Ein Hauch von Bergamotte

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Ein Hauch von Bergamotte
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Monika Hoesch

Ein Hauch von Bergamotte


Engelsdorfer Verlag

2015

Bibliografische Information durch Die Deutsche Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag

Titelbild und Zeichnungen © Monika Hoesch

Alle Rechte bei der Autorin

1. digitale Auflage: Zeilenwert 2015

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

I Aufbruch

II Wildgänse

III John

IV Rose

V Das Buch

VI Kalle

VII Das Alte Land

VIII Die Flotte Lotte

IX Zeitlos

X Stadt der Kinder

XI Erinnerungen

XII Baum der Erkenntnis

XIII Sternschnuppenregen

XIV Adieu, Licht des Südens

XV Selbstverständlich

XVI Rückenwind

XVII Zuhause

XVIII Zwiegespräch

Weitere Bücher

I
Aufbruch

„Ich werde dich nie verlassen.

In meinem Herzen wirst du immer bei mir sein!“


Zärtlich streichelte Robin über das zerzauste, rote Haar seiner kleinen Schwester, die verzweifelt versuchte ihre Tränen einfach hinabzuschlucken. Ergriffen rang sie nach weiteren Worten, doch nur Stille strömte aus ihrem leicht geöffneten Mund.

Selbst das Atmen fällt schwer, wenn man Tränen unterdrücken möchte. Der Hals beginnt zu schmerzen, doch man ist seinen Gefühlen machtlos ausgeliefert. Die Augen sprechen immer die Wahrheit – sie lügen nie. Sie weinen, auch wenn man es nicht zeigen möchte. Das Herz ist stärker als der Geist und gerade das, macht es so verletzlich.

Luna hatte ihren Entschluss längst gefasst. Sie wollte sich auf die Suche machen. Sie suchte Klarheit; suchte bereits ihr ganzes Leben lang nach der Antwort auf die eine offene Frage. Sie suchte nach dem, was ihr Tag und Nacht nicht mehr aus dem Kopf ging – nach dem Sinn des Lebens.

„Ich liebe dich!“, flüsterte Robin. „Ich liebe dich, Kleines!“, wiederholte er Angst gequält. Am liebsten würde er sie festhalten wollen; ihr verbieten wegzugehen oder sie einfach bitten. Er würde sie tausend Mal bitten, wenn er Gewissheit hätte, dass es etwas nützen würde. Doch ihm war bewusst, dass dies nicht der richtige Weg war.

Die emotionale Grenze war erreicht. Erreicht und bereits weit überschritten. Jetzt war es egal. Tränen liefen Luna über die rot durchbluteten Wangen, hinunter bis zu ihrem Kinn. Sie tropften hinab auf ihr grünes Shirt und hinterließen dunkelgrüne, fast schwarze, nasse Salzflecken.

„Nun fahr los, Kleines! Finde die Antwort auf deine Frage und mache sie mir eines Tages zum Geschenk. Ich werde hier auf dich warten. Und vergiss nie: Ich glaube an dich! Du hast deine Aufgabe bekommen. Erfülle sie, damit du Frieden findest in deinem Herzen. Wenn du die Antwort weißt, sag sie deinem großen, dummen Bruder. Ich weiß sie leider nicht. Ich kann sie dir nicht geben!“

Die Morgensonne färbte den Himmel lila-rot und ein feiner Windhauch blies den goldgelben Ähren auf den Feldern zärtlich den letzten Schlaf aus ihren Köpfen. Robin hatte schon vor einer Stunde den Heißluftballon für seine Schwester mit Luft gefüllt und die große, imposante, birnenförmige Hülle zeigte sich in ihrem ganzen Bunt. So stand der Ballon dort – noch fest verleint und startbereit für eine Fahrt ins Ungewisse.

Es roch immer noch nach Sommer, wenn es auch bereits mit riesigen Schritten auf den Herbst zuging. Sicher, Robin machte sich einerseits große Sorgen und der Gedanke, dass Luna etwas zustoßen könnte, machte ihm enorme Angst, doch andererseits war ihm bewusst, dass sie ohne diese Reise nie ihre innere Ruhe finden würde, sie würde immer auf der Suche sein und es stets bleiben.

