"George Grosz freigesprochen"

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
"George Grosz freigesprochen"
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Moritz Goldstein

„George Grosz freigesprochen“

MORITZ GOLDSTEIN

„GEORGE GROSZ FREIGESPROCHEN“

Gerichtsreportagen aus der

Weimarer Republik

Herausgegeben von Manfred Voigts

und Till Schickedanz

© e-book Ausgabe CEP Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2014

eISBN 978-3-86393-522-1

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Übersetzung, Vervielfältigung (auch fotomechanisch), der elektronischen Speicherung auf einem Datenträger oder in einer Datenbank, der körperlichen und unkörperlichen Wiedergabe (auch am Bildschirm, auch auf dem Weg der Datenübertragung) vorbehalten.

Informationen zu unserem Verlagsprogramm finden Sie im Internet unter www.europaeische-verlagsanstalt.de

INHALT

Manfred Voigts Vorwort

Biographisches

Als Gerichtsreporter in der Vossischen

Gerichtsreportagen

Vom Tagewerk der Justiz

Zwei Giftmischerinnen.

Gattenmordprozeß in Moabit

Das Urteil gegen die Giftmischerinnen

Freundinnen

Banderolen

Ein Pechvogel

Graf Helldorfs Zusammenstoß.

Geldstrafe wegen fahrlässiger Körperverletzung

Brauchen wir Gerichtskritiker?

Der Verräter

Jagd auf Stoffe

Nach der falschen Seite

Ein Leben ohne Glück

Der Einbrecher als Erzieher

Sling in Moabit.

„Richter und Gerichtete“

Schorfheide.

Beleidiger des Preußischen Ministerpräsidenten

George Grosz freigesprochen

Das Verbrechergesicht

Der Rennfahrer muß

Film und Leben.

Olga Tschechowa vor dem Arbeitsgericht

Die Schöffin

Der gerechte Richter.

Das Strafbuch der 21 Paragraphen

Der hochwertige Teil.

Der Nationalsozialist Strasser vor Gericht

Der politische Ankläger.

Wer folgt auf Oberstaatsanwalt Binder?

Die Aufbaumappe

Das Blatt des Adels.

Neuer Streit um den Sergeanten Grischa

Das schlechte Leben.

Raubmord im Pferdestall

Die reine Überlieferung.

Hans Pfitzner gegen Alfred Einstein

Nationales Einheitsgeschäft

Der heiße Brei.

Beleidigungsprozeß gegen die „Rote Fahne“

Sex Appeal.

Marlene Dietrich vor dem Bühnenschiedsgericht

Bruno Scherl

Der beste Anwalt

Der Weg der Menschlichkeit.

Rechts und links von der Strafvollzugsreform

Die Aussage

Jacke wie Hose

Täglicher Bedarf

Der Mensch in der Robe.

Martin Beradt: „Der deutsche Richter“

Zuzutrauen ...

Des Kaisers Gerechtigkeit

Das Geheimnis des Steuerausschusses

Goebbels – Theater vor Gericht

Ein fünfzehntel Richter.

Der Schutz des Angeklagten

Wer ist schuld an Wessels Tod?

Der richtige und der falsche Arzt

Die Großstadt der kleinen Leute

Rumänisches Gold

Der Gerichtsberichterstatter.

Inquit in der Lessing-Hochschule

Die berufenen Vertreter.

George Grosz wieder vor Gericht

George Grosz freigesprochen

Deutsche Stammeskunde

Der witzige Richter

Der Streit um den Eid

Uniformgeist

S.A.-Dienst geht vor Verlagsdienst.

Die Stennes-Revolte beim Arbeitsgericht

Adolf Legalité.

Hitlers Bekenntnis

Gerechtigkeit im Ausland.

Vier Bücher angewandter Justiz

35 Sorgenkinder der Gesellschaft.

Die Atmosphäre von Scheuen

Justizflaschenbier

Stolz und aufrecht.

Widersprüche im Helldorf-Prozeß

Zauberlehrling am Kurfürstendamm.

Die Urteilsbegründung im Helldorf-Prozeß

Gesundheit und Charakter

Kannegießer macht Politik.

Beleidigungsklage des Reichspressechefs

Die Stempelbrüder von Felseneck

„Nicht geeignet“.

Die Niederlage der Funkstunde

Razzia auf Bettel-Leute

Das „Material“ des „Angriff“.

