Samba tanzt der Fußballgott

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Samba tanzt der Fußballgott
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Samba tanzt der Fußballgott

Brasiliens Fußball zwischen Genie und Wahnsinn


Mirco Drewes

Samba tanzt der Fußballgott

Brasiliens Fußball zwischen Genie und Wahnsinn


Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-86408-158-3

Korrektorat: Dr. Carsten Drecoll

Grafisches Gesamtkonzept, Titelgestaltung, Satz und Layout: Stefan Berndt – www.fototypo.de Coverillustration: Till Runkel – www.tillustration.de

© Copyright: Vergangenheitsverlag, Berlin / 2013

www.vergangenheitsverlag.de

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Inhalt

Vorwort

Fußball – ein brasilianisches Lebensgefühl

Vom britischen Societyevent zum brasilianischen Volkssport

Schwarze Vorkämpfer – Friedenreich und Leônidas

WM 1950 in Brasilien – die Mutter aller Niederlagen

Garrincha – Die Freude und Tränen Brasiliens

Pelé – der König und sein Schatten

Sócrates – Revolutionär und Ballzauberer

Romário – Narziss und Goldfuß

Götter und Grenzgänger – Ronaldo und Ronaldinho

Nachwort: Brasilien und die Weltmeisterschaft – Party und Proteste

Quellen

Vorwort

22 Spieler, ein Ball, zwei Tore, mehr braucht es nicht: Fußball ist ein sehr einfaches Spiel. Um sich ihm hinzugeben, braucht es nicht mal Sportvereine. Auf staubigen Bolzplätzen rund um die Welt, auf schlammigen Wiesen, in den Straßen der armen Vorstädte, überall jagen Kinder dem runden Leder nach. In den tropischen Urwäldern fertigen Indianer aus dem Harz der Bäume Kautschuk-Bälle. Wo kein Fußball zu bekommen ist, werden Socken ausgestopft, Papierkugeln zusammengepresst und alles, was rollt und fliegt, ins Spiel gebracht. Das Ziel bleibt das Gleiche: Das Tor, es ist ein Tor zur Welt.

Fußball ist ein sehr bedeutendes Spiel. Zwischen 2007 und 2010 setzte allein der Weltfußballverband über vier Milliarden Dollar um. Das Finale der Fußballweltmeisterschaft 2010 verfolgten über 750 Millionen Menschen an den Empfangsgeräten. Nicht nur ideell, auch materiell erwirtschaftet der Sport große Reichtümer. Er produziert Gewinner – und Verlierer. Er steht im Dienste der Mächtigen dieser Welt – oder stellt sich diesen in den Weg. Er schafft Abhängigkeiten – und kann befreien. Der Fußball schreibt Schicksale, er ist ein Weg zu den Menschen.

Die Jagd nach dem runden Leder fasziniert Menschen auf dem gesamten Erdball. „König Fußball“ trägt seinen Titel zu recht, sein Reich ist grenzenlos. Am 12. Juni 2014, einem Donnerstag, wird ein kurzer Pfiff das größte Sportereignis der Welt in Gang bringen. Das Auftaktspiel der 20. Fußballweltmeisterschaft beginnt in der brasilianischen Metropole São Paulo. Der fußballbegeisterte Teil der Welt schaut auf das größte südamerikanische Land.

Fußball ist nur ein Spiel – und unendlich mehr als das. In den Triumphen und Tragödien des Fußballs sieht sich das Lieblingskind der Götter beim Spielen zu – es ist ein Schicksalsspiel. Die Geschichten, die der Fußball schreibt, erzählen davon, was Menschsein bedeutet. Die Erzählungen handeln vom Streben nach Freiheit und Anerkennung, vom Rausch der Einheit und dem Ideal gesellschaftlichen Miteinanders, von Vorteilsnahme und Verrat, von politischer Unterdrückung und einer Revolution der Verhältnisse gleichermaßen. Das Hohe und das Hohle, das Lächerliche und Tragische liegen in der Geschichte des Fußballs – wie des Lebens – nahe beieinander. Wohl nirgends ist die Belichtung dieser Motive so grell, farbig und kontrastreich wie in Brasilien.

Kürzlich erinnerte Papst Franziskus, bekanntermaßen argentinischer Herkunft, an das Sprichwort: „Gott ist Brasilianer“. Wenn es jemand wissen muss, dann gewiss dessen Stellvertreter auf Erden. Und wenn es stimmt, dass Gott nicht würfelt, dann muss er einen Zweck verfolgen mit den Komödien und Tragödien, den Triumphen und Skandalen, die der Fußball Brasilien gebracht hat. Zwei Lederbälle unter dem Arm eines englischen Studenten im Hafen São Paulos, so gelangte der Virus einst nach Brasilien. Sein Fieber hält das größte südamerikanische Land seitdem gefangen.

