Liebe auf Französisch - Küsse niemals einen Anwalt

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Liebe auf Französisch - Küsse niemals einen Anwalt
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Mira Schwarz

Liebe auf Französisch - Küsse niemals einen Anwalt

Dieses eBook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Mira Schwarz

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 – Willkommen in Paris

Kapitel 2 – Schatten der Vergangenheit

Kapitel 3 – Aller Anfang ist schwer

Kapitel 4 – Wolkenbruch

Kapitel 5 – Blumige Geschäfte

Kapitel 6 – Eine Straße voller Geschichten

Kapitel 7 – Zusammenstöße

Kapitel 8 – Klischees und Fahrkünste

Kapitel 9 – Neue Freunde, altes Leid

Kapitel 10 – Wunderbare Fehler

Kapitel 11 – Verborgene Geheimnisse

Kapitel 13 – Gefährliche Gedanken

Kapitel 13 - Wahrheiten

Kapitel 14 – Verlorene Träume

Kapitel 15 – Vielen Dank, für die Blumen

Inhalt

Vielen Dank

Impressum tolino

Mira Schwarz

Liebe auf Französisch

Küsse niemals einen Anwalt

August 2017

Copyright © Mira Schwarz

Cover © fotolia.de - halayafax

www.facebook.com/Autorin.MiraSchwarz

autorin.miraschwarz@gmail.com

All rights reserved

Mira Schwarz

Liebe auf Französisch

Küsse niemals einen Anwalt

Alle Menschen lächeln, wenn ihnen jemand Blumen schenkt. Sogar Anwälte.

Nun ja, zumindest manchmal.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 – Willkommen in Paris

Janine arrangierte die weißen Rosen noch einmal sorgfältig, drehte sich dann ein letztes Mal um die eigene Achse und betrachtete die Glasvasen mit den Blumengebinden. Ihr Blick fiel über die großen Zinkeimer mit den losen Gestecken, die grünen Tische, auf denen die Vasen und Behälter standen, sowie die kleinen, verspielten Accessoires welche sie daneben drapiert hatte. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie den spiegelverkehrten Schriftzug im Fenster sah - Les fleurs.

So kann es bleiben, dachte sie zufrieden und drehte das selbstgemalte, weiße Schild mit der mintgrünen Schrift um, das sie in die Tür gehängt hatte. »Geöffnet«, sagte sie stolz und strich sich eine goldblonde Strähne aus der Stirn.

Sie war auf dem Weg nach Hause jeden Tag an dem urigen Laden, der damals noch eine Verkaufsstelle für Rauchwaren und Glückspiele war, vorbeigekommen. Er hatte ihr gefallen, der kleine Tabac an der Rue Cailloux. Ein alter Mann saß drinnen auf seinem Stuhl, von der Straße durch das große Schaufenster gut zu sehen und wartete auf seine Kunden. Er war dünn und schlaksig und hatte ein freundliches Gesicht. Wenn er Janine vorbei kommen sah, dann lächelte er und winkte.

Sie war niemals in den kleinen Laden gegangen, denn Janine rauchte nicht. Und Glückspiele interessierten sie auch nicht. Aber der alte Mann grüßte trotzdem jedes Mal, wenn sie im Dunkeln an dem hell erleuchteten Schaufenster vorbei ging. Das Licht, das durch die Schaufenster des Tabac fiel, tröstete sie. Und auch der alte Mann, der ihr zuwinkte, wenn kaum ein anderer auf der Straße war. Es war ein schönes Gefühl, wenn sie nach der Spätvorstellung müde an dem kleinen Laden vorbei stapfte.

Janine war vor zwei Jahren hierher gezogen. Ihre Eltern hatten sie abfällig eine Glücksritterin aus der Provinz genannt, als sie ihnen ihren Entschluss, nach Paris zu gehen, mitteilte. Sie hatte diese Bezeichnung abwertend empfunden, obwohl sie wusste, dass ihre Eltern es liebevoll und aufmunternd gemeint hatten. Zumindest redete sie sich das ein.

Janine verstand, warum ihre Eltern nicht einverstanden waren, dass sie ihre sichere Stelle in dem kleinen Blumenladen am Bahnhof von Valmont, ihrem Heimatort, aufgab, um ihr Glück in der großen Stadt zu suchen. Aber sie hatte sich Unterstützung gewünscht, keine Zweifel. Und auch in Valmont war ja nicht immer alles rosarot. Vor allem nicht die Zukunft, so schien es ihr zumindest. Sie hatte endlich auf eigenen Füßen stehen wollen.