Hetze gegen den Polizeivizepräsidenten

Menschliches Verfahren

Wenn zwei dasselbe tun ...

Wels’ Kampf gegen seine Beleidiger

„... wenn sie mit mir reden“

Altes deutsches Recht

Till Schicketanz

 

„... da sagt Marlene Dietrich nein.“ Der Gerichtsberichtserstatter Moritz Goldstein (1880–1977)

Auswahlbibliographie

Ausgewählte Literatur zu Leben und Werk

Editorische Notiz

Dank

Manfred Voigts VORWORT

In ruhigen Zeiten kommt ein durchschnittlicher Bürger eigentlich nicht vor Gericht. In unruhigen Zeiten ist das anders, die sozialen ebenso wie die poli tischen Bewegungen und Brüche bringen es mit sich, daß im Gerichtssaal ein fast vollständiger Querschnitt der Gesellschaft vor den Richter tritt. So war es in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren: Der Existenzkampf breiter Schichten war durchzogen von kleinen und großen Straftaten, die Möglichkeiten eines steilen Aufstieges ermunterten zu Betrügereien, die politischen Auseinandersetzungen, oft handgreiflich ausgetragen, trafen oft genug Unbeteiligte. Die Berichte über Gerichtsverhandlungen konnten in diesen Jahren den Zustand der Gesellschaft in seiner extremen Zerrissenheit und Unruhe besser darstellen als eine soziologische Untersuchung – wenn sie so scharf beobachtend und zugleich mitfühlend waren wie die Gerichtsreportagen von Moritz Goldstein.

Moritz Goldstein war Jude, er war assimiliert, groß geworden im Kaiserreich Wilhelms II. Das war die Zeit, in der die Uniform, der Talar oder die Richterrobe noch Bedeutung hatten und soziale Distanz und obrigkeitliche Macht symbolisierten. Der Gehrock als Zeichen besonderer Würde und Verantwortung wurde noch von Konrad Adenauer getragen. Goldstein kritisierte 1931 in einem Artikel den „Uniformgeist“. Der demokratischen Weimarer Republik stand Goldstein zunächst kritisch bis abwartend gegen über, sein Begriff der hohen Kultur konnte sich mit den neu aufkommenden kulturellen Tendenzen nur langsam arrangieren. Moritz Goldstein war Jude, 1912 erschien sein aufsehenerregender Aufsatz „Deutsch-jüdischer Parnaß“, in dem er die Juden aufforderte, ihre eigene Kultur zu schaffen. „Warum gibt es so viele jüdische Journalisten?“ – fragte er dort.

Ein Journalist ist ein Spiegel: die Bilder des Tages auffangen und zurückwerfen, das ist seines Wesens. Ist es jüdisch, nur Spiegel zu sein, statt selbst zu schaffen? Ihr behauptet es, viele glauben es. Ich aber sage: nein! Sondern wer nichts war als ein Spiegel, anschmiegsam, gewandt, wer sich abzufinden, vorliebzunehmen wußte, der kam in unsrer jüdisch-halben Situation obenauf. So mußte man sein, um sich in einer Umgebung von Verächtern durchzusetzen.1

Ein Schaffender wollte Goldstein sein, er schrieb Erzählungen, Romane und Theaterstücke, der Erfolg aber blieb ihm versagt. Er wurde Journalist. Aber er wurde kein Spiegel. Fast als Gegenbild unterzeichnete er seine Artikel mit ‚Inquit‘ (er untersucht). In seiner Dissertation von 1906 taucht dieses lateinische Wort bei ihm erstmals auf und bezeichnet den Verzicht auf ästhetische Wirkung.2 ‚Er untersucht‘ – dies war sein Programm als Gerichtsberichterstatter an der Vossischen Zeitung. Er untersucht, das bedeu tet: Er untersucht in alle Richtungen, also etwas, das die Staats anwaltschaft in den Jahren, in denen er seine Artikel schrieb, nicht immer tat.