Auf den Spuren der großen Stars und vergessenen Helden des brasilianischen Fußballs zu wandeln, bedeutet weit mehr, als legendäre Sportereignisse wieder auferstehen zu lassen. Aus den unzähligen Geschichten, die der Sport schreibt, ergibt sich zuletzt ein lebendiges Bild der einen Geschichte, die die Menschheit verbindet.

In Deutschland ist der Fußball als Angelegenheit von nationaler Wichtigkeit bekannt. Als Helmut Rahn 1954 aus dem Hintergrund schoss, gewann das junge Nachkriegsdeutschland nicht nur den Titel des Fußballweltmeisters. Das neu gewonnnene Selbstvertrauen leistete einen Beitrag zum Wiederaufbau. Vier Jahre zuvor, so sehen es nicht nur Sportreporter, erlebte sich Brasilien bei der Weltmeisterschaft im eigenen Land erstmals als eine Nation. Eine Schicksalsgemeinschaft erwachte unter dem Trillern einer Pfeife.

Reispuder in den Haaren farbiger Spieler. Indianer, die unter Einsatz ihres Lebens dem Ball nachjagen. Rassistische Schokoriegel. Verwunschene Frösche und magische Mischlingshunde. Rituelle Tor-Verbrennungen. Dem Fußball geweihte heilige Jungfrauen. Radioreporter auf der Trainerbank. Tragische Helden, dem Fußball wie dem Alkohol verfallen. Armut und der Traum vom Aufstieg. Glamour und finstere Machenschaften in Hinterzimmern. Weltruhm und geschundene Körper. Die große Stille vor dem Sturm.

Dies Buch beantwortet die Frage, wie der Fußball eine Militärdiktatur in die Knie zwang, was Frank Sinatra, der Papst und ein gewisser Alcides Ghiggia gemeinsam haben und nicht zuletzt, was es heißen mag, Brasilianer zu sein. Erinnert sei an des ehemaligen Fußballstars Paul Breitners Rätselwort, beiläufig gesprochen als Kommentator eines Freundschaftsspiels von Borussia Dortmund: „Sie müssen nicht glauben, dass sie Brasilianer sind, nur weil sie aus Brasilien kommen“. Brasilianer zu sein, verpflichtet.

Unternehmen wir eine Rundreise durch die Geschichte des brasilianischen Fußballs. An unserer Seite so prominente Reisebegleiter wie Ronaldinho und Ronaldo, Skandalnudel und Sozialreformer Romário, Fußballphilosoph und Revolutionär Sócrates, Sportlegende und Geschäftemacher Pelé, der geniale Dribbelgott und Säufer Garrincha, sowie die weitgehend vergessen Legenden Leônidas und Arthur Friedenreich, deren Geschichten vom Kampf gegen rassistische Diskriminierung handeln.

Ein Buch für alle, die im Fußball mehr sehen, als nur einen Sport.

Mirco Drewes - Berlin, im August 2013

Fußball – ein brasilianisches Lebensgefühl

„Fußball ist eine höchst kreative menschliche Aktivität. Und sie ist reich an Emotionen. Es ist der Körper, von dem die ersten Kontakte mit den Gefühlen ausgehen. Der Körper ‚spricht‘ zuerst, ist der Schatten der Seele. Er besitzt kein Bewusstsein, rationalisiert nicht. Und weil er so real, so wahrhaftig und direkt ist, wird der Fußball von vielen so geliebt.“ Brasiliens Ex-Nationalspieler Tostão über Fußball als Spiel

„Ich behandelte ‚Bola‘ immer mit Aufmerksamkeit. Denn wenn man das nicht tut, widersetzt sie sich. Aber ich war stets der Herr, und sie gehorchte. Manchmal kam sie zu mir, und ich sagte: He! Meine Kleine ... Ich ging behutsamer mit ihr um als mit meiner Frau. Ich hatte eine tiefe Zuneigung zu ihr. Gerade weil sie hart sein kann. Wenn du sie schlecht behandelst, kann sie dir das Bein brechen!“ Brasiliens Ex-Nationalspieler Nílton Santos über den Fußball als Geliebte