Und so war sie zuversichtlich und sehr aufgeregt in den Zug in Richtung der vielbesungenen Stadt der Liebe gestiegen, mit einem riesigen, roten Koffer und ihren Ersparnissen in der Umhängetasche. Sie fand schnell ein kleines, bezahlbares Zimmer in einem schönen Viertel ganz in der Nähe des Zentrums. Ihre Eltern hätten es wahrscheinlich eher als eine Absteige bezeichnet und sie hatte es bis jetzt auch nicht über sich gebracht, sie dorthin einzuladen.

Aber auch wenn die Nachbarschaft gewöhnungsbedürftig und das Zimmer keines war, von dem eine 25jährige junge Frau nachts träumt: Es war ihr eigenes. Und mit einigem handwerklichen Geschick war es ihr gelungen, es richtig gemütlich zu machen. Sie fühlte sich jedenfalls wohl in ihrer ersten eigenen Wohnung.

Dann hatte sie nach einer Anstellung gesucht. Ziemlich lang und ziemlich erfolglos. Natürlich wollte sie auch in Paris als Floristin arbeiten. Es war ihr Traumberuf und sie war in Valmont jeden Tag mit Freude zur Arbeit gegangen. Sie liebte es, die Menschen Lächeln zu sehen, wenn sie ihnen die Blumen über den Verkaufstresen reichte. Alle Menschen lächeln, wenn ihnen jemand Blumen überreicht, auch wenn sie die Blumen selbst gekauft haben.

Aber in der Millionenstadt Paris gab es viele Floristinnen und offensichtlich auch genug, denn sie fand keine Anstellung. Auf einem ihrer Spaziergänge durch ihr Viertel hatte sie glücklicherweise das kleine Schild gesehen. Mitarbeiterin auf Minijob-Basis gesucht. Es hing im Fenster des kleinen Kinos, das nur zwei Straßen von ihrer Wohnung entfernt war. Und seitdem hatte sie Karten in dem kleinen Programmkino für außergewöhnliche Filme verkauft.

Sollte ja nicht für immer sein. Und von ihrem Gehalt konnte sie ihr Zimmer bezahlen. Allerdings - für viel mehr reichte es kaum. Und von dem, was sie abends nach der Schicht in ihrem Kühlschrank fand, hätte sie noch nicht einmal eine Maus als Gast bewirten können. Aber sie war stolz und hätte es, vor allem ihren Eltern gegenüber, niemals zugegeben, dass die Glückritterin aus der Provinz sich hauptsächlich von Popcorn im Kino und billigen Dosengerichten aus dem Supermarkt ernährte.

Eines Abends war das Schaufenster des kleinen Tabac nicht hell und einladend beleuchtet gewesen. Sie hatte sich Sorgen um den alten Mann gemacht. Ob er wohl krank geworden war? Ob er wiederkommen würde? Einige Wochen später hing das Schild mit den Worten »Zu vermieten« im Fenster und ihr waren die Tränen in die Augen gestiegen. Wegen des alten Mannes, der sie vermutlich nie wieder aus dem hell erleuchteten Schaufenster grüßen würde. Und dann hatte sie noch ein bisschen mehr geweint, weil sie sich selbst bemitleidete. »Eine Glücksritterin, von wegen«, hatte sie vor sich hin geschnieft. » ...wohl eher eine Pechmarie« . Und noch während sie sich die Tränen aus dem Gesicht rieb, war ihr die Idee gekommen.

Und nun öffnete Janine die Tür ihres eigenen Ladens und trat hinaus in die Sonne. Sie stellte die kleinen Holzkisten, in denen vermutlich in einem vorherigen Leben Tee oder ähnliches aufbewahrt worden war, auf den mintgrün bemalten Verkaufstisch. Sie hatte die Kisten und auch den Tisch bei einem Trödelhändler in der Nähe gefunden und für wenig Geld erstanden. »Was man nicht alles mit ein Kreativität und ein bisschen Farbe erreichen kann«, dachte sie und posierte die Hyazinthen auf den kleinen, wackeligen Tisch auf dem Gehweg. Die blauen und rosablühenden Blumen dufteten herrlich und spiegelten sich im Sonnenschein im Fenster.