Die Justiz hatte am Aufstieg und am Sieg des Nationalsozialismus keinen geringen Anteil. Immer klarer wurde Goldstein, daß in der Weimarer Republik eine ‚politische Justiz‘ (Otto Kirchheimer) herrschte. Goldstein kannte Robert Kempner, den späteren Ankläger der Nürnberger Prozesse. Damals war Kempner Justitiar der Polizeiabteilung im Preußischen Innenministerium, Preußen war unter dem Ministerpräsidenten Otto Braun ein Bollwerk der Demokratie. Kempner gab 1929 unter dem Titel Richter und Gerichtete Gerichtsreportagen von Paul Schlesinger heraus, der vor Goldstein die Gerichtsreportagen für die ‚Vossische‘ unter dem Pseudonym ‚Sling‘ geschrieben und sie überhaupt erst zu einer anerkannten Institution gemacht hatte – Goldstein schrieb in „Sling in Moabit“ über dieses Buch. Im August 1930 wurde eine Denkschrift verfaßt, an der auch Kempner mitgearbeitet hatte, nach der die NSDAP als „staats- und republikfeindliche, hochverräterische Verbindung“ sofort zu verbieten sei.3 Der Reichskanzler Brüning weigerte sich, juristische Schritte vorzunehmen, man müsse sich „davor hüten, dieselben falschen Methoden gegen die Nationalsozialisten anzuwenden, welche in der Vorkriegszeit gegen die Sozialdemokraten angewendet worden seien“.4

Es gibt keinen Hinweis darauf, daß Goldstein von dieser Denkschrift Kenntnis hatte. Aber was ihm klar war und was er vielleicht gerade durch seine Skepsis gegenüber den neuen demokratischen Gesetzen und Institutionen deutlicher sah als andere war, daß geschriebenes Recht allein nie ausreicht, um Recht zu schaffen, daß vielmehr zuletzt immer und einzig der einzelne Mensch für das Recht eintritt oder nicht eintritt. Das galt besonders in jenen Jahren, in denen Goldstein aus den Gerichtssälen berichtete. Vor der Revolution war es ideell zuletzt die Person des Kaisers, die das Recht sichern konnte – wie Goldstein erinnert: „Ein jeder Richter sitzt an des Kaisers Statt.“ („Des Kaisers Gerechtigkeit“) Mit seinem Sturz brach für viele eine Welt zusammen, die in den wenigen krisenhaften Jahren der Weimarer Republik nicht wieder zusammengefügt werden konnte. Es gab keine demokratische Kultur, die demokratische Zivilcourage war schwach. „Ein jeder Richter sitzt an Volkes Statt.“ – dies war Goldsteins Hoffnung, nicht aber Realität. So beschäftigte er sich nicht nur mit den Angeklagten, sondern auch mit den Richtern, die in den zunehmend politischen Prozessen abnehmend das Gesetz vertraten.

Goldstein berichtete nicht nur über die großen Prozesse, die Schlagzeilen machten – die vielen im Guten wie im Schlechten großen Namen, die in seinen Gerichtsreportagen genannt werden, müssen hier nicht wiederholt werden. Genauso wichtig sind die Beiträge über Prozesse gegen den ‚Mann von der Straße‘, weil in ihnen die heute kaum mehr nachvollziehbare Härte des ‚normalen‘ Lebens zum Ausdruck kommt. Ihm, dem Normalbürger, galt Goldsteins Sympathie trotz seiner kritischen Anmerkungen. Ihm, dem Angeklagten, fühlte er sich verwandt, nicht dem Richter. Wegen Überfüllung des Gerichtssaales mußte Goldstein im April 1929 auf der Anklagebank Platz nehmen.

Da sitze ich auf demselben Platze, auf dem ich schon so manchen in seiner Schande habe sitzen sehen [...]. Ich entsinne mich ihrer, der Gestalten und der Gesichter, wie sie hier saßen, allein und in Gruppen, und ich entsinne mich der teilnehmenden Wißbegierde, mit der ich in ihren Mienen forschte, um dahinter zu kommen, wie es wohl in ihrer Seele aussehen mochte. [...] Aber wenn nun jemand den Saal heimlich photographierte, und das Bild käme in die Hände von fremden Leuten? Für sie wäre ich der Angeklagte. [...] Und vielleicht nähme er mich aufs Korn, unterstützte die Augen durch ein Glas, und suchte zu entziffern, was auf meinen Mienen geschrieben steht. Und er läse mir gewiß die Scham der Schande ab, die Angst vor der Strafe und die unverkennbar eingegrabenen Spuren der verbrecherischen Neigung. („Das Verbrechergesicht“)

Fast einhundert Jahre hat Moritz Goldstein gelebt. Mit einem Aufsatz, mit „Deutsch-jüdischer Parnaß“, hat er sich in die Geschichte eingeschrieben. Fünf Jahre nur hatte er eine ihm angemessene und ihn ausfüllende Tätigkeit. Das Hauptwerk jener Jahre wird hier der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Ich danke Till Schicketanz für die umfangreichen Recherchen, die sachkundigen Anmerkungen und das Nachwort. Ich danke ebenso Frau Martina Flohr für die Textrevision anhand der Originale.

