Himmlisches Herzflüstern

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Himmlisches Herzflüstern
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Michael Stahl

Himmlisches Herzflüstern

Wenn Gott leise zu und durch uns spricht

GloryWorld-Medien

1. Auflage 2020

© 2020 Michael Stahl

© 2020 GloryWorld-Medien, Xanten, Germany, www.gloryworld.de

Alle Rechte vorbehalten

Bibelzitate sind, falls nicht anders gekennzeichnet, der Elberfelder Bibel, Revidierte Fassung (Rev. 26) von 2008 entnommen.

Weitere Bibelübersetzungen:

HFA: Hoffnung für alle, Basel und Gießen, 1983

LUT: Lutherbibel, Revidierte Fassung von 1984

MNG: Menge Bibel

NLB: „Neues Leben. Die Bibelübersetzung“, Holzgerlingen, 2002

NeÜ: Neue evangelistische Übersetzung © 2013 Karl-Heinz Vanheiden

ZÜR: Zürcher Bibel (Ausgabe 2007).

Das Buch folgt den Regeln der Deutschen Rechtschreibreform. Die Bibelzitate wurden diesen Rechtschreibregeln angepasst.

Lektorat: Klaudia Wagner

Satz: Manfred Mayer

Umschlaggestaltung: Rainer Zilly, www.kreativ-agentur-zilly.de

Umschlagmotiv: Smileus/istockphoto.com

ISBN (epub): 978-3-95578-485-0

ISBN (Druck): 978-3-95578-385-3

Inhalt

Vorwort

1 Gottes Flüstern

2 Omas Flüstern

3 Bett-Flüstern

4 Demenzgeflüster

5 Papas Flüstern

6 Totenstille

7 Gästeflüstern

8 Ein Hauch von Liebe

9 Achtung Ansteckungsgefahr

10 Endlich Sohn

11 Ein Abschied von Herzen

12 Die letzte Gelegenheit …

13 Komm heim

14 Herzflüstern vom Papa zum Sohn

15 Kampf hinein in die Demut

16 Späte Versöhnung

17 Der Schrei nach Leben

18 Danke

19 Geflüsterte Reue

20 Kampf im Imbiss

21 Nur ein Spaziergang

22 Diebstahl

23 Knastgeflüster

24 Alis Flüstern

25 Auf dem Sportplatz

26 Tiefe Eingeständnisse

27 Letzte Botschaften

28 Aus tiefstem Herzen

29 Aufbruch

30 Erledigt

Über den Autor

Vorwort

Schon seit Kindheitstagen verfolgt mich die Furcht vor Hunden. Es liegt wohl daran, dass ich als Kind gebissen wurde und sogar einmal mit ansehen musste, wie ein Hund meine Mama anfiel. Irgendwie brannten sich diese Ereignisse damals tief in mein Köpfchen und mein kleines Herzchen ein. Seither traue ich vielen Hunden nicht, wobei mir völlig klar ist, dass ich den meisten von ihnen damit Unrecht tue. So zieht wohl ein Unrecht viele weitere nach sich.

Während ich diese Zeilen tippe, befinden wir uns in Deutschland im zweiten Corona-Lockdown. Meine Sportschule musste ich schließen und darf weder Kurse noch Vorträge geben, und deshalb nutze ich diese Zeit, um wieder einmal meine Gedanken und mein Herz zu teilen.

Ich gehe viel spazieren und darf dabei so manche kostbare Begegnung erleben. So auch vor gar nicht langer Zeit, als plötzlich ein großer Hund auf mich zu rannte und mit großem Gebell an mir hochsprang. Sofort tauchte diese uralte Angst wieder auf. Ratschläge wie: „Zeige keine Angst!“ oder: „Mache keine hektischen Bewegungen!“ halfen mir in diesem Moment gar nichts. Doch meine Rettung war nahe. Mitten in dem Gebell und meiner Furcht vernahm ich eine ältere Frauenstimme, die den Hund entschieden beim Namen rief und mir dann mit beruhigenden Worten fast zuflüsterte: „Keine Angst, er bellt nur so laut, wenn er gestreichelt werden will.“

Es waren stets die geflüsterten Worte, die mich berührten, die mehr als alles Gebrüll an mein Herz drangen. Dabei ist mir allerdings mittlerweile klar, dass all das Schreien oft nur ein Schrei nach Liebe ist. Jetzt, im Nachhinein, verstehe ich meinen Papa, warum er so oft schrie, und ich verstehe einige Menschen viel besser.