Die Fensterrahmen hatte sie weiß gestrichen, so wie auch die Wände im Inneren von »Les fleurs« . Sie freute sich, dass sie diese Farben ausgesucht hatte, um ihren Laden zu gestalten. Weiß und mintgrün, das passte gut zusammen und ließ die farbigen Blüten der Blumen vor dem schlichten, aber hübschen Hintergrund um die Wette strahlen. Sie genoss noch einen Augenblick die Wärme der Sonnenstrahlen im Gesicht und ging wieder hinein.

 

Gerade als sie die Tür hinter sich schließen wollte, schoss der Kater durch ihre Beine in den Laden. Das kleine Tier, er war wirklich sehr klein für einen Kater, hatte ihr in den vergangenen Wochen beim Renovieren oft Gesellschaft geleistet.

Sie wusste nicht, wem er gehörte: Er kam und ging, wie es ihm passte. Er erinnerte sie mit seinem grau-weißen Fell – oben grau und unten weiß – ein bisschen an den Kater aus der Fernsehserie »Tom und Jerry« . Und weil sie ihre ganze Kreativität für ihren Blumenladen brauchte, war sie nicht sehr kreativ, was seinen Namen anging.

»Na, Tom? Sing doch mal: Vielen Dank für die Blumen«, witzelte sie ein bisschen aufgeregt und streichelte ihn sanft zwischen den Ohren. Der kleine Kater schnurrte und rollte sich auf dem Karton mit dem Packpapier zusammen. »Alles muss man selber machen«, schmunzelte sie, während der Kater ausgiebig gähnte.

Sie begann die eingängige Melodie der Zeichentrickserie vor sich hinzupfeifen und nahm das neue Auftragsbuch in die Hand. Sie betrachtete die noch leeren Seiten und schlürfte an ihrem Tee, den sie sich von zu Hause mitgebracht hatte. Dann schob sie den Topf mit den Messern und der Schere von links neben der Kassenkiste nach rechts neben das Packpapier, sortierte die Verpackungsbänder nach Farbe und merkte, dass sie unruhig wurde. Sie hatte ja nicht erwartet, dass die Kundschaft ihren Laden gleich stürmen würde, aber irgendjemand musste doch jetzt bald mal kommen.

Hätte sie noch ein Schild auf die Straße stellen sollen? Oder Handzettel verteilen? »Ruhig Blut, du Dusselchen, was hast du denn gedacht?«, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. »Aller Anfang ist eben schwer.« Nervös schob sie den Topf mit der Schere wieder nach links.

»Aha, da läufst du also immer hin, du Streuner«, sagte eine dunkle und tiefe, sympathische Stimme, die ihr einen wohligen Schauer über den Rücken laufen ließ. Sie hatte niemanden hineinkommen gehört. Die Glocke an der Tür hatte nicht gebimmelt. »Die muss ich wohl schon am ersten Tag reparieren«, dachte sie. Vor dem Verkaufstresen, auf dem der Karton mit dem Packpapier lag, der dem Kater als Kissen gedient hatte, stand ein Mann in einem schwarzen Mantel, der den kleinen Kater im Arm hielt.

»Bonjour, Monsieur«, sagte Janine freundlich. Der Mann war groß, vielleicht fünf oder sechs Jahre älter als sie selbst. Er war ordentlich gekleidet und sah sehr gepflegt aus. Bis auf seinen Bart. Die dunklen Stoppeln waren gut zu erkennen. Offensichtlich hatte er an diesem Morgen keine Zeit für eine Rasur gefunden. Sie sah den Mann aufmunternd an. Die warmen, braunen Augen blickten freundlich zurück. Er sagte nichts, was sie merkwürdig fand. Nun gut, die Kundschaft will umgarnt werden.

Sie holte tief Luft. »Kann ich Ihnen helfen oder wollten Sie nur Ihren süßen, kleinen Tiger holen?« Das war als Beginn eines Verkaufsgesprächs nun wirklich nicht sehr gelungen. »Ich habe wunderschöne Hyazinthen, sie bringen Ihnen den Frühling ins...«, versuchte sie es besser.