Seit dem tragischen Unfall vor einigen Jahren, bei dem ihre Eltern beide ums Leben kamen, war er derjenige, der die Verantwortung für seine Schwester trug. Er war Vater und Mutter, Bruder und Freund in einer Person. Sie waren weder Kinder noch Erwachsene. Die Zeit hatte das Band zerrissen – das Band der kindlichen Naivität, der Unbefangenheit, Sicherheit und Geborgenheit. Alles was sie am Leben hielt, war ihre Liebe zueinander. So wuchsen sie an den Herausforderungen des Lebens und schützten dieses wertvolle Stück Band das übrig geblieben war. Jeder der beiden war für den anderen Bereicherung, Halt und Zuhause. Doch nun war die Zeit gekommen, wo auch er loslassen musste.

Selbstverständlich sorgte er sich! Es war ‚seine Kleine‘, die er immer beschützt hatte; so gut er konnte.

„Der Wind steht gut!“ Robin prüfte ein letztes Mal die Funktionstüchtigkeit des Ballons. Luna nickte redescheu. Den Abschied hinauszögern wollend sagte sie: „Schau nur, dieser wunderschöne Sonnenaufgang.“

Beide sahen nachdenklich, jeder für sich seine eigenen Gedanken nachhängend, in den Himmel. Jetzt war die Sonne ihre Verbündete. Sie würde die Nestwärme der Geborgenheit geben müssen, die sie sich bisher wohlwollend gegenseitig gegeben hatten.

Als die Morgensonne sich dann noch einmal mit ganzer Kraft durch die letzten dahin ziehenden Wolken schob und die Körper der Geschwister wärmend streifte, nahm Robin Luna fest in die Arme. Er vergrub sein Gesicht dabei in das leuchtend rote, wehende Haar seiner Schwester und sog mit einem tiefen Atemzug ihren vertrauten Geruch in sich auf. Wie gut roch dieser Duft der Herzenswärme. Dieser eigenwillige, wunderbar weiche Duft, den er so liebte. Er wird ihn für lange Zeit sehr vermissen müssen.

Erinnerungen schlafen einen leichten Schlaf, wenn man liebt.

Flink kletterte Luna in den großen Korb des Heißluftballons und nahm das Reisegepäck von ihrem Bruder entgegen. Nahrungsmittel, eine wärmende Decke, eine Taschenlampe und viele wichtige Kleinigkeiten. Sie legte ihr Reisegepäck ordentlich sortiert auf den Holzboden des Korbes und ordnete es so an, dass das Gleichgewicht des Ballons nicht verloren ging.

Als sie sich ein letztes Mal über den Rand des Korbes beugte, um ihren Bruder so fest sie konnte zu umarmen, liefen abermals Tränen über das zarte, hellhäutige Gesicht. Auch Robin weinte. Wie so oft gab er ihr einen Kuss auf die Stupsnase – sanft und liebevoll. Dann löste er die Halteseile und ließ Luna schweren Herzens auf ihre Antwort suchende Reise gehen.

„Pass auf dich auf, Kleines!“, rief er ihr winkend zu.

„Mach ich. Versprochen! Ich habe dich sehr lieb, Robin!“ Lunas Lippen zitterten.

„Ich dich auch, meine Kleine!“ murmelte er.

Als der Ballon vom Boden abhob, ging alles blitzschnell. Er erreichte in kürzester Zeit eine erstaunliche Höhe, wobei die beiden sich unaufhörlich winkend nicht aus den Augen ließen. Robins Gestalt wurde klein und kleiner und noch kleiner als kleiner und bald war sie nur noch als winziger Punkt am Boden zu sehen. Schließlich verschwand auch dieser irgendwann ganz.