Jedes Flüstern kommt stets aus dem Herzen. Vielleicht kommt es darauf an, mit was unser Herz gefüllt ist. Es gibt auch ein böses Flüstern, hinter unserem Rücken, das furchtbar verletzend ist und ein Ausdruck dessen, womit dieses Herz gefüllt ist. Mögen wir mit dieser Erkenntnis unsere eigenen Worte prüfen und damit ein Stück unseres eigenen Herzens. Jesus sagte einmal dazu: „… wovon sein Herz voll ist, davon redet sein Mund“ (Lk 6,45 MNG); und „Was aber aus dem Mund herausgeht, kommt aus dem Herzen hervor“ (Mt 15,18).

Oft wird auch das Eingeständnis von Schuld, die Bitte um Vergebung oder Schamhaftes geflüstert. Das kann der Beginn einer Versöhnung mit sich selbst und anderen bedeuten und somit zur inneren Heilung beitragen. Also hören wir doch etwas genauer hin, wenn geflüstert oder gar geschrien wird.

In schönen Momenten nannten mein Papa, mein Onkel Heinz und ein paar andere Menschen, die meinem Herzen nahestanden, mich liebevoll „Miggi“. Dieser Name wurde nie geschrien. Ich verbinde ihn daher mit Geborgenheit, Frieden, ja sogar mit einem Stück Himmel.

Gemeinsam mit ein paar Freunden will ich einige geflüsterte Worte, die wir selbst gehört oder gesprochen haben, mit euch und der Welt teilen. Denn diese Worte kamen tief aus den Herzen derer, denen wir in Krisen, in Gefängnissen oder gar am Sterbebett begegneten, oder es waren Worte, die wir anderen zuflüsterten. Mögen diese Worte mit ihrer Sehnsucht und Liebe viele Herzen berühren. Oft waren es Sätze, wie: „Ich kann nicht mehr!“, „Mir ist so schwer …“, „Ich gehe nach Hause“, „Es tut mir leid!“, oder einfach nur ein schlichtes „Danke!“, „Verzeih mir!“ oder „Ich liebe dich!“ …

Schön, dass du bereit bist, dieses Flüstern zu hören. Lass dich nicht ablenken. Möge dein Herz mit mehr Liebe gefüllt werden. Und flüstere der Welt um dich herum diese Liebe reichlich zu.

Herzlichst

„Miggi“

Kapitel 1: Gottes Flüstern

Was ich euch im Dunkeln sage, das gebt am helllichten Tag weiter! Was ich euch ins Ohr flüstere, das ruft von den Dächern (Mt 10,27 HFA).

Vielleicht fragen sich einige: „Wen meint der denn, wenn er von Gott spricht? Da gibt es ja so viele ...“ Mein Onkel Heinz sagte mir bis wenige Tage vor seinem Tod mit 82 Jahren, es sei letztendlich egal, an was man glaube, und dass alle irgendwie halt doch nur einen Gott hätten oder auf irgendeine Weise an dasselbe glauben. Doch im Angesicht des bevorstehenden Todes, der Lebenssinnfrage, der Suche nach Erlösung und der Sehnsucht nach Versöhnung, in Kombination mit dem Wunsch, nach Hause zu gehen, erkannte er für sich, dass es nur einen Gott gibt.

Dabei muss ich an „Highlander“ denken, einen meiner Lieblingsfilme. In dem gab es einen prägnanten Satz: „Es kann nur einen geben!“ Ist diese Behauptung zu gewagt oder gar arrogant? Nun, alles, was mit persönlichen Beziehungen zu tun hat, ist stets exklusiv. In einem alten Schlager heißt es: „Aber dich gibt’s nur einmal für mich!“ Wie konnten die jeweiligen männlichen Interpreten so etwas behaupten? Wo es doch unzählige andere Frauen gab bzw. gibt? Weiter heißt es in diesem Lied: „Schon der Gedanke, dass ich dich einmal verlieren könnt … der macht mich traurig … “

Ist diese Einzigartigkeit anmaßend oder arrogant? Ist eine solche Denkweise zu eng oder intolerant? Nein, ich denke, sie ist in der Liebe völlig normal. Es geht ja um ein Gegenüber, um eine persönliche und konkrete Beziehung. „Gott ist Liebe“ steht auf dem Grabstein meines Papas.