Die Liebe der Brasilianer zum Fußball und des Fußballs zum Brasilianer ist ein weltweit bekannter Topos. Brasilien gilt nicht nur – und das zu Recht – als eine völlig fußballverrückte Nation, die brasilianische Seleção ist auch nicht allein die statistisch erfolgreichste Auswahlmannschaft, Rekordweltmeister, nein: Der Name der südamerikanischen Nation steht weltweit als Inbegriff für all das, was den Fußball attraktiv macht. Brasilianischer Fußball steht für Inspiration, Kreativität und Eigensinn, für Fantasie und Torhunger. Bis vor wenigen Jahrzehnten noch galt der brasilianische Spielstil als absolut einzigartig, in seiner tänzerischen Eleganz, der verschwenderischen Spielfreude und technischen Klasse seiner Spieler schien er grundverschieden vom europäischen Fußball und nicht zu kopieren. Es schien maximal möglich, die Seleção an einem günstigen Tag zu besiegen, gänzlich undenkbar jedoch, es mit dieser an spielerischer Brillanz aufnehmen zu können.

 

Im 21. Jahrhundert, in Zeiten der globalen Vermarktung des Fußballs und der Ökonomisierung des Sports durch alle Bereiche lässt sich der Trend zu einer Angleichung des Spiels beobachten. Der brasilianische Fußball ist in Sachen Taktik und Athletik europäischer geworden, der europäische Fußball ist im Hinblick auf die technischen Fähigkeiten seiner Individualisten brasilianischer geworden. Der Mythos des brasilianischen Fußballs ist davon unbenommen jedoch ungebrochen. Dass sich die brasilianische Öffentlichkeit und zahlreiche ehemalige Nationalspieler nach wie vor über jede etwas defensivere Spielausrichtung der Seleção echauffieren und nach Berücksichtigung der jeweils gerade vom Trainer verschmähten, besonders unberechenbaren Offensivkünstler schreien, mag diese These bestätigen.

Natürlich ist der kickende Brasilianer zudem ein großer Exportschlager. Kein anderes Land weist so viele im Ausland kickende Profifußballer auf. Im Jahr 2008 wechselten laut Angaben der CBF, des brasilianischen Fußballverbandes, allein 1.176 Spieler als Profis ins Ausland, insgesamt lebten zu diesem Zeitpunkt bereits über 5.000 Berufskicker in der Fremde. Brasiliens unerschöpfliches Reservoir an Talenten ist Legende, allerdings eine, die mit Vorsicht zu genießen ist. Der Nimbus, der Klang des Wortes ‚Brasilien‘ in den Ohren vieler Fußballverantwortlicher verleitet allzu gern zu Leichtsinnigkeiten auf der Einkaufstour. Nicht jeder Fußballer aus Brasilien hält, was seine Herkunft verspricht, wie kostspielige und spektakuläre Bundesliga-Flops der letzten Jahre belegen – erinnert sei an den Schalker Mittelfeldspieler Zé Roberto II, über den es hieß, er habe öffentlichkeitswirksam morgens um neun Uhr betrunken Bierflaschen vor dem Haus seines Mitspielers Rafinhas balanciert, oder an den vermeintlichen Bremer Starspieler Carlos Alberto, der es dank Trainingsprügeleien und Krankmeldungen in Serie auf ganze 197 Minuten Spielzeit für seinen Verein brachte. Auch werden gern Brasilianer eingebürgert, um der jeweiligen Auswahlelf das besondere Etwas zu verleihen. Hans Hubert „Berti“ Vogts wird sich noch gut, vermutlich im Gegensatz zu so manchem deutschen Fan, an die Nationalelfkarriere von Paulo Rink erinnern. Dank dessen deutschem Urgroßvater, einem Brasilienauswanderer, wurde Rink 1998 auf Geheiß des Bundestrainers eingebürgert, um die etwas limitierte Spielstärke des deutschen Angriffs, bestehend aus filigranen Leichtfüßen wie Carsten Jancker, Oliver Bierhoff oder Alexander Zickler, aufzuwerten. Der Traum vom Sambafußball im Deutschland des ausgehenden 20. Jahrhunderts, in dem der 39-jährige Lothar Matthäus als erschreckend klassischer Libero das Zepter in der Auswahlelf schwang, wirkte ähnlich bemüht wie die Sakkos des selbstbewussten Trainerassistenten Uli Stielike. Nach 13 Länderspielen ohne Tor hatte sich Rinks Assimilation sportlich wieder erledigt. Diese Erfahrungen und der überhitzte Markt in Südamerika haben zu einer Verschiebung des Fokus auf den asiatischen Markt geführt. Doch wo immer ein Vereinspräsident oder Manager sein Profil schärfen will, kommt gern ein brasilianischer Neuzugang ins Spiel.