II
Wildgänse

‚Alleinsein schmerzt, wenn man allein sein muss.‘


Nun war sie auf sich gestellt. Es wurde still. Diese Stille in luftiger Höhe tat gut. Sie war beruhigend, ließ den Puls leiser schlagen, fast still stehen. Das Atmen wurde gleichmäßig und ruhig. Eine angenehme Leichtigkeit leitete die Gedanken in eine positive Richtung. Tiefes, kraftvolles Einatmen – und plötzlich war alles ganz harmonisch. Luna genoss diese Stille. Von oben sieht man die Welt mit anderen Augen. Die Hektik und das schnelllebige Treiben in der Welt; die ständig rastlosen und keine Zeit mehr habenden Menschen, all das war plötzlich ganz weit weg. Sie nahm nur Ruhe wahr. Eine wohltuende, tiefgehende Ruhe. Hier oben gab es keine Zwänge, keinen Druck, nur eine gewisse Lässigkeit. Man hatte das Gefühl die Zeit würde stehen bleiben. Die Wolken und sie waren eine Einheit. Gemeinsam zogen sie bedächtig über das weite Land. Schweben. Stille. Einklang. Die einzigen Geräusche, die zu hören waren, gingen von ihr aus. Sie hörte sich atmen.

 

Ja, sie hörte sich tatsächlich atmen!

Mit Sicherheit vergingen einige Stunden. So genau wusste sie es nicht. Es war auch nicht wichtig. Es war mehr das Bedürfnis nach Essen, das sie aus dieser Stimmung zurück ins Jetzt holte. Die Provianttasche war prall gefüllt. Sie griff nach einem Apfel und ein belegtes Brot, biss hungrig hinein und fragte sich, warum es wohl in diesem Moment so außergewöhnlich gut schmeckte.

Ein entferntes Geräusch holte sie aus diesem genießerischen Moment zurück und ließ ihren Blick suchend schweifen. Die Laute kamen näher. Sie vernahm bald ein deutliches Kreischen. In der Ferne konnte sie einen großen Schwarm Wildgänse erkennen, der sich ihr zügig näherte.

Jetzt war der Ruf der Zugvögel unüberhörbar. Die V-förmige Formation steuerte wie ein schnellender Pfeil auf sie zu. Ihr Herz pochte bis zum Hals. Verängstigt starrte sie mit weit aufgerissenen Augen auf das sich auf sie zubewegende spitze V.

‚Angst ist kein guter Ratgeber‘, sagt Robin immer. Doch Angst kommt ungefragt, dachte Luna. Eine Vielzahl von Möglichkeiten schossen ihr durch den Kopf.

Was konnte sie tun? Konnte sie überhaupt irgendetwas tun? Hatte sie noch die Zeit, den Heißluftballon steigen oder sinken zu lassen? Wohl kaum. Die Formation näherte sich bedrohlich schnell. Wenn die Tiere ihre Ballonhülle attackieren würden, wäre sie verloren.

Der auf sie zusteuernde lebende Pfeil war nicht aufzuhalten. Ihr Herz jagte. Sie hockte sich rasend vor Angst in eine Ecke des Korbes und schlug sich schützend ihre Decke um Körper und Kopf. Lediglich ein verängstigtes Augenpaar lugte dabei vorsichtig durch das Geflecht hindurch, um abzuwarten, zu hoffen oder aber sich seinem Schicksal zu fügen. Es waren sicherlich hunderte Gänse. Gefühlt waren es viele tausende Vögel. Wenn die Tiere sich durch sie bedroht fühlten, würden sie sie genau jetzt in diesem Moment angreifen. Das würde ihr Tod bedeuten.

Das Geschrei der Tiere war gellend laut. Sie kauerte in ihrer Ecke, kniff die Augen fest zusammen und presste ihre Handflächen so fest sie konnte auf die Ohren. Dann passierte es. Wie durch ein Wunder zog der Schwarm kontinuierlich und unbeirrt über ihren Ballon fort.

Luna hatte fürchterliche Angst. Trotzdem öffnete sie ungeduldig wieder ihre Augen. Sie blickte hoch in den Himmel und fand sich inmitten des kreischenden Schwarmes, der sie gar nicht wahrzunehmen schien.

Es war ein überwältigender Moment. Die Tiere waren laut, jedoch friedfertig. Ihre Furcht war unbegründet. Fasziniert und voller Begeisterung blickte sie auf dieses wunderschöne Naturereignis. Sie fühlte sich, als wäre sie genau in diesem Augenblick ein Teil von ihnen. Ja! Im Grunde genommen war sie ein Teil dieses Ganzen.

Hätten die Tiere sie als Feind gesehen, wäre sie ihnen hilflos ausgeliefert gewesen. Das war ihr mehr als bewusst.


