle, kritische Militärs, also jene Schicht, die man für einen Übergang zu demokratischen Verhältnissen braucht.11 Die Journalistin Andrea Böhm schreibt: „Assad wusste genau, wen er ermorden musste, um sich am Ende der internationalen Gemeinschaft als „alternativlos“ zu präsentieren.“12

Unter diesen Bedingungen sah sich der heute 88-jährige Jawdat Saʿid gezwungen, in die Türkei zu fliehen.

Das gewaltlose Ethos im Islam

Zweifelslos ist Saʿids Ansatz eines gewaltlosen Widerstandes, der selbst jegliches Recht auf Selbstverteidigung verwirft, in der Gegenwart für Muslime etwas radikal Neues und zugleich ein alternativer, noch nicht begangener Weg. Seine These eröffnet er mit einem theologischen Schachzug, indem er auf die Erzählung von den beiden Söhnen Adams verweist.13 Hierzu heißt es in der Offenbarung:

Und verkünde ihnen der Wahrheit gemäß die Geschichte der beiden Söhne Adams, als sie ein Opfer darbrachten.

Angenommen wurde es von dem einen von ihnen, aber nicht von dem anderen. Er sprach: „Wahrlich, ich schlage dich tot!“

(Der andere) sprach: „Siehe, Gott nimmt nur von den Gottesfürchtigen an. Wahrlich, erhebst du auch deine Hand gegen mich, um mich totzuschlagen, so erhebe ich doch nicht meine Hand gegen dich, um dich zu erschlagen. Siehe, ich fürchte Gott, den Herrn der Welten. Siehe, ich will, dass du dir meine und deine Sünde auflädst und ein Bewohner des Feuers wirst; denn dies ist der Lohn der Missetäter.“

Da trieb es ihn, seinen Bruder zu erschlagen, und so erschlug er ihn und wurde einer der Verlorenen.

Und Gott sandte einen Raben, dass er auf dem Boden scharrte, um ihm zu zeigen, wie er die Missetat an seinem Bruder verbergen könnte.

Er sprach: „O weh mir! Bin ich zu kraftlos, wie dieser Rabe zu sein und die Missetat an meinem Bruder zu verbergen?“ Und so wurde er reumütig.

Aus diesem Grunde haben Wir den Kindern Israels angeordnet, dass wer einen Menschen tötet, ohne dass dieser einen Mord begangen oder Unheil im Lande angerichtet hat, wie einer sein soll, der die ganze Menschheit ermordet hat. Und wer ein Leben erhält, soll sein, als hätte er die ganze Menschheit am Leben erhalten.

Und zu ihnen kamen Unsere Gesandten mit deutlichen Beweisen; aber selbst dann waren viele von ihnen (weiterhin) ausschweifend auf Erden. (5:27–32)

Damit stehen zwei Handlungen am Anfang der Menschheitsgeschichte: einmal der gewaltlose Widerstand und einmal der Mord.

Da beide Söhne Adams im Qurʾān namenlos bleiben, berichtet die Erzählung als Gattungsform der Urgeschichte ungeschichtlich von der ältesten Periode der Menschheitsgeschichte. Dadurch gibt sie inhaltlich immer und überall erfahrbare Grundzüge des Menschseins wieder, indem diese narrativ in die Uranfänge zurückversetzt werden. Deswegen gibt Gott ihnen im Qurʾān auch keine Namen, da jeder Mensch ein Sohn Adams bzw. eine Tochter Adams ist. Hier soll also etwas Grundsätzliches und Universelles berichtet werden. In der ausführlichen Wiedergabe der Rede des später ermordeten Sohnes Adams sieht Saʿid ein Ethos formuliert, das der Menschheit eine neue Morgenröte bereiten könnte, nämlich den Verzicht auf jegliche Handlung, die Gewalt beinhaltet, selbst bis hin zur Aufgabe des Rechts auf Selbstverteidigung14:

Wahrlich, erhebst du auch deine Hand gegen mich, um mich totzuschlagen, so erhebe ich doch nicht meine Hand gegen dich, um dich zu erschlagen.