Mythos und Wirklichkeit

Dass Brasilien trotz dieser Entwicklungen über eine enorme Auswahl an starken Individualisten verfügt, lässt sich indirekt auch an der Klasse der Spieler ablesen, denen keine nennenswerte Auswahlkarriere beschert war. Giovane Élber etwa, der zweiterfolgreichste ausländische Torschütze in der Geschichte der Bundesliga, kam auf ganze 15 Länderspiele. Auch die Tatsache, dass er in diesen Spielen sieben Tore erzielte, reichte für weitere Berücksichtigungen nicht aus. Zu denken wäre ferner an Marcelinho, der bei Hertha BSC und dem VfL Wolfsburg glänzte und es auf fünf Länderspiele brachte, oder an den hochaufgeschossenen Torjäger Mario Jardel, der es als fünfmaliger Torschützenkönig der portugiesischen Liga, zweimaliger Gewinner des „Goldenen Schuhs“ als bester Torjäger Europas und einmaliger Toptorjäger der Champions League auf mickrige zehn Länderspiele brachte.

Verlassen wir dieses trockene Terrain der Zahlenspiele, der exemplarisch gebrauchten Einzelfallgeschichten und der Unkenrufe einer Entwicklung des brasilianischen Fußballs abseits seiner Wurzeln. Um in die Seele des „brasilianischen Fußballs“ zu schauen, muss man wissen, was der Fußball für Brasilianer bedeutet.

Fußball als Wille und Vorstellung

Einen wichtigen Hinweis liefert die Sprache: Ohne bei den Eskimos und deren Wörtern für Schnee anfangen zu wollen, kann man mit Haroldo Maranhão und seinem Fußballexikon konstatieren, dass die Brasilianer allein 37 Synonyme für den Ball kennen, darunter zärtliche Bezeichnungen wie „Junge Frau“, „Mädchen“ und „Gefährtin“ oder sehnsuchtsvolle und ambivalente wie „Umworbene“ oder „Untreue“. Mit dem legendären Radioreporter Washington Rodrigues lässt sich festhalten, „dass man in Brasilien den Ball nennen [kann], wie man will, nur nicht Ball“. Die brasilianische Liebe kennt gewiss viele Passionen, profane Züge hat sie nicht.

Der ursprünglich durch Briten importierte und britisch betriebene Sport „Football“ wurde nach der Eroberung durch die Brasilianer auch sprachlich bald vereinnahmt: „Futebol“, so nennen die Brasilianer ihren Kick, und wenn es um die spezifisch brasilianische und damit auch einzig interessante Art geht, das Spiel auszuführen, dann handelt es sich um „futebol arte“ – den kunstvollen Fußball. Brasilianer zu sein verpflichtet schließlich. Dass es beim Fußball nicht darum geht, zumindest nicht als Zweck, der die Mittel heiligt, zu gewinnen, sondern schön zu spielen, findet Ausdruck in der Formel des „jogo bonito“. Das „schöne Spiel“ bezeichnet den angriffslustigen Stil, der auf eine tänzerische Demütigung des Gegners und die Entschlossenheit zum Spektakel hinausläuft. Die Rede vom „jogo bonito“ fungiert nicht deskriptiv – es ist der kategorische Imperativ des brasilianischen Spiels. Auf individueller Ebene kommt dabei eine Entität zum Tragen, die sich in Begriffen europäischanalytischen Denkens, zumal in Fußballfragen, in denen der Europäer aus brasilianischer Perspektive ohnehin als recht stumpfsinniger Klotz gilt, schwerlich fassen lässt: das Ginga. Ursprünglich bezeichnete das Wort den Grundschritt der Capoeira, das stetige Vor- und Zurückstellen der Beine im Rhythmus der Musik. Mittlerweile und insbesondere im Zusammenhang mit futebol bedeutet es jedoch weit mehr als dies. Sich an das Ginga annähernd, ohne ein wirkliches Verständnis behaupten zu wollen, kann man mindestens vier Dimensionen ausmachen, die es tragen. Das Ginga hat eine soziohistorische, eine tänzerisch-sportliche, eine personale und eine existentialistische Seite, die sich freilich überlagern und verschränken.