Schon kurze Zeit später waren die Wildgänse über sie hinweggezogen und orientierten sich unermüdlich weiter in südliche Richtung. Sie folgten ihrem Instinkt auf ihre eigene lebensnotwendige Reise, die sie noch oft an ihre Grenzen bringen würde. Sicherlich war auch ‚das‘ eine weitere Gemeinsamkeit zwischen ihnen, dachte Luna.

Ihr Herz pochte noch immer sehr schnell. Das gerade erlebte Szenario; diese beeindruckenden Bilder liefen im Geiste immer wieder wie ein Film vor ihren Augen ab. Das Gefühl der Gemeinsamkeit war ein gutes Gefühl. Die dahin ziehenden Vögel nahmen ihr einen Teil der Sorge; trugen sie mit sich auf ihre Reise der Ungewissheit. Gewissermaßen waren sie Gleichgesinnte – mit einem Unterschied: die Vögel kannten ihr Ziel.

Luna wünschte ihnen gedanklich alles Gute. Ob sie im Frühjahr alle wieder hierher zurückkehren würden? Viele Tiere würden die körperliche Strapaze nicht überleben und einige würden Beute für überlegenere Gegner werden. Der Gedanke, dass das Frühjahr ihnen zugleich neues Leben schenken würde und vertraute Gefilde sie erneut willkommen heißen würden, gefiel ihr deutlich besser.

Das Gefühl der Verbundenheit wurde immer stärker. Mehr denn je fühlte sie sich als Teil dieser Natur. Sie lernte von ihr. Die Natur begleitete sie in ihrem Wirken, sie gab ihrem Dasein Lebendigkeit und lehrte sie Leben. Sie wurde akzeptiert. Das zu fühlen tat unendlich gut. Sie sah dem Schwarm fast ein wenig traurig hinterher und empfand in der darauf folgenden Stille einen wehmütigen Verlust.

Ob die Wildgänse ihren Sinn des Lebens kannten?

Eines stand fest. Sie folgten ihrem ureigenen Instinkt – so, wie Luna es gerade tat.

Bereits jetzt vermisste sie Robin. Besonders die Sicherheit, die ihr Wohlbehagen bereitete, wenn er seinen starken Arm um sie legte oder liebevoll über ihr rotes Haar strich. Selbst Smokey, der Kater der Nachbarn fehlte ihr. Sie vermisste das Gefühl, wenn er um ihre Beine schlich und sein Drängen und Maunzen, das rigoros ein Streicheln einforderte, sobald sie das Haus verließ oder heim kam.

Alleinsein schmerzt, wenn man allein sein muss.

Somit begann sie mit sich selbst zu reden. Sie sprach sich Mut zu und plante, sich konsequent delegierend, ihre weitere Expedition. Ein intimes Zwiegespräch mit sich und seinen Gefühlen.

Luna holte ein Notizbuch aus ihrer Tasche und schrieb ihre Gedanken auf, beginnend mit den Worten: ‚Robin, ich wünschte du wärst hier!‘

Nachdem sie ihr Gefühlsleben niedergeschrieben hatte, nahm sie aus ihren Sachen einen Skizzenblock heraus. Sie zeichnete auf der ersten Seite des Blockes in der unteren rechten Ecke den Zug der Wildgänse. Ihr erstes Abenteuer! Sie schnitt die Seite auf Postkartengröße zu, fasste ihr Erlebnis auf der Seitenrückseite in Worte und adressierte die improvisierte Karte an Robin. Sobald sich eine Gelegenheit ergab, würde sie ihre Grüße an ihn auf die Reise bringen.

Entgegengesetzt dem Zug der Wildgänse, war der Norden als erstes Ziel geplant. Der Wind spielte mit. Jetzt wo die Temperaturen noch angenehm waren, musste sie den nördlichen Regionen den Vorrang geben. Es würde sehr schnell kühler werden und die Nächte konnten sehr lang sein in der kalten Jahreszeit. Sie nahm sich vor, den Tag solange zu nutzen, wie die Bedingungen es zuließen, um möglichst weit voran zu kommen.

Luna machte sich den Wind zum Freund. Letztendlich war er es, der über Erfolg oder Scheitern entschied und er war es auch, der befehlend das Tempo der Reise diktierte.