»Nun, eigentlich ...«, auch er holte tief Luft, »… eigentlich ist dies gar nicht mein Kater, sondern er gehört meiner Frau.«

Die letzten Worte hatten ein wenig gepresst geklungen, so dass Janine ihn erstaunt anblickte. In seinen schönen Augen lag plötzlich etwas Eigenartiges und es kam ihr so vor, als wenn er plötzlich durch sie hindurch sah. Aber so schnell dieser Schleier erschien, so schnell war er wieder verschwunden und er zwinkerte ihr zu.

»Der Racker ist mir, wie immer, zwischen den Füßen hindurch beim Hinausgehen entwischt. Ich hab ihn entdeckt, als ich durch das Schaufenster gesehen habe«, erklärte er, während er sich umdrehte und ein paar Schritte durch den Laden machte. »Ein schönes Geschäft. Sie haben viel aus der alten Kaschemme herausgeholt. War bestimmt viel Arbeit. Es ist ein großer Unterschied zum Tabac«, plauderte er charmant, während er seinen Kater streichelte und sich umsah.

Er hat eine angenehme Stimme, dachte sie und verlor sich einen Augenblick. »Der Kleine kann gerne bei mir bleiben«, und schob zu ihrem eigenen Erstaunen wie zur Erklärung hinterher »Also, ich meine den Kater.« Den der freundliche Herr dann zu einem späteren Zeitpunkt wieder bei ihr abholen müsse, dachte sie eine Millisekunde später. Was war denn mit ihr nur los? Lag bestimmt an der Aufregung. »Wohnen Sie hier irgendwo in der Nähe?«, fragte sie ihn schnell, um diese merkwürdig unpassenden Gedanken zu vertreiben.

»Ich wohne im zweiten Stock über Ihnen«, sagte der Mann, während er wieder zum Tresen zurück ging. »Und ich nehme den Ausreißer lieber gleich wieder mit. Ich weiß nicht, wann ich heute Abend zurückkomme.« Er lächelte ihr zu. Offensichtlich hatte er nichts bemerkt. »Aber trotzdem vielen Dank für das Angebot.«

Er ging an den losen Blumen in den großen Zinkeimern, die sie stundenlang blitzblank geschrubbt hatte, auf den Ausgang zu. Dann drehte er noch einmal um und deutete auf die Rosen. »Aber wenn ich schon einmal in einem Blumenladen bin, geben Sie mir doch bitte eine der weißen Rosen, Mademoiselle.«

»Sagen Sie Janine zu mir«, sagte sie und eilte zu den sorgsam arrangierten Blumen. Sie suchte die Schönste heraus und ging zurück zu ihrem Tresen mit dem Packpapier.

»Sie brauchen sie nicht einpacken, Janine. Vielen Dank. Was macht das?«

Sie überreichte ihm die weiße Rose und bemerkte erstaunt, dass er nicht lächelte, als er die Blume entgegen nahm. Er gab ihr die Summe passend, die sie ihm genannte hatte, verabschiedete sich - »Au revoir, Mademoiselle. Bis bald« - und ging hinaus, den kleinen Kater auf dem Arm.

Beim Hinausgehen bimmelte die Glocke die sie über der Tür angebracht hatte. Durcheinander stellte sie fest, dass die Glocke doch funktionierte. Aber dann erinnerte sie sich daran, dass sie die Tür offenstehen lassen hatte, als ihr vierbeiniger Freund Tom auftauchte und sie ihm hinterher in den Laden lief. Der kleine Tom, der seinen sympathischen Besitzer hierher gelotst hatte, damit er ihr erster Kunde wurde.

Braver Kater.

Sie öffnete die weiße Kiste aus Holz, in die sie ihre Einnahmen zukünftig hineintun wollte und hing ihren Gedanken nach. Was für ein interessanter Mann - gutaussehend, charmant und auch ein bisschen geheimnisvoll. Sie legte das Geld in die Geldkassette, die sie natürlich ebenfalls beim Trödler erstanden hatte. Dann erstarrte sie für einen Moment.

»...und er ist verheiratet. Du bist ja unmöglich, Janine. Denk nicht mal dran«, flüsterte sie leise und schlug den Deckel mit einem Knall zu.

Kapitel 2 – Schatten der Vergangenheit

Paul trat aus dem kleinen Blumenladen und schloss die Tür hinter sich.