Manfred Voigts

Anmerkungen

1 Moritz Goldstein, „Deutsch-jüdischer Parnaß“, Der Kunstwart, Jg. 25, H. 11 (1. Märzheft 1912), S. 281–294; wieder in: Menora, Bd. 13 (2002), „Deutsch-jüdischer Parnaß. Rekonstruktion einer Debatte“, S. 39–59, hier S. 49.

2 Moritz Goldstein, Die Technik der zyklischen Rahmenerzählungen Deutschlands. Von Goethe bis Hoffmann. Berlin: B. Paul, 1906, S. 107.

3 Der verpaßte Nazi-Stopp. Die NSDAP als staats- und republikfeindliche, hochverräterische Verbindung. Preußische Denkschrift von 1930, hg. von Robert M. W. Kempner, Frankfurt a. M., Berlin, Wien: Ullstein, 1983 (Ullstein-Buch, 34159: Ullstein-Sachbuch).

4 Ebd. S. 10.

BIOGRAPHISCHES
ALS GERICHTSREPORTER IN DER VOSSISCHEN

Im Mai 1928 befand ich mich im Auftrage meines Blattes und des Verlages auf einer Rundreise durch Holland, die vom Verein der Amsterdamer Presse aus Anlaß der bevorstehenden Olympiade veranstaltet wurde. Auf der letzten Station, im Haag, als wir im Begriffe waren, uns zu einem der vielen Festmähler niederzulassen, begrüßte unser dortiger Korrespondent mich mit der Frage: „Was sagen Sie zu Slings Tode?“ Ich erschrak tief: ich hatte einen Freund völlig unerwarteter Weise verloren. Was ich nicht ahnte, war, daß diese Trauerbotschaft für mich in einen Glücksfall umschlagen sollte.

Sling, mit seinem bürgerlichen Namen Paul Schlesinger, hatte in seinen jungen Jahren dem literarischen Kabarett „Die elf Scharfrichter“ in München angehört, das durch die Teilnahme Frank Wedekinds seinen Rang und seine Weihe erhielt. Aus jener Zeit pflegte Sling zu erzählen, sie wären am Sylvesterabend trübselig im Hinterzimmer ihres Stammkaffees zusammengewesen. Dort hätte ein Gönner sie aufgestöbert und, die Situation durchschauend, sich vernehmen lassen: „Übrigens, meine Herren, da fällt mir ein, ich bin jedem von Ihnen noch zehn Mark schuldig“. Worauf Sling eingewandt haben soll: „Entschuldigen Sie, Herr Baron, bei mir waren es zwanzig.“ Dies sei ihm nur angehängt worden, behauptete Sling, und so war es gewiß. Später ging er zur Presse, gehörte zur Redaktion eines Schweizer Blattes und hatte als ganz junger Eleve Dienst an jenem denkwürdigen Sonntag, als das Luftschiff des Grafen Zeppelin seine erste große Fahrt antrat. Er sah die Wichtigkeit der ersten Meldung, veranlaßte die Herausgabe eines Extrablattes und verfolgte den Kurs des Lenkballons mit immer neuen Extrablättern bis zu der Katastrophe von Echterdingen. Die Größen der Redaktion und des Verlages, die den Sommersonntag im Freien verbracht hatten, kamen am Abend herbeigeströmt, um sich ihr Teil an der Tüchtigkeit des Blattes zu sichern, und waren sehr verblüfft, als spiritus rector der ganzen Aktion den jungen Schlesinger vorzufinden. In späteren Jahren wurde er Ullstein-Korrespondent und saß als solcher lange Jahre in München, geschätzt, ohne hervorzuragen. Als die Inflation Einschränkungen erzwang, wurde er nach Berlin zurückberufen, und es fragte sich für ihn, was nun? Er kam mit dem Plan, wie er sich selbst später mir gegenüber ausdrückte, „Berlin zu schreiben“. Er begann sofort mit kleinen Plaudereien, die er fast täglich zu liefern vermochte und in denen er das Berlin einer gewissen bürgerlichen Schicht aufzufangen wußte. Geistvolles Spiel und melancholischer Humor wurden in künstlerisch geschliffener Form vorgeführt. Für diese Veröffentlichungen erdachte er sich die Chiffre Sling. Sie fanden sofort heitere Resonanz, die Leser ergötzten sich schmunzelnd an den einfallsreichen und vielsagenden Anekdoten und genossen zugleich das literarisch anspruchsvolle Niveau. Binnen Kurzem hatte sich das schlagkräftige Pseudonym Ansehen und Popularität erworben.