Der Tag neigte sich dem Ende. Ebenso die kommenden Tage, die auffallend rasch vergingen. Sie liebte die Morgenröte. Diesen lieblichen warmen Gruß der frühen Stunden, wie auch den Nebel über den Feldern, der den beginnenden Tag in ein mystisches Licht tauchte.

Aber auch die Sonnenuntergänge, die kurz vor dem Einschlafen beständig ihre gerade schlummernde Melancholie weckten. Es war besonders schön unter freiem Himmel zu schlafen. Der Nachthimmel schickte sein unermessliches Sternenmeer. Die Sterne hüllten sie ein wie ein schützender Dom. Eingebettet in Decke und Schlafsack lag sie warm vermummt da und träumte sich an vertraute Orte und in die umschließenden Arme geliebter Menschen.

III
John

„Das Glück ist näher als du glaubst!“


Es war deutlich Musik zu hören. Sanfte Töne hüllten die Luft in Wohlklang. Die Saiten der Gitarre klangen warm, angenehm – zum Mitsummen einladend. Luna sah ihn auf dem Bordstein sitzen. Den Kopf zum Korpus der Gitarre geneigt, die Augen geschlossen. In sich gekehrt spürte er merklich seine Musik. Er zupfte die Saiten fast zärtlich. So, als hätte er Angst sie zu verletzen. Man sah, es erfüllte ihn mit Glück sie zu berühren, ihr poetische Klänge zu entlocken – seiner geschätzten Gitarre.

Sie ging näher und blieb vor dem Musiker stehen. Luna setzte sich zu ihm auf den Boden und hörte still zu. Nur ganz kurz blickte er auf und sah ihr in die Augen, um sie im nachfolgenden Augenblick wieder zu schließen.

Luna tat es ihm gleich. Sie schloss ihre Augen und hörte ihm zu. Gedankenversunken lauschte sie seinem Gesang und nahm ihn andächtig in sich auf. Leise sang er sein Lied, das von Liebe und Frieden erzählte. Seine Aussage war, dass man sich vorstellen solle, keinen Besitz zu haben, dass es keine Ländergrenzen gäbe, keine Religionen, keinen Grund für Habgier und keinen Hunger in der Welt. Davon, dass die Menschen ihn vielleicht für einen Träumer hielten, aber dass er nicht der Einzige wäre und er hoffe, dass man sich ihm anschließt, damit eines Tages die ganze Welt mit all ihren Menschen eins sein würde.

Sein dunkles Haar ging ihm bis zur Schulter. Hinter seiner Nickelbrille verbargen sich traurige Augen. In der Winzigkeit jenes Augenblicks war es Luna sofort aufgefallen, wie herzbewegend sein Ausdruck war. Seine traurigen Augen waren es, die sich in ihren Geist brannten.

Sein Bart wirkte wie ein zum Schutz getragenes Gewand. Es war merkwürdig, dass kein anderer Mensch in der Nähe war. Niemand beachtete ihn. Niemand hörte ihm zu. Es war, als wäre Luna die Einzige, die ihn hier sah und hörte. Wären die wunderbaren Klänge nicht gewesen – wer weiß, vielleicht hätte auch sie ihn nicht bemerkt.

Die Musik hatte sie zusammengeführt. Einer Fügung gleich, lockte seine Melodie, lotsten harmonische Klänge sie in seine Richtung und nun sang er dieses Lied, das Luna sehr nachdenklich machte, scheinbar nur für sie. Sie hörte das Lied einmal, zweimal, dreimal. Er wiederholte es immer wieder. Als könne er nur dieses eine Lied spielen. Luna wartete das diesmalige Ende vom Lied ab und sprach ihn beherzt an.