Diese Handlungsweise stellt nach Saʿid kein singuläres Phänomen dar, sondern ist eine prophetische Handlungsmaxime:15

In der Noah-Erzählung heißt es:

Und trage ihnen die Geschichte Noahs vor, als er zu seinem Volke sprach: „O mein Volk! Wenn euch mein Aufenthalt und mein Ermahnen mit Gottes Botschaft auch lästig ist, so vertraue ich doch auf Gott. Ihr und euere Götter einigt euch unbeirrt über euer Vorgehen. Entscheidet über mich und gebt mir keine Frist.“ (10:71)

 

Während in der Moses-Erzählung steht:

Wir entsandten schon Moses mit Unseren Zeichen und mit eindeutiger Vollmacht zu Pharao und Haman und Korah, doch sie sagten: „Ein Zauberer! Ein Lügner!“ Und als er mit der Wahrheit von Uns zu ihnen kam, sagten sie: „Tötet die Söhne derer, die seinen Glauben teilen, laßt aber ihre Frauen leben.“ Aber die Anschläge der Glaubensverweigerer schlugen fehl. Da sprach Pharao: „Laßt mich Moses töten – soll er doch seinen Herrn rufen! Denn ich fürchte, er ändert eueren Glauben oder läßt im Lande Unheil entstehen.“

Moses aber sprach: „Ich nehme meine Zuflucht zu meinem Herrn vor einem jeden Hochmütigen, der an den Tag der Rechenschaft nicht glaubt.“ (40:23–27)

Ähnlich steht in der Hud-Erzählung geschrieben:

Und zu den Ad (sandten Wir) ihren Bruder Hud. Er sprach: „O mein Volk, dient Gott; ihr habt keinen Gott außer Ihm. Wollt ihr (Ihn) nicht fürchten?“

Die Anführer der Glaubensverweigerer seines Volkes sprachen: „Wahrlich, wir sehen dich in Torheit befangen. In der Tat, wir erachten dich für einen Lügner.“

Er sprach: „O mein Volk! An mir ist keine Torheit, sondern ich bin ein Gesandter vom Herrn der Welten. Ich bestelle euch die Botschaft meines Herrn, und ich bin euch ein treuer Berater.“ (7:65–68)

Analog heißt es in der Schuayb-Erzählung:

Die Wortführer der Hochtrabenden seines Volkes sprachen: „Wahrlich, wir werden dich aus unseren Städten heraustreiben, o Schuayb, samt den Gläubigen, die bei dir sind, es sei denn, ihr kehrt zu unserer Religion zurück.“

Er sprach: „Etwa auch, wenn sie uns ein Gräuel ist? Wenn wir zu euerer Religion zurückkehrten, würden wir gegen Gott eine Lüge ersinnen, nachdem uns Gott aus ihr befreite. Wir kehren nicht zu ihr zurück, es sei denn, Gott, unser Herr, wollte es. Unser Herr umfaßt alle Dinge mit Seinem Wissen. Auf Gott vertrauen wir. Unser Herr, entscheide nach der Wahrheit zwischen uns und unserem Volk: Du bist der beste Richter.“ (7:88–89)

In all diesen Erzählungen sind die Propheten und ihre Anhänger stets eine Minderheit in ihrer jeweiligen andersgläubigen Gesellschaft. Sie werden mit Gewalt konfrontiert, wenden selber aber keine Gewalt an. Anhand dieser prophetischen Lebensmodelle schlussfolgert Saʿid, dass die Propheten in ihren jeweiligen Gesellschaften zwar Wandel erzielen wollten, diesen jedoch niemals gewaltsam herbeiführten. Zu sehr ruhte ihr Vertrauen in die Offenbarung, die allen menschlichen Konzepten und Ideen überlegen ist und sich daher unter allen Umständen eines Tages friedlich und durch Überzeugungsarbeit durchsetzen würde.16

Auf den ersten Blick scheinen jedoch die prophetische Botschaft Muhammads und dessen Lebensmodell hierzu im Widerspruch zu stehen, da der Qurʾān das Recht auf Selbstverteidigung beinhaltet.