Sling besaß jene geheimnisvolle Qualität, die den Erfolg macht. In den wenigen Jahren seiner journalistischen Berühmtheit, die ihm vergönnt waren, schrieb er mehrere Theaterstücke, einen Roman, Kinderbücher und vieles andere. Keine von diesen Arbeiten fand ich bedeutend, aber jede gelangte an die Öffentlichkeit und erntete Beifall. Er verfügte zugleich über das Talent, sich selbst zu lanzieren. Man sagte von ihm, wenn er zum Verlag gerufen würde, weil ihm gekündigt werden sollte, so käme er mit einer Gehaltserhöhung wieder heraus. Eins seiner Rezepte, um sich beliebt zu machen, hat er mir eines Tages uneigennützig verraten. „Ich gehe niemals“, so lautete es, „zu einem der Verleger oder Direktoren, ohne zu wissen, welchen Witz ich binnen fünf Minuten machen werde.“ Er machte sehr gute Witze, die besten unvorbereitet.

 

Aber auch ein fruchtbarer Schreiber kommt in Gefahr, sich zu erschöpfen, wenn er von sich täglich oder fast täglich Einfälle fordert. Dies erfuhr auch Sling, und so verfiel er auf den Ausweg, Kriminalprozessen beizuwohnen. Seine Absicht war dabei nur, sich Stoff zu holen, um weiter „Berlin zu schreiben“.

Dieser Umweg erwies sich in seiner schriftstellerischen Karriere als ein neuer oder erst der eigentliche Treffer. Gerichtsberichterstattung war bis dahin ohne jeden literarischen Ehrgeiz abgemacht worden. Er zuerst gab ihr Niveau und sogleich das des höchsten Anspruches. Er zuerst zeigte den Angeklagten als einen Menschen nicht nur, sondern als deinen und meinen Mitmenschen. Er zuerst sah und enthüllte das Menschliche auch in den gerichtlichen Amtspersonen. So, während er fortfuhr, Berlin zu schreiben, wuchsen seine Anekdoten zu Enthüllungen der Kreatur, wie sie von einem unerforschlichen Schicksal bald in die Rolle des Gerichteten, bald in die des Richters gedrängt wird. Täglich breitete er seine Moabiter Fälle aus, gelegentlich auch Fälle der Provinz, die abwechselnd Fälle des Sünders oder des Richters oder des Anklägers oder des Verteidigers waren. Niemals bei aller Sachlichkeit begnügte er sich mit dem trockenen Bericht, sondern er durchleuchtete das Stückchen Leben mit Geist oder milderte seine Kraßheit, durch Humor, und hielt jeder Schwachheit und Unzulänglichkeit ein menschenfreundliches Verständnis bereit.

Diese völlig neue Art, die Vorgänge der Kriminalgerichte zu betrachten, wurde mit Enthusiasmus aufgenommen, nicht nur von den Lesern, sondern auch in juristischen Kreisen. Allmählich, ohne daß er danach gestrebt hatte, entwickelte er sich zu einem fachmännischen Kritiker des forensischen Vorganges, dessen Rat gesucht, dessen Feder zugleich gefürchtet war. Er gewann Einfluß, und diese oder jene Begnadigung und diese oder jene Personalveränderung lassen sich auf sein gedrucktes Wort zurückführen. Sein Beispiel machte Schule: bald mußte jede Berliner Zeitung ihren kleinen Sling haben, bisweilen höchst unzulängliche Nachahmungen des Originals.