„Hallo! Ich heiße Luna. Dein Lied ist sehr schön!“

Er hob den Kopf, öffnete die Augen und schaute sie mit seinem melancholischen Blick an. „Hey, Luna. Ich bin John. Ich freue mich sehr, dass es dir gefällt. Das bedeutet mir unglaublich viel!“

Sie nickte freundlich und wies auf seine Gitarre. „Ich hörte deine Musik und konnte gar nicht anders. Ich musste zu dir kommen. Sie klingt so ehrlich und berührend. Ich finde nicht, dass du ein Träumer bist. Ich wünsche mir auch eine Welt, die eines Tages eins sein wird, dass die Menschen füreinander da sind, sich gegenseitig respektieren und das Wesentliche hüten, wie Seelenfriede und Herzenswärme. Denkst du, dass das der Sinn des Lebens ist?“

Johns nachdenklicher Gesichtsausdruck veränderte sich. Er lächelte sie fast liebevoll an und seine Augen verloren jegliche Traurigkeit. Ja! Seine Augen lächelten mit ihm. „Als ich 5 Jahre alt war, sagte mir meine Mutter, dass das Glücklichsein das Wichtigste im Leben ist. Als ich zur Schule ging, fragten sie mich, was ich sein wolle, wenn ich erwachsen bin. Ich schrieb glücklich hin. Sie sagten mir, dass ich die Aufgabe nicht verstanden habe, und ich sagte ihnen, dass sie das Leben nicht verstanden hätten.“∗

Luna hörte ihm aufmerksam zu. Seine Worte erinnerten sie an ihre Mutter und an die wunderbaren Dinge, die sie stets gesagt hatte und an die Zeit in der sie sich ihre Liebe noch zeigen konnten. Sie spürte in ihrer Erinnerung ihre schützenden Arme, die sich sicher und gleichsam sanft wie ein wärmender Mantel um sie legten, auf sie Acht gaben und hielten.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen und John fragte sie: „Du scheinst nicht glücklich! Warum bist du nicht glücklich, Luna?“

Luna antwortete nicht. Sie wischte sich ergriffen die übers Gesicht laufenden Tränen weg.

„Was macht dich so traurig, kleine Luna?“

 

Sie schaute ihn mit weinenden Augen an. „Meine Eltern leben nicht mehr. Sie fehlen mir so sehr!“

John rückte zu ihr hinüber, neigte sich ihr zu und streichelte zärtlich über ihr Haar. Eine Geste, die ihr wohl bekannt war. „Weißt du, ich bin auch alleine. Ich hatte eine Frau, die mein Herz mit Liebe füllte. Das wiederum erfüllte mich mit Glück. Jetzt habe ich nur noch meine Musik und ich versuche meine ganze Liebe, die ich in mir habe in sie hineinzulegen.“

Luna seufzte und antwortete leise: „Ich weiß, was du meinst. Ich verstehe dich gut. Ich habe Robin. Robin ist mein Bruder und er macht das auch. Er füllt mein Herz mit Liebe! Ich liebe ihn sehr, John.“

Er nickte und nahm ihre kindliche Hand fest in seine, dabei strich sein Daumen liebevoll in einem fort über ihren Handrücken. „Das ist Glück, Luna! Großes Glück! Du solltest das niemals vergessen. Lieben und geliebt zu werden, das ist der Sinn des Lebens. Es macht dich als Mensch vollkommen! Du musst immer deinem Herzen folgen, dann wirst auch du glücklich sein! Die Zeit, die du mit deinen Eltern verbringen durftest, war für dich eine erfüllte und unglaublich schöne Zeit. Vergiss das nicht wenn du deinen Weg fortsetzt. Sei dankbar für das was gewesen ist und behalte diese Erinnerungen für immer im Herzen. Es erlebt zu haben – das ist großes Glück. Im Herzen leben die Erinnerungen. Du trägst sie in dir und niemand kann sie dir nehmen. Das Glück ist näher als du glaubst, Luna. Es ist in dir drin!“

Johns Daumen streichelte immer noch ihre kindliche Hand, dann drehte er sie um und zeichnete mit seinem Zeigefinger eine imaginäre Musiknote in ihre Handinnenfläche. „Geh deinen Weg, kleine Luna. Wenn du mich brauchst, lege deine Hand an dein Ohr und ich werde für dich mein Lied spielen. Du und ich werden die Welt eins werden lassen! Erinnerungen sterben nie. Werde glücklich, kleine Freundin – das ist der Sinn des Lebens! Dass wir uns begegnet sind, ist kein Zufall. Nichts passiert ohne Grund!“

Mit einem letzten sanften Streicheln über ihr Haar stand John auf, nahm seine Gitarre und ging fort.

Zitat John Lennon

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