Wie beiläufig hörte er eine kleine Glocke bimmeln. Ruhig wandte sich nach links zur nächsten Eingangstür, die etwas versteckt hinter einer großen Kletterpflanze lag. Er tippte die Nummer in das elektronische Schloss, drückte die Tür auf und überquerte den Hof, der hinter der unscheinbaren Tür lag.

Am gegenüberliegenden Ende des Hofes schloss er eine weiße Tür mit einem Schlüssel auf und betrat das helle, freundliche Treppenhaus. Die Holzstufen knarrten, als er die Treppe emporstieg. Im zweiten Stock musste erneut eine Tür aufschließen. Er stand mit dem kleinen Mäusejäger im Flur seiner Wohnung. »Da kann man sich schon fragen, wie du es immer wieder hier hinaus schaffst«, knurrte er den Kater gutmütig an. »Drei Türen!«

Der kleine Kater sprang mit einem Satz von seinem Arm und lief in die Küche. Er hatte Hunger. Paul ging ihm hinterher, holte aus einem der Schränke einen Karton mit Katzenfutter und füllte den Napf. Der Stubentiger fraß mit einem tiefen Gurren. Danach sprang er auf das dicke gemütliche Kissen, das Paul ihm in die Fensterbank gelegt hatte, leckte seinen Pfoten und rollte sich zusammen, so dass er mit dem Rücken zur Küche lag und das Treiben auf der Rue Cailloux gut beobachten konnte.

Paul streichelte ihm noch einmal über den Kopf und ging dann zurück in den Flur. Er schloss die Tür sorgfältig hinter sich und ging denselben Weg, Treppenhaus, Hof, Eingangspforte, kopfschüttelnd wieder zurück. Wie kam der Kater aus diesem Hof, verdammt?

Er hatte keine Ahnung. Gut, oben im Treppenhaus war er durch die Tür entwischt. Da hatte er ihn noch gesehen. Aber dann?

Auf der Rue Cailloux wandte er sich nach links und ging auf dem Gehweg entlang in Richtung Metro. Als er seine Monatsfahrkarte aus der Tasche ziehen wollte, bemerkte er, dass er die weiße Rose noch immer in der Hand hielt. Er hatte sie ganz vergessen. Erstaunlich, dass er sie gekauft hatte. Er zog sein Mobiltelefon aus der Tasche, drückte eine Tastenkombination und hielt sich das Gerät an sein Ohr. »Ah, ja, Claudine, hier ist Paul. Ich komme heute später... ja, das macht nichts, diesen Termin kannst du ein bisschen nach hinten schieben... ...nein, das wird Henry nichts ausmachen, ruf ihn doch einfach an. Ja. Bis später.«

Er steckte das Telefon zurück in die Innentasche seines Mantels und verließ die Vorhalle der Metrostation wieder. Nach einigen Minuten Fußmarsch auf der Rue Cailloux erreichte er das schmiedeeiserne Tor. Er drückte es auf und ließ das Alltagstreiben der Pariser Straßen hinter sich.

Paul hörte zwar noch den Lärm der Autos, die Worte der Menschen, die hinter der hohen Granitsteinmauer entlang gingen und sich unterhielten. Aber diese Geräusche waren auf einmal sehr weit weg. Die wunderbare Stille, die von diesem Ort ausging, umfing ihn, ließ ihn alles andere vergessen.

Er ging einen Kiesweg entlang. Ohne Probleme fand er sich zwischen den hunderten von Steinen, die rechts und links der Wege dicht an dicht standen, zurecht, obwohl er Ewigkeiten nicht mehr hier gewesen war. Er schlenderte durch die Gänge und fand den einen Stein, den er suchte.

Er sah auf die Inschrift - Manuela Santini, geboren am 3. Mai 1981 - gestorben am 8. August 2012 - und besah sich die Gedenktafeln, welche die Trauergäste damals aufgestellt hatten.

Mit leicht zittrigen Fingern legte er die Rose auf die Platte aus Marmor und trat wieder einen Schritt zurück. Dann besann er sich und schaute sich um. Gab es hier keine Vasen für echte Blumen? Die Gräber links und rechts waren mit künstlichen Blumen, manchmal aus Plastik, meist aus Porzellan, geschmückt.