Nach Saʿid unterscheidet sich das prophetische Lebensmodell Muhammads von nahezu allen vorherigen Propheten – mit Ausnahme Davids und Salomos –, da es in zwei Phasen unterteilt werden kann: einer mekkanischen und einer medinensischen.

Diese beiden Lebensphasen müssen genauestens in ihrem Kontext verstanden werden, damit sie weder von Extremisten muslimischen Glaubens noch von Islamophoben missbraucht werden können: In der ersten dreizehn Jahre andauernden Phase, nämlich der mekkanischen, wurde der muslimischen Gemeinschaft trotz Verfolgung, Folter, sogar Tötung jeglicher gewaltsame Widerstand untersagt. Die Biografien zahlreicher Prophetengefährten legen Zeugnis für deren gewaltlosen Ungehorsam ab. So heißt es in einer mekkanischen Offenbarung:17

Doch nein! Gehorche ihm [dem Aggressor] nicht, sondern wirf dich (vor Gott) nieder und nähere dich (Ihm). (96:19)

In Mekka fand sich der Prophet Muhammad, so Saʿid, in der gleichen Situation vor, wie so viele Propheten vor ihm, ein einzelner Gottesrufer inmitten einer Gesellschaft der Glaubensverweigerer.

Diese Situation änderte sich aber grundlegend 622 mit der Auswanderung (hiğra) der muslimischen Gemeinde nach Medina, wo sie von ihren Glaubensgeschwistern empfangen und aufgenommen wurde. Das vormalige Yathrib wird nun zu Medina, der Stadt des Propheten (madinatu ʾn-nabī), einer Oase mit einer religionspluralen Gesellschaft (Muslime und Juden), gegründet auf dem Glauben an den einen Gott. In der mekkanischen Phase war es den Muslimen inmitten einer unislamischen Gesellschaft nicht gestattet, sich mittels Gewalt gegen Angriffe zu verteidigen, verteidigen dürfen sie sich aber nun in der medinensischen Phase, da Medina eine auf dem Gottesglauben gegründete souveräne Gesellschaft ist,18 in der die Muslime Regierungsverantwortung haben und für die Sicherheit der Oasenbewohner verantwortlich sind. So wie es David (siehe z. B. Psalm 18,33–51) und Salomo gestattet war, zur Verteidigung Israels zu den Waffen zu greifen, so dürfen dies nun auch die Muslime. Der Kontext hat sich grundsätzlich gewandelt, daher heißt es im Qurʾān:19

Erlaubnis [zur Verteidigung] ist denen gegeben, die bekämpft werden – weil ihnen Unrecht angetan wurde – und Gott hat gewiß die Macht, ihnen beizustehen; (22:39)

Gott verbietet euch nicht, gegen die gütig und gerecht zu sein, die euch nicht wegen eueres Glaubens bekämpft oder euch aus eueren Häusern vertrieben haben. Gott liebt fürwahr die gerecht Handelnden. (60:8)

Saʿid unterscheidet ableitend aus dem Lebenskontext des Propheten Muhammad zwischen dem gewalttätigen Widerstand einer muslimischen Minderheit in einer nicht muslimischen Gesellschaft, den er verurteilt, und der berechtigten Verteidigung einer souveränen Gesellschaft vor Angriffen von außen.

Für die Gegenwart plädiert er allerdings für den totalen Gewaltverzicht, denn im Zeitalter atomarer, biologischer und chemischer Massenvernichtungswaffen sei jede Form von Krieg irrational, da die Menschheit die Waffen zu ihrer eigenen Vernichtung erbaut habe.

Widersprüchlich hierzu ist allerdings seine Haltung zum bewaffneten Widerstand in Palästina gegen die israelische Besatzung, den er aufgrund seines Gedankenganges verurteilen müsste, aber in einem Interview 1998 de facto nicht tat.20 Gleichwohl er den Palästinensern den gewaltlosen Widerstand ans Herz legte. Gegenwärtig lehnt der bekennende Assad-Gegner wiederum den bewaffneten Kampf in Syrien gegen das Assad-Regime mit den Worten ab, dass jene, die an die Macht der Waffen glauben, nicht an die Macht der Wahrheit glauben würden.21