Fundiert ist das Ginga in den schwarzen Wurzeln des brasilianischen Fußballs, in den Elementen, die die ehemaligen Sklaven einbrachten. Die riesige Menge ehemaliger afrikanischer Zwangsarbeiter war zu Zeiten der Leibeigenschaft bei jeder körperlichen Betätigung zur Erbauung, Ertüchtigung und Traditionspflege auf eine sublime Körperlosigkeit angewiesen. Um der Züchtigung durch die Herren zu entgehen, musste beispielsweise das Training der Kampfkunst Capoeira als Tanz getarnt werden, der den körperlichen Vollkontakt simuliert, bloß antäuscht. Als die ersten privaten Kicks zwischen vorherigen Sklavenhaltern und den ihnen nach Abschaffung der Sklaverei nun als Tagelöhner dienenden Schwarzen stattfanden, musste ein Berühren der weißen Spieler unterbleiben, da dies sonst häufig heftige Misshandlungen zur Folge hatte.

Auf den Fußball übertragen verkörpert das Ginga ein tänzerisches Prinzip, wenn es darum geht, den direkten körperlichen Zweikampf zu vermeiden und den Gegner durch Finten und geschmeidige Richtungswechsel ins Leere laufen zu lassen. Wie ein Tänzer, der die Bewegungsmuster seines Partners antizipiert, um eine Kollision zu vermeiden.

Jeder Brasilianer, so Fußballstar Robinho in einem Interview für die Dokumentation Ginga, verfüge über das Ginga, das als innere Energie und Bewegungsprinzip des ganzen Menschen, des Körpers und der Seele, spürbar sei. Für die richtige Art des Fußballspielens sei es unerlässlich, dem Ginga nachzugeben, ihm Ausdruck zu verleihen, da sich einzig so die Persönlichkeit des Menschen ausdrücken lasse. Insofern bedeutet ein Ausleben des Ginga über die personale Ebene hinausweisend vor allem: Glück.

Wenn man an den Fußball der Favelas denkt, an die soziale Chance, die eine Fußballkarriere für arme Brasilianer bedeutet, bekommt Ginga eine handfeste materialistische Bedeutung. Um Scouts aufzufallen ist es unerlässlich, die individuellen Qualitäten maximal zu exponieren. Ginga bedeutet Selbstverwirklichung – und das Verschwindenlassen des Gegners im Dribbling.

Der in der Zweckrationalität des Fußballs als Ergebnissport sozialisierte Mensch mag an seine Grenzen stoßen: Wenn jeder Spieler sich selbst auszuleben und alle einengenden Umstände tendenziell zu ignorieren trachtet, entsteht in europäischen Augen in erster Linie wohl Chaos. Ein Brasilianer sieht hier jedoch die notwendigen Voraussetzungen für einen wirklich guten Kick.

Als existenzielles Element bedeutet Ginga den Tanz der Lebensverhältnisse, den Fluss alles Seienden. Falcão, der als bester Hallenfußballer der Welt gilt, resümiert: „Ginga bedeutet, das Leben nie zu ernst zu nehmen.“ Aus der Erkenntnis des Ginga und seiner Bedeutung für den Fußball leitet Stürmerstar Robinho den Schluss ab, dass Fußball „ernster Spaß“ sei. Spaß, solange das Ginga ausgelebt wird, ernst, weil das Ginga das Wesen aller Dinge abbildet und daher auch unbedingte Folge erwarten darf. Es ergibt sich in jedem Fall eine Spielidee, die nicht primär auf das Resultat und den mannschaftlichen Erfolg spekuliert und in der Taktik oder Athletik folglich als zweitrangig betrachtet wird. Dem Fachmann seien als Beispiele für in Brasilien besonders verehrte Ginga-Experten Ronaldinho, Robinho selbst und Denilson genannt – Spieler, die neben der Zuneigung der kickenden Jugend mitunter bei europäischen Experten durchaus Kritik wegen ineffektiver Spielweise oder gar Sperenzchen auf sich ziehen und zogen. Ebenfalls sind die Genannten, man möchte sagen: selbstverständlich, Stürmer. Abwehrspieler gelten in Brasilien nicht viel, wenn sie auch nicht ganz so bedauernswert wie Torhüter sein mögen. Das defensive Denken im Fußball gilt unter den Anhängern des „jogo bonito“ als destruktiv, als kalkulierte Gemeinheit gegen das Freiheitsgefühl des Ginga, eine Partybremse letztlich. Wer die teils wahnwitzigen, aber stets mitreißenden Sturmläufe von Leverkusens brasilianischem Innenverteidiger Lucio in den Jahren 2001 bis 2004 gesehen hat, wird ermessen können, welch einen frustrierenden Verzicht das reine Verteidigen für einen Brasilianer darstellen mag. Erst der große FC Bayern München, gnadenlos auf Erfolg gepolt, gewöhnte Lucio das Stürmen ab. Die zweckrationale Begründung: Unberechenbar auch für das eigene Team, zu gefährlich.