Kurze Zeit, nachdem Paul Schlesinger von München nach Berlin übergesiedelt war, näherten wir uns einander. Ich rechne es zu den besten Errungenschaften meines Lebens, daß er es war, der meine Freundschaft suchte, und daß er es war, der das Du zwischen uns herbeiführte. Er vertraute mir manches an, was er ande­ren nicht offenbart haben dürfte, und so erfuhr ich von ihm auch nach Verlauf einiger Jahre, daß er fand, er habe nun genug Moabiter Slings geschrieben und sollte sein Gebiet wechseln. Daß dies leichter gesagt als getan sei, fügte er gleich hinzu. Indessen die Entscheidung wurde ihm abgenommen: kurz nach seinem 50. Geburts­tag, den er fast übermütig gefeiert hatte, starb er, völlig unerwartet, selber in keiner Weise auf das Ende gefaßt, mitten im Schaffen und im Erfolg. Er ist, wie mir scheint, unvergessen, nicht nur als Mensch bei denen, die ihn gekannt haben, sondern auch mit seiner Leistung. Der Sammelband der besten seiner Gerichtsberichte, die der Verlag Ullstein nach seinem Tode unter dem Slingschen Titel „Richter und Gerichtete“ herausgab, leuchtet und sprüht heute, in dieser völlig veränderten Welt, so hell wie zu der Zeit, da die Beiträge aus der Lebendigkeit des Tages hervorgesprudelt sind.

*

Es entstand nun die Frage, ob diese Art von Gerichtskritik fortgesetzt werden sollte und wer sie fortsetzen könnte. Der „Vossischen Zeitung“ hatte die Chiffre Sling eine starke Anziehung verliehen, und es war gewiß, daß die Leser sie vermissen würden. Aber ließ sich der Stil des Verstorbenen nachahmen? Oder würde etwas anderes, das man etwa an die Stelle setzte, den gleichen Beifall finden?

Von den Erwägungen, die darüber an der maßgebenden Stelle stattfanden, kenne ich nur das Ergebnis: ich wurde aufgefordert, mit einer Respektspause von wenigen Wochen Slings Platz einzunehmen. Das hatte für mich zunächst die sehr erwünschte Folge, daß ich den Posten eines stellvertretenden Leiters der Lokalredaktion aufgeben durfte und von redaktionellem Bureaudienst überhaupt befreit wurde. Fortan brauchte ich nur zu hören, zu sehen und zu schreiben. Über die Schwierigkeit der Aufgabe täuschte ich mich nicht: Meine Bemühungen würden mit einem sehr anspruchs­vollen Maße und von manchen Beurteilern mit viel Mißgunst und hähmischer Besserwisserei gemessen werden. Julius Elbau setzte voraus, wie er mir ohne Schonung eröffnete, es würden erst drei oder vier Bewerber ausprobiert werden, ehe man sich mit einem endgültig zufrieden gäbe. Dr. Franz Ullstein hingegen, die oberste Instanz der Tageszeitungen und der eigentliche Chef des Hauses, ermutigte mich mit dem Zuspruch: „Lassen Sie sich ruhig Zeit, sich einzuarbeiten.“ Es waren die menschlichsten Worte, die ich je von ihm vernommen habe, eigentlich die einzig menschlichen.

Obwohl ich den Auftrag nicht erwartet hatte, so war ich doch, seltsamer Weise, kein unbeschriebenes Blatt auf diesem Gebiet. Zunächst hatte ich Sling gelegentlich vertreten. Außerdem aber durfte ich auf so etwas wie eine spezielle Vorbereitung hinweisen: In den Anfängen meines Dienstes in der Lokalredaktion, als noch von keinem Sling die Rede war, hatte ich vorgeschlagen, ich würde eine Zeit lang als einfacher Zuschauer Gerichtsverhandlungen beiwohnen und dann über meine Beobachtungen und Erfahrungen schreiben. Das war der Redaktion recht, und ich tat so. Die Ergebnisse faßte ich für die „Vossische Zeitung“ zusammen in einem Zyklus von drei großen Aufsätzen unter dem gemeinsamen Titel: „Vom Tagewerk der Justiz“. Ich finde, daß alle wesentlichen Erkenntnisse meiner jahrelangen Tätigkeit auf den Gerichten darin schon enthalten sind. Georg Bernhard suchte mich in meinem Redaktionszimmer auf und fragte mich, ob ich nicht fortfahren möchte, über Gerichte zu schreiben. Damals also hätte ich Sling werden können lange vor Sling. Aber ich hatte nicht die Vision, ich sah die Möglichkeiten nicht voraus, wie ja auch Sling selber ahnungslos diese Bahn betrat, und so lehnte ich ab.