Ewige Lichter brannten, nicht selten gab es Bilder der Verstorbenen, die in wetterfesten Rahmen auf den die Gräber deckenden Marmorplatten standen. Doch Vasen sah er keine. Er ging den Weg noch einmal zurück und schaute sich um. Aber überall dasselbe Bild. Es gab auf diesem Friedhof keine frischen Blumen und demnach auch keine Vasen.

Verwundert stellte er fest, dass es ihm noch nie so aufgefallen war. Aber selbst wenn: Er hätte ja wohl auch kaum eine Vase von einem anderen Grab nehmen können, um seine Rose dann darin auf ihrem Grab zu posieren. Also ging er wieder zurück und stellte sich vor das schlichte Grab, auf dem die weiße Rose lag. »Hallo Manu, lange her...« Er räusperte sich und kam sich wie immer ein bisschen dumm vor. Er sprach laut mit einer Steinplatte. Erneut. Überhaupt, was sollte er denn jetzt sagen?

»Hm. Ich habe dir eine Rose mitgebracht. Ich hab sie heute Morgen in Victoires Laden gekauft.« Er hielt inne. Das musste er erklären. Sie war ja nicht auf dem neusten Stand. »Victoire ist zurückgegangen. Er meinte, er hätte jetzt genug gearbeitet und wolle endlich mal wieder Sonne und Wärme genießen. Und ich kann ihn gut verstehen. Der Winter war dieses Jahr lang und kalt.« Paul atmete tief und blickte sich um, ob ihn jemand beobachtete.

»Nun ja, auf jeden Fall hat eine junge Frau den Laden von Victoire übernommen und ein Blumengeschäft darin eröffnet. Es sieht ganz anders aus als vorher, freundlich und hell, nicht so düster.« Und gammelig, fügte er in Gedanken hinzu. Schnell sagte er, als meinte, er könne sie beleidigt haben: »Victoire hat auch schon lange nichts mehr gemacht. Er wusste wohl schon, dass er bald abreisen wollte. Mir hat er natürlich erst ein paar Tage vorher gesagt, dass er Paris verlässt. Typisch.« Erneut eine Pause. Er räuspert sich.

 

»Der Kater war drin. Im Laden meine ich... heute Morgen. Also bin ich auch hinein gegangen, um deinen Tiger wieder nach Hause zu holen. Er scheint sich da ganz wohl zu fühlen.« Seine Stimme wurde leiser. »Und ich auch. Anders kann ich mir nicht erklären, warum ich dort eine Blume gekauft habe. Du weißt, für so etwas war ich nie der Typ.« Er war lange nicht mehr hier gewesen. Anfangs nicht, weil er nach ihrem Tod mit sich selbst nichts mehr anzufangen wusste und vor lauter Trauer auch nicht dazu fähig gewesen wäre. Später nicht, weil er es überflüssig fand, eine Steinplatte zu besuchen. Und Blumen hatte er hier auch noch nie hingestellt. Sie würde sowieso immer in seinem Herzen sein.

»Die junge Frau ist sehr nett zum Kater, keine Sorge.« Er stockte und trat von einem Fuß auf den anderen. Es tat ganz gut, hier zu sein, überlegte er. »Ich habe keine Vase für die Rose gefunden, Manu. Ich fürchte, ich muss morgen nochmal mit einer Vase vorbeikommen.« Und mit einer neuen Blume, die er bei Janine kaufen würde. Diese hier würde morgen nämlich verwelkt sein oder vom ständigen Ostwind fortgetragen.

»Bis morgen dann, Manu.« Er knöpfte seinen Mantel ordentlich zu und ging die Reihen durch die Gräber zurück zum schmiedeeisernen Tor. Aus der Stille trat er auf die lebendige Rue Cailloux und machte sich auf den Weg ins Büro zu seinem Termin. Als die Leute um ihn herum gingen, blieb er noch eine kurze Sekunde stehen und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Paul zog die Nase hoch und atmete durch.

Der letzte Besuch war viel zu lange her. Viel zu lange …

***

Während er die Rue Cailloux entlang ging, zurück zur Metro-Station, dachte er an Henry, seinen besten Freund. Bei dem Gedanken musste er lächeln. Henry, knapp 60 Jahre alt, und immer noch ein kleines Kind. Er war laut und hatte den Charme eines Vorschlaghammers. Gestern am Telefon hatte er ziemlich aufgeregt geklungen. Er war sicher wieder in irgendwelche Schwierigkeiten geraten. Henry hatte einen Riecher für gute Geschäfte, geriet aber immer mal wieder an windige Geschäftspartner. Wie oft hatte er ihm in den letzten Jahren aus der Patsche geholfen?