Ein Kernpunkt der wirklichen Liebe ist der freie Wille; sie nimmt es in Kauf, abgelehnt zu werden. Das ist ja das Wunderbare an der Liebe, dass sie keinen Druck macht und bedingungslos ist.

Es geht also um eine Person. Wäre ich ein Poet, könnte ich wohl viel besser erklären, was gerade mein Herz erfüllt. Ich werde es versuchen.

 

Liebe hat den Wunsch nach Nähe, nach inniger Beziehung. Deshalb ist die Sexualität die höchste und intimste Form von Nähe, die wir Menschen miteinander erLEBEN können. Der Gott, den ich meine, sehnt sich sogar nach einer noch tieferen Form von Nähe: Er möchte in deinem und meinem Herzen wohnen. Näher geht es nicht!

Wie heißt es in diesen schlichten Worten, die wir als Kinder öfters beteten:

Ich bin klein, mein Herz mach rein,

soll niemand drin wohnen als Jesus allein!

Liebe, ein Gegenüber und Nähe – nach all diesem sehnt sich jedes Menschenherz, da bin ich mir sicher. Was oder wer kann uns Trost und Halt spenden? Sicher nur jemand, der uns nahe ist. Somit würde z. B. der Atheismus nichts zur Erfüllung dieser Sehnsucht beitragen.

Vor Kurzem las ich einen Artikel der Österreicherin Lisa Eckhart:

Ich habe mir vom Atheismus sehr viel erhofft: Lebensfreude, Humor, Orgien. Letztlich aber ist man dann in dieser oft zitierten metaphysischen Obdachlosigkeit gelandet. Und jetzt ist die säkularisierte Welt fast noch lust- und lebensfeindlicher als die, gegen die man angehen wollte. Weswegen ich ganz bei Nietzsche bin, der sinngemäß sagt: „Gott ist tot. Wir haben ihn getötet, aber war diese Tat nicht etwas zu groß für uns?“

Sie nennt den Atheismus eine metaphysische Obdachlosigkeit. Vielleicht tragen wir deshalb so stark diese Sehnsucht nach Heimat und Ewigkeit in uns, um von dieser Obdachlosigkeit erlöst zu werden. Wer anders könnte das tun, als der Erlöser selbst?

Selbst der so leidgeprüfte Hiob bekannte:

Ich weiß, dass mein Erlöser lebt (Hiob 19,25 LUT).

Unzählige Menschen begegneten mir, die mir in ihren Lebenskrisen einen Einblick in ihre Herzen gewährten. Oft fragte ich sie nach dem, worauf sie ihre Hoffnung setzen. Viele ließen dabei sehr tief blicken: auf das Universum, auf die universelle Energie, Horoskope usw. Alle diese Dinge haben eines gemeinsam: kein Du als Gegenüber; keinen Ansprechpartner; Beziehung nicht möglich. Wie sagte doch einst ein Traumtherapeut aus den Staaten: „Ich bin mir sicher, dass jeder Mensch mit einer Frage geboren wird, und diese Frage lautet – Wo bist du?“

Gottes Name ist nicht nur die Antwort darauf, sondern sogar die Stillung aller menschlichen Sehnsucht: „JAHWE – ICH BIN für dich da.“ Ich habe diesen Namen und seine Bedeutung schon in vielen Büchern und Vorträgen thematisiert. Er begeistert mich immer wieder und berührt zugleich mein Herz.

Und was ist nun mit den unzähligen Göttern, welche die Menschen anbeten? Für mich selbst kann ich sagen, dass alle meine Anstrengungen nie und nimmer ausreichen würden, den Himmel zu erreichen – Gott gerecht zu werden und ihm nahe zu sein. Für mich müsste es also einen Gott geben, der alle meine Abgründe kennt und mir trotzdem aus Liebe entgegenkommt – ja, entgegenrennt. Es müsste einer sein, der mir bedingungslose Liebe, Vergebung und Versöhnung einfach nur schenken möchte. Und wenn es so etwas wie Konsequenzen für Schuld und Fehler gibt, dann müsste es auch noch ein Gott sein, der diese Strafe gleich selbst auf sich nimmt, der alles für mich trägt und alles erduldet, mich aus meinem Gefängnis befreit, nicht nachtragend ist und die Ewigkeit mit mir verbringen möchte – ein anderer Gott würde an mir scheitern, oder ich an ihm. Ja, tatsächlich: Einen solchen Gott gibt es!

Ich bin ein verletzter Mensch, der oft andere verletzt hat. Oft neige ich zu Selbstmitleid und zum Jammern. Zweifel und Unsicherheiten sind leider meine treuen Wegfährten. Meine Minderwertigkeitsgefühle werden zwar weniger, sind aber immer noch da. Und so manche Angst klebt an mir wie eine Klette. Manchmal sehe ich mich als ein Bündel von all diesen Unzulänglichkeiten, das sich nur nach Liebe sehnt.

Diese Liebe habe ich persönlich in Gott gefunden, meinem himmlischen Papa, der einen Sohn hat (meinen Bruder) und dessen Geist mir zum Trost und zur Inspiration geworden ist. Ich kenne sonst keinen Gott, der Mensch werden wollte und sich zu seinen Geschöpfen herabbegab …

Was für ein Gott, der Mensch wurde und doch Gott war! Der Knechtsgestalt annahm und in einem Stall in kalter, dunkler Nacht zur Welt kam – der so zart wie ein Hauch von Liebe in diese Welt geboren wurde, nicht aufdringlich, nicht fordernd, nicht manipulierend. Im verzaubernden Lächeln und in der Anmut eines Babys wird Gott Mensch. Er machte sich auf, um sich mit uns zu versöhnen, um uns auf Augenhöhe zu begegnen und uns zu beschenken. Er hinterließ eine Spur unendlicher Liebe und brachte den Himmel direkt in unsere Herzen. Hoffnungslose bekommen Hoffnung. Trauernde Trost, Blinde das Augenlicht, Taube hören wieder, Gefangene werden frei, Lahme können gehen, Aussätzige werden rein und Tote stehen zum Leben auf … Er selbst war gehorsam bis in den Tod. Nie hat Gott deutlicher zu uns gesprochen als durch seinen Sohn.

Jesus ist Gottes Flüstern für diese Welt, für dich und für mich.

Doch der Lärm dieser Welt sorgt für reichlich Ablenkung. Deshalb suche ich gerne die Stille, die Einsamkeit. Vielleicht auch deshalb, weil es eines meiner Lebensmuster war (und ist). Wenn die Welt mich verletzte, so flüchtete ich vor ihr. In der Einsamkeit konnte mir niemand weh tun.

Ganz zu Beginn steht in der Bibel, dass es nicht gut ist, wenn der Mensch alleine ist. Mir ist bewusst, dass dies für viele Bereiche gilt. Und doch fühle ich, dass, wenn ich mit Jesus spazieren gehe, dies ein unbeschreibliches Geschenk für mich ist. Vielleicht kann sich das mancher nicht vorstellen. Doch während der Pandemie sind viele Menschen noch einsamer geworden und leider sogar einsam gestorben, und ich bin mir absolut sicher, dass in diesen Momenten niemand seine Horoskope oder das Universum um Rat fragte, sondern dass so manches Schreien und Flüstern allein Gott galt.

So möchte auch ich ihm einfach nur alles mitteilen, was mir auf der Seele brennt, egal wo ich bin. Zwar weiß er bereits alles, aber ein liebender Papa hört seinen Kindern gerne zu, weil er auch weiß, wie gut es dem Kind selbst tut.

Und sehr oft bin ich auch einfach nur Kilometer um Kilometer still, ich will ja auch hören was er mir zuflüstern möchte …

Gott flüstert durch die Natur, durch die Bibel, durch andere Menschen, durch die Kunst, durch ein Lied, durch Liebe, die uns im Kleinen oder Großen begegnet, durch Dankbarkeit.

Ja, durch Dankbarkeit! Sehr oft schon haben mir Menschen beteuert, dass sie dankbar sind. Auf die Frage, wem gegenüber sie dankbar sind, erntete ich allerdings oft Schweigen …

Übrigens, wenn Menschen miteinander flüstern, kommen sie sich stets ganz nahe. Vielleicht war das auch mit ein Grund, warum auf der sinkenden Titanic „Näher mein Gott“ gespielt und gesungen wurde, um ganz nah sein Flüstern von Hoffnung, Trost, Leben und Liebe zu vernehmen.