Der Auftrag des Verlages enthielt die Bedingung, daß ich unter der Chiffre Inquit schreiben sollte. Dieses Pseudonym war nicht ihm eingefallen, sondern mir. Ich weiß nicht mehr, wie ich darauf verfiel, wohl aber, wann und wo es geschah. Während des ersten Weltkrieges stand ich Posten vor einem französischen Dorfe, an einer Stelle, an der es nichts zu bewachen gab, durch Wochen täglich und nächtlich viele Stunden. Dabei konnte man sich allerlei durch den Kopf gehen lassen, namentlich ungestört Pläne für die Zukunft schmieden. Und in Verbindung mit ihnen begegnete mir dieses geläufige Wort aus der Lateinstunde als ein passender, nämlich origineller und doch leicht zu merkender Deckname. Bei der „Vossischen Zeitung“ hatte ich das Pseudonym dann verwendet, nicht sehr häufig, für Beiträge, mit denen ich unwichtige Ereignisse glossierte. Darauf also griff der Verlag jetzt zurück, und vielleicht verfuhr er damit nicht ungeschickt. Am 25. Juni 1928 schrieb ich meinen ersten Gerichts-Inquit „Banderolen“.

Damit begannen die fünf besten Jahre meines Lebens. Ich schlug nicht gleich ein, wie das Sling seinerzeit gelungen war; ich mußte mich erst zurechttasten und für diese Art von Schreibe­rei meinen Stil finden. Die Aufsichtsinstanzen des Verlages überwachten mich scharfen Auges und zu Tadel gern bereit. Indessen ich setzte mich durch. Nach einer gewissen Zeit war nicht mehr die Rede davon, daß ich durch einen anderen abgelöst werden könnte. Daß ich mit Sling verglichen wurde, ließ sich nicht vermeiden. Manche zogen ihn vor; andere fanden mich besser. Im Übrigen versuchte ich in keiner Weise, ihn nachzuahmen; sondern, indem ich die überlieferte Art im Ganzen beibehielt, machte ich meine Sache so, wie es meinem Wesen und meiner Begabung entsprach. Allmählich wurde auch aus mir ein Erfolg, und ich glaube, er stieg mit den Jahren; wenn ich auch nie Slings Popularität erreichte. Denn er unterstützte sein literarisches Werk durch persönliche Verbindungen, während ich aus der Isolierung nie völlig herauskam. In mancher Beziehung machte ich dieselben Erfahrungen wie er. Auch bei mir wuchs die Hochachtung vor dem deutschen Strafrichter, je länger ich ihn beobachtete. Umso größer freilich war dann die Enttäuschung, als er vor den Machthabern des Dritten Reiches überall völlig versagte. Auch ich empfand nach einer gewissen Zeit: jetzt ist es genug, ich sollte mich auf ein neues Gebiet werfen. Denn literarisch gesprochen waren schließlich alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Man sollte nicht glauben, daß etwa Totschläge aus Eifersucht einförmig werden können. Aber sie spielen sich ab wie über den selben Leisten geschlagen. Alle möglichen Fälle waren wiederholt und immer noch einmal vorgekommen, aus dem ganzen Strafgesetzbuch hatte ich schließlich nur zwei Verbrechen nicht erlebt: Verursachung einer Überschwemmung und Sodomie. Das erste stand einmal zur Verhandlung an, aber es wurde nichts daraus. Das zweite kam nie in Sicht. Einen Ersatz für meine Gerichts-Inquits zu finden, wäre auch für mich nicht leicht gewesen; aber auch mir wurde die Entscheidung abgenommen.