Und was die Logik der Ereignisse angeht, die aus einem voll ausgelebten Ginga folgen, so hat Robinho eine typisch brasilianische Vorstellung über theoretische Fußballperfektion. Nicht wenige Europäer würden dem Satz, dass ein Spiel zweier perfekter Mannschaften 0:0 enden müsste, zustimmen. Robinho sieht das völlig anders: „Wenn man mit Freude und Liebe spielt, wenn man schlau ist, hat die Abwehr nie eine Chance.“ Ginga scheint eine sehr uneuropäische Angelegenheit zu sein.

1.000 und 1 Fußballmärchen

Nicht nur sprachlich sind die Brasilianer in der Lage, ihrer Liebe zum Fußball auf vielfältige Weise zu huldigen. Ausdruck findet diese Ergebenheit zum Spiel auch in der hemmungslosen Begeisterung, mit der sich Brasilianer auf alle noch so kuriosen Variationen oder Abwandlungen des Spiels stürzen.

Ein frühes Exempel für das Faible zum Fußballhybriden, in dem sich die Leidenschaft für das Ballspiel mit dem typisch brasilianischen Synkretismus verbindet, lässt sich auf das Jahr 1913 zurückführen. Theodore Roosevelt, der abenteuerlustige US-Präsident, begab sich zu jener Zeit auf eine Reise durch das Amazonas-Gebiet. Bei seinen Erkundungen traf er auf den Stamm der Pareci. Dieser Indianerstamm frönte aus allein sportlichen Gründen einem Spiel – dessen rituelle Vorläufer bei den Mayas und Azteken noch mit Menschenopfern verbunden waren –, bei dem sich zwei Mannschaften gegenüberstanden, die sich einen Ball aus getrocknetem Kautschuk zuspielten, ohne dass dieser den Boden berühren durfte. Stundenlang und nur mit dem Kopf! Roosevelts Begeisterung für dieses Spiel, präzise „Kopfball“ benannt, sprach sich bis nach Rio de Janeiro herum. Eine großstädtische Zeitung regte an, die Indianer nach Rio einzuladen. Ein solches Kopfballspektakel versprach „interessant und originell“ zu sein, zudem hätte es gegenüber dem noch stark britisch dominierten Football seiner Zeit ein ureigen brasilianisches Element inne.

 

Nach neun Jahren erfüllten schließlich 16 Indianer den Großstädtern den, sicherlich aus ihrer Warte unverständlichen, Wunsch und reisten über 2.000 Kilometer zu einem Showmatch an. Der mediale Wirbel in Rio war riesig, alle Zeitungen kündeten das Spektakel an. Fluminense stellte sein Stadion, das damals größte in Brasilien, zur Verfügung. Die Indianer zelteten nach ihrer Ankunft am Tag vor dem Spiel auf dem Spielfeld und erwachten am nächsten Morgen mit einem Schock: Einer der Spieler war in Folge der Reisestrapazen über Nacht verstorben.

Dennoch musste das Zicunati-Spiel, so der indianische Name, stattfinden. Vor dem Spiel hatten die indianischen Gastspieler mit glatt gekämmten Haaren und in Pfadfinderkluft Aufstellung zu nehmen. Es wurde vor großer Stadionkulisse feierlich die brasilianische Nationalhymne im indianischen Pareci-Dialekt gesungen. Anschließend wurden die verdutzten Indianer in Fußballjerseys gesteckt und zur Mittellinie dirigiert.

Bald nach dem Beginn des Spiels drohte kurzzeitig ein Abbruch. Die Zuschauer hatten rasch die Regeln verstanden und begannen die Spieler anzufeuern, was diese in Angst versetzte. Nach gutem Zureden wurde das Spiel doch noch zu Ende geführt; das 21:20 der weißen Mannschaft gegen die Blauen wurde von den Fans bejubelt und am nächsten Tag in den Sportteilen der Zeitungen äußerst lobend besprochen.

Einzig die Protagonisten hatten nicht verstanden, was dieser ganze Zirkus bezwecken sollte. Häuptling Coloisoressê gab O Imparcial ein Interview, das an dieser Tatsache keinen Zweifel ließ: „All das Zeug wie Fußballschuhe, Trikots und Hosen – das ist nur lästig! Auch der Rasen behindert.“ Die Indianer zogen anschließend in ihr Dorf zurück, wo das Spiel noch heute Anwendung findet. Die Großstädter hatten ihren Spaß gehabt, wenn sich auch in Rio Zicunati nie etablierte. Sehr im Unterschied zu Autoball!