Vor etwa vier Jahren, Paul hatte gerade die Kanzlei seines Vaters übernommen, war Henry in sein Büro gestürmt und hatte verlangt, Pauls Vater zu sprechen. »Dann müssten Sie sich in den Zug setzen und in die Provence fahren. Da wohnt mein Vater jetzt.« Henry ließ sich ohne eine Aufforderung abzuwarten in einen der Besuchersessel fallen lassen und hatte laut aufgestöhnt.

Obwohl Paul den dicken, schwitzenden Mann, der wie ein Schluck Wasser in seinem neuen Lederfauteuil hing, irgendwie mochte, war er doch ärgerlich gewesen. Erst stand er ohne Termin vor seinem Schreibtisch, dann begrüßte er ihn noch nicht einmal und wollte zu guter Letzt seinen Vater sprechen, der alle seine Klienten in einem freundlichen Schreiben davon in Kenntnis gesetzt hatte, dass sein Sohn die Kanzlei übernehmen würde, da er jetzt in die wohlverdiente Rente ging.

Er bot Henry ein Glas Wasser an, das dieser kopfschüttelnd ablehnte. »Ein Cognac wäre besser.« Er nickte in Richtung der großen Globuskugel, die vor dem bodentiefen Fenster stand. Es war zehn Uhr dreißig morgens. Paul öffnete die Nordhalbkugel und holte eine Cognacflasche und ein Glas aus dem Globus, das er einige Sekunden später gefüllt vor Henry auf dem Glastisch absetzte.

Der Mann kannte das Büro offensichtlich, denn er wusste, wo der Cognac versteckt war. Wieso wusste er dann nicht, dass er die Kanzlei übernommen hatte? Er setzte sich ihm gegenüber, schlug die Beine übereinander und wartete, was ihm der Mann erzählen würde. Dieser leerte das Glas in einem Zug. »Sie sind dann also Paul junior?«

»Richtig. Und Sie sind...?«

»Henry Descartes – wie der Philosoph. Nur offensichtlich nicht so schlau.« Henry hatte ein Haus auf dem Montmartre gekauft, was an sich eine gute Investition war, denn die Immobilienpreise im ehemaligen Pariser Rotlichtviertel stiegen rasant.

Offensichtlich war er dabei an einen windigen Geschäftsmann aus dem Gewerbe geraten und seine Investitionsentscheidung drohte in ein finanzielles Desaster abzurutschen, da der Eigentümer von notwendigen Formalitäten nicht viel hielt und Henry ohne notarielle Bestätigung der Verträge bereits einen Haufen Geld als Anzahlung abgenommen hatte.

Der Verkäufer weigerte sich die notwendigen Gutachten ausführen zu lassen, die Henry dann auf eigene Faust durchführen ließ. Der Gebäudekomplex wies einige eklatante Mängel auf, die sich preismindernd ausgewirkt hätten, hätte Henry auf die übliche Prozedur bestanden und den Vorvertrag notariell abgeschlossen, bevor er eine Anzahlung an den Verkäufer übergab. Hatte er aber nicht.

Nun saß er jammernd vor Paul. »Dach- und Kellerrenovierung kosten mich einige Hunderttausend zusätzlich. Wie komme ich bloß aus dieser Nummer heraus?« Er rieb sich mit den Händen die Augen und Paul sah, dass er einen dicken Goldring mit einem roten Stein am kleinen Finger trug. Sicher ein Rubin. Schlecht konnte es dem Mann nicht gehen. »Ihr Vater hätte sicher eine Idee, wie ich jetzt vorgehen sollte.«

»Ich bin meines Vaters Sohn und ich hab auch eine Idee«, sagte Paul kühl. Henry musterte ihn erstaunt und fing dann an zu lachen.

»Ja, tatsächlich. Sie sind der Sohn Ihres Vaters, so hätte der Senior sicher auch reagiert.« Henry entspannte sich und lehnte sich im Sessel zurück. »Sie wissen nicht, wer ich bin, oder?«

»Henry Descartes, sagten Sie.«

»Der Senior und ich haben eng zusammen gearbeitet, als das Landgericht umziehen sollte und ihr Vater im Etablissement Public den Vorsitz hatte.« Paul erinnerte sich dunkel an ein lang vergangenes Debakel: Der Justizpalast war zu klein geworden, das Landgericht sollte auf die Rive Gauche umsiedeln.