*

Wenn ich gefragt würde, was ich über diese Art von Journalistik denke und ob ich sie wieder aufnehmen möchte, so ist die Antwort nicht ganz einfach. Die Regel, daß Gerichte öffentlich verhandeln, in allen Kulturstaaten anerkannt, bedeutet keine bloße Formalität. Ihr Sinn ist vielmehr, daß die Richter in ihrer schicksalsvollen Tätigkeit kontrolliert werden sollen. Aber das Publikum, das in beschränkter Zahl zugelassen wird und sich auf ein paar Bänken im Hintergrunde drängt, von denen aus es meist nicht deutlich sehen noch verstehen kann, hat garkeine kontrollierende Macht. Sollte es sich einfallen lassen, Zustimmung oder Widerspruch zu äußern, so droht der Vorsitzende mit Räumung, die er ohne Weiteres durchführen kann. Sogar darf er Störenfriede kurzer Hand vor die Schranken rufen und bestrafen. Eine wirksame Öffentlichkeit stellt nur die Presse dar, und eine wirksame Kontrolle kann nur von ihr ausgehen.

Wenn es jemals wichtig war, die deutschen Gerichte unter Kontrolle zu nehmen, so ist es heute der Fall, nämlich um nachzuprüfen, wie sie jetzt, nach dem Dritten Reich, arbeiten und ob sie zum Recht zurückgefunden haben. Aber jene unbeschränkte Kritik, die wir uns damals herausnehmen durften, weckt doch starke Bedenken. Es gehört nämlich nicht viel dazu, ein Urteil abfällig zu kritisieren. Der Journalist, der das tut, verfügt zunächst einmal nicht über den vollen Umfang der erreichbaren Information, selbst wenn er der Verhandlung von Anfang bis zu Ende beigewohnt hat und selbst wenn ihm kein Wort entgangen sein sollte. Denn ihm steht nicht das Recht des Fragens zu, das er hätte ausüben dürfen, wenn er selbst ein Mitglied der Urteilskammer gewesen wäre. Ferner aber: es ist kinderleicht, als Außenstehender ohne richterliche Verantwortung milder zu sein als das Gericht, oder auch strenger. Wer weiß, wie der Spruch dieses selben Menschen ausgefallen wäre, wenn er mit von ihm abgehangen hätte, in seiner Eigenschaft als Richter unter seiner Berufspflicht oder als Geschwo­rener oder Schöffe unter seinem Eid; ein Spruch, den er vor seinem Gewissen verantworten müßte. Kritik ist gewiß im Ganzen heilsam, nicht, weil Richter das Recht zu beugen pflegen, sondern weil das, was sie für göttliches Recht halten, abhängt von ihren sozialen Vorurteilen und ihren polischen Anschauungen. Daß ihre Welt nicht die ganze Welt bedeutet, und daß ihre Zeit nicht ewig dauert, das sollte ihnen immer wieder ins Bewußtsein gerufen werden. Aber um dieses Amt auszuüben, dazu gehört ein überlegener, unvoreingenommener und höchst gewissenhafter Mensch. Ich glaube, daß Sling mit seiner wohlwollenden Überwachung im Wesentlichen Gutes gestiftet hat, und ich darf vielleicht dasselbe für mich in Anspruch nehmen. Indessen daß ungeprüft jeder, den irgendeine Redaktion auf die Gerichte schickt, ohne Beschränkung kritisieren darf, sogar noch bevor ein Urteil gefällt worden ist – in angelsächsischen Ländern völlig undenkbar –, das heißt denn doch wohl, den Grundsatz übertreiben. Öffentlichkeit der Gerichte ist heilsam und notwendig, aber Schutz der Richter darf darunter nicht leiden.

Denn obwohl in einer Verhandlung manches sich abspielt wie auf der Bühne, so ist doch das Gericht kein Theater. Und grade darin liegt die Hauptgefahr der unbeschränkten Kritik: sie kann den Richter dazu verleiten, für die Presse zu spielen. Es gibt Richter, denen es völlig gleichgültig ist, was die Zeitungen sagen. Aber es fehlt auch nicht an solchen, die erstens in der Zeitung überhaupt erwähnt und zweitens gelobt sein wollen; namentlich wenn sie sich eine günstige Wirkung auf ihre Karriere versprechen davon, daß sie mit einem gewissen Strom der öffentlichen Meinung übereinstimmen oder übereinzustimmen scheinen. Ich war schließlich im Moabiter Kriminalgericht bekannt, und man wußte im Großen und Ganzen, wie ich über Dinge und Menschen dachte. Nicht ganz selten habe ich bemerkt, wie der Verhandlungsleiter, wenn ich den Saal betrat, seinen Ton gegenüber dem Angeklagten änderte.