Blech und Büffelleder

Die wechselhafte Geschichte dieses merkwürdigen Motorsports beginnt in den 1930er-Jahren im badischen Karlsruhe und führte über das Rio de Janeiro der 1970er-Jahre zurück nach Deutschland, wo es der Fernsehentertainer Stefan Raab wiederbelebte. Die Begeisterung für den Ball verbindet eben die Völker – und Autofahrer.

Der in den 1920er-Jahren bekannte Automobilrennfahrer Karl Kappler setzte am 16. Juni 1933 seine eigentümliche Idee eines Spiels um, bei welchem zwei Autos gegeneinander um einen riesigen Ball von 120 cm Durchmesser (praktischerweise von der Reifenfirma Continental entwickelt) kämpften und diesen im Tor des Gegners unterzubringen versuchten. Auf dem Fußballplatz des Frankonia Karlsruhe schlug er im Mercedes-Benz seinen Kontrahenten Willy Engesser (Opel) vor mehreren Hundert Zuschauern. Mit dem Rückzug Kapplers aus dem Autoball 1935 schien das Spiel nach gerade zwei Jahren und einer Handvoll Partien bereits Geschichte zu sein.

Doch schien ein solches Spiel für die Brasilianer und ihre Liebe zu Spektakel und Mischformen aller Art allzu prädestiniert zu sein, um nicht dort eine Renaissance zu erfahren. Und tatsächlich: Nach gut dreißig Jahren in völliger Vergessenheit begannen Anfang der 1970er-Jahre in Rio de Janeiro plötzlich junge wohlhabende Großstädter sich in Gebrauchtwagen um einen gewaltigen Lederball zu balgen.

Die Frage, ob zuerst das Huhn oder das Ei dagewesen sei, lässt sich im Fall der brasilianischen Autoball-Ära eindeutig beantworten: Am Anfang war der Ball.

Nach einem wichtigen Sieg der brasilianischen Fußballnationalmannschaft hatte eine Firma aus São Paulo zur Ehrung der Spieler und als Werbegag einen riesigen Ball aus Büffelleder herstellen lassen. Einmal in der Welt musste mit diesem Ungetüm von Spielgerät doch irgendetwas anzufangen sein.

Nach einigen Jahren der Ratlosigkeit fand sich eine Gruppe von Leuten, die auf Pferdestärken setzten, wenn auch nur auf jeweils eine. In der Stadt Taubaté sollte eine Alternative zum Polo angeboten werden, die die fußballverrückten Brasilianer begeistern sollte: Pferdefußball hieß die Idee. Doch die Premiere misslang. O Globo schrieb: „Das Spiel hätte ein Publikumserfolg werden können, das Stadion war voll. Nur die Pferde waren vor dem runden Ungetüm zu Tode erschrocken. Eines wagte einen Tritt und brach sich sogleich ein Bein.“ Dass sich die beteiligten Akteure vor dem Spielgerät fürchteten und sich an diesem die Knochen brachen, machte den erwarteten neuen Trendsport bei aller Euphorie unmöglich.

Der Zuführung des riesenhaften Spielgeräts, zu dem es noch kein Spiel gab, zu seiner nachhaltigen Verwendung half der Zufall auf die Sprünge. Der Ball geriet in die Hände des Mannschaftsarztes des Fußballteams América. Jener Mário Tourinho, früheres Mitglied des Motorsportverbandes, fuhr in seinem Auto an der Copacabana entlang, als er plötzlich einen Fußball vom Strand kommend auf sein Auto zufliegen sah. Statt auszuweichen hielt Tourinho voll drauf und sah, justament getroffen von einem Geistesblitz, dem in hohem Bogen weit zurück „geschossenen“ Ball hinterher. Mehr Pferdestärken! Das war es.

Böse Zungen mochten behaupten, dass sich der Erfinder des Autoballs als Chirurg bloß neue Patienten zuführen wolle. Doch nicht nur Tierschützer dürften sich über das Substitut zum Pferdefußball gefreut haben. Tourinho selbst sah sich mit seiner Idee Autoball in bester hippokratischer Tradition: „In unserer heutigen Zeit, da der Alltagsstress bei so vielen Menschen immer mehr Neurosen hervorruft, ist Autoball keine schlechte Therapie.“

In der Halbzeit des Fußballspiels zwischen Flamengo und Madueira fand am 19. September 1970 das erste Autoballspiel auf einem Nebenplatz statt. Doch noch zog der neue Sport die Massen nicht an. Die klapprigen Gebrauchtwagen und das niedrige Spielniveau vergraulten anfangs viele Zuschauer. Mário Tourinho erinnerte sich der zwei unschlagbaren Komponenten, die zusammengenommen stets die Massen seiner Landsleute zu überzeugen wussten. Es musste ein publicityträchtiges Spektakel her und die Nähe zum Fußball, nicht nur über das ähnliche Reglement, ausgebaut werden. Also organisierte Tourinho 1971 eine Sperrung der Avenida Atlântica, der auf mehreren Kilometern entlang der Copacabana läuft, für ein Autoballspiel, das niemand ignorieren konnte. Die Fahrer hatten sich von Leihfirmen nagelneue Sportwagen geliehen und konnten so die Massen beeindrucken.

1973 war Autoball bereits als Massensport etabliert, die Fahrer fuhren unter den Flaggen der großen Fußballvereine Rios. Die erste Stadtmeisterschaft Rios sah Teams von Fluminense, Vasco, Flamengo und América vor. Die Autos waren in den Vereinsfarben lackiert, Nummern und Vereinsembleme schmückten die Türen. Sportreporter motivierte dies, die Spiele wie Fußballspiele zu kommentieren und weitere Rituale aus dem Fußball wurden übernommen: Einem Mannschaftssport entsprechend kamen unterschiedliche Fahrzeugtypen zum Einsatz, um ihre spezifischen Qualitäten einzubringen. Ein VW-Käfer war dank der gekrümmten Motorhaube in der Lage, hohe Bälle vor das gegnerische Tor zu „flanken“, wo Fahrzeuge mit höherem Dach, wenn man so will die „Dachballungeheuer“, diese ins Tor zu lenken versuchten. Fahrzeuge mit rechteckiger Motorhaube waren Spezialisten für präzise Pässe oder Standardsituationen.

Auch für das medizinische Wohl der Sportler wollte gesorgt sein. Es kamen zwar selten ernsthaft die Fahrer zu Schaden, dafür blieben umso häufiger „verletzte“ Autos auf dem Feld liegen. In diesem Fall eilten Mechaniker, die man in schönster Fußballmetaphorik „Masseure“ nannte, mit Werkzeug auf den Platz und behandelten die Patienten. Der berühmteste „Masseur“, ein Mechaniker namens Castro, bekam den Künstlernamen „Doktor“ verliehen, weil es diesem in zwanzig Minuten gelang, ein eben noch brennendes Auto wieder fahrtüchtig zu machen.

Ein lauter, dreckiger und chaotischer Spaß für alle großen Jungs der Strandmetropole war geboren. Im Autoball ließen sich wie in einem großen Kinderspiel die Triumphe der brasilianischen Fußballmannschaften und des Rennsports, den der Brasilianer Emerson Fittipaldi dominierte, nachspielen und -empfinden. Der frühere Autoball-Fahrer Ivan Sant‘Anna, im Brotberuf Finanzmakler, erinnerte sich im Gespräch mit Autor Alex Bellos: „Es war wirklich ein teurer Sport. Ich gab viel Geld aus. Pro Spiel etwa 3.000 Dollar. Für jedes Spiel musste man einen Wagen kaufen. Meistens alte Taxis, die wir für unsere Zwecke frisierten. Einige Leute leisteten sich sogar zwei oder drei Autos pro Spiel.“ Aus diesem Grund taugte Autoball verständlicherweise nicht zum aktiv ausgeübten Breitensport. Selbst die Heroen des motorisierten Ballsports konnten sich aus finanziellen Gründen kein Training erlauben. Bis zu 15.000 Zuschauer strömten dennoch zu den Spielen der tollkühnen Männer in ihren rasenden Kisten. Adrenalin, Benzin und eine gehörige Portion Testosteron machten den Sport derart attraktiv, dass sich selbst das US-Magazin Time des Autoball-Helden Walter Lacet exemplarisch annahm: „Walter Lacet verzichtet verächtlich auf den Sturzhelm; der Reißverschluss seines schwarzen Fliegeranzugs steht offen, sodass seine Brusthaare zu sehen sind, und so donnert er mit überdrehtem Machismo, der für den neuen Sport unverzichtbar zu sein scheint, über den Platz. Wenn der Ball zwischen zwei Autos festhängt, setzt Lacet bis zum äußersten Spielrand zurück und schießt von dort mit heulendem Motor auf das gegnerische Auto los. Wenn dessen Fahrer stur bleibt, ist es an den Mechanikern, mit Vorschlaghämmern die Wracks zu entwirren.“