Gott nahe zu sein ist unser Glück! (vgl. Ps 1).

Ich bin mir sicher, dass in aller Hektik, in jedem Lärm und den schier unendlichen Ablenkungen Gott zu uns flüstert. Es ist das sehnsüchtige Flüstern eines Papas, der Sehnsucht nach seinen Kindern, nach uns, nach dir und nach mir hat.

So gehe ich immer wieder besonders gerne in die Natur und mit meinem Gott spazieren. Bei einem dieser Spaziergänge bekam ich den Impuls, dieses Buch zu schreiben. Dieses Flüstern erreicht nun viele und jetzt, in diesem Augenblick, auch dich. Lass dich von nichts und niemandem ablenken und höre mit den Ohren deines Herzens, ob Gott dir etwas zuflüstern möchte …

Kapitel 2: Omas Flüstern

Sie war die beste Oma, die ich mir nur wünschen konnte – meine Oma „Lisa“, die eigentlich Elisabetha hieß. Sie war die Mama meines Vaters. Papa hatte mit ihr einen Glücksgriff getan. Sein eigener Vater, also mein Opa, war allerdings im Krieg und in Gefangenschaft gewesen. Über Gefühle wurde zwischen den Männern so gut wie nie gesprochen, und zeigen konnte man sie kaum. Oma war ganz anders. Oh, wie vermisse ich sie!

Sie war eine bescheidene Frau, konnte viel lachen und vertraute sehr auf Jesus. Papas Schwester, Tante Wilma (Jahrgang 1938), erzählte mir im Februar 2020, vor der Corona-Krise, meine Oma habe mindestens zweimal ihre Kinder unter Gefahr ihres eigenen Lebens verteidigt. Zweimal wurden sie in den 1940er-Jahren von Fliegern aus der Luft beschossen, und beide Male verbarg sie ihre Kinder unter sich und beschützte sie mit ihrem eigenen Körper. (Das Schreiben fällt mir gerade schwer. Ich möchte meinem Herzen freien Lauf lassen und später wohl auch meinen Tränen.)

Dieses intensive Gespräch mit meiner Tante Wilma hatte ich an ihrem 82. Geburtstag, dem 8. Februar, der zugleich auch der Todestag meiner geliebten Oma wurde, doch dazu später mehr. Ich fragte meine Tante, was sie taten, wenn Fliegeralarm war, wenn die Schrecken des Krieges unser kleines Dorf ereilten. Tränen liefen über ihr Gesicht, als sie flüsterte: „Wir versammelten uns in den Kellern, hielten uns an den Händen, lagen uns in den Armen und sangen bzw. beteten dazu.“

Diese drei Dinge also gaben ihnen Halt und Trost mitten in der Todesangst: Gemeinschaft, Festhalten und Singen bzw. Beten. Mich berührt das zutiefst, was meine Tante mir Wochen vor dem ersten Lockdown mitten aus ihrem Herzen zuflüsterte: „Gemeinschaft, Festhalten und Gotteslob.“ Irgendwie hallt dies immer noch in mir nach.

Allerdings waren diese drei Dinge uns eine Zeitlang kaum oder gar nicht möglich. Als ich am 1. November 2020 zuletzt einen Gottesdienst besuchte, waren wir vielleicht zehn Personen. Wir saßen in großen Abständen voneinander; singen durften wir nicht; nicht einmal die Mimik des anderen konnten wir hinter den Masken richtig sehen. Dafür blickte ich in so manches traurige Augenpaar.

Meine Oma war stets der Garant für den Familienzusammenhalt gewesen. Sie war eine starke und herzliche Frau. Liebevoll hatte sie sich um ihre Kinder gekümmert, während Opa im Krieg und in der Gefangenschaft war. Ich kann mir kaum vorstellen, wie sie das alles meisterte. Und Millionen andere auch. Im Glauben an Jesus Christus wurde sie gestärkt; mit dieser Liebe erzog sie ihre Kinder. Jeden Abend betete sie mit den Kleinen, bevor es zu Bett ging. Sie hatte zwei Buben und drei Mädchen gehabt. Ein Junge war bereits nach nur zwei Wochen gestorben. Unbeschreiblich, was diese Frau so alles durchmachte in ihrem Leben; doch nichts, aber auch gar nichts, konnte ihren