Pauls Vater hatte das Projekt geleitet. Er hatte gehofft, dass das Ministerium und die Gerichtstätten weiterhin im Zentrum von Paris zusammen bleiben würden. Aber der Pariser Oberbürgermeister legte ein Veto ein und die Behörden und Verantwortlichen begannen, das Projekt auseinander zu nehmen. Paul senior hatte frustriert den Vorsitz abgegeben. Erst Jahre später war dann endlich ein Entschluss getroffen worden und das Gericht zog nun in den Nordwesten von Paris.

»Ich habe 2005, nach dem Veto, beschlossen, ein paar Jahre ins Übersee-Departement zu wechseln und bin erst vor einigen Monaten aus La Reunion zurückgekommen.« Das erklärte, warum er nichts davon wusste, dass Paul junior die Erbfolge angetreten hatte. »Wenn Sie mir noch einen Cognac anbieten, dann sehe ich allerdings keinen Hinderungsgrund, warum ich nicht auch mit Ihnen vertrauensvoll zusammen arbeiten sollte.«

Das konnte ja heiter werden. Paul war zum Globus gegangen, um Henrys Glas ein zweites Mal zu füllen. Die Verträge, die Henry bereits abgeschlossen hatte, waren alle sauber gewesen und es hatte viel Zeit in Anspruch genommen, ein juristisches Schlupfloch zu finden und Henry aus den Klauen der Immobilienmafia des Montmartre zu befreien. Doch Paul hatte ihm tatsächlich einen Ausweg aufzeigen können und Henry hatte mehrere hunderttausend Euro nicht verloren.

Zum Dank oder vielleicht auch aus alter Freundschaft zu Paul senior hatte Henry den jungen Anwalt zu einem Abendessen nach Hause eingeladen. Marlene, Henrys Frau, hatte zwar eine ähnliche Figur wie ihr Mann, unterschied sich aber ansonsten himmelweit.

Wo Henry laut war, war sie ruhig. Wo Henry schnell war, war sie bedacht. Es hätte kaum ein unterschiedlicheres Paar geben können. Henry war der Draufgänger, Marlene der eher mütterliche Typus. Und sie hatte Paul im Moment seines Ankommens quasi adoptiert. Er hatte den Mantel noch nicht abgelegt, da drückte sie ihn schon an ihren runden Körper, teils aus Dankbarkeit, weil er ihren Mann vor einer Dummheit bewahrt hatte, teils, weil ihr Naturell es ihr gar nicht anders erlaubte. Und Paul, der das ungleiche Paar zunächst mit Distanz beobachtet hatte, konnte nicht anders und hatte die herzliche Umarmung Marlenes erwidert.

Damit war er offiziell zum Teil der Familie geworden und war mindestens einmal im Monat zum sonntäglichen Mittagessen eingeladen worden. Da Paul nach Manus Tod sowieso nichts mit seinen Sonntagen anfangen konnte, hatte er sein Befremden vor der stürmischen Familienaufnahme überwunden und war mit jeder Einladung lieber in das schöne Anwesen im 16. Arrondissement gekommen.

Er hätte ja auch gar nicht anders gekonnt: Wenn er einmal die Einladung absagen musste, weil er andere Verpflichtungen hatte, dann stand Marlene ein paar Tage später in seinem Büro und sah ihn an, als wenn er ihr gesagt hätte, der Coq au Vin wäre ihr nicht gelungen. So war aus der geschäftlichen Beziehung eine Freundschaft und Henry war für Paul eine Art Ersatz für den Vater geworden, den er nur noch selten traf.

»Na, mal sehen, was jetzt wieder anliegt«, dachte Paul und beschleunigte seinen Schritt. Er passierte die Metroschranke und erwischte gerade noch eine Bahn in Richtung La Defense. In diesem modernen Hochhausviertel hatte sein Vater in den frühen Siebzigern ein Grundstück erworben und seine Kanzlei aufgemacht, allen Unkenrufen zum Trotz, die dem Geschäftsviertel keine Zukunft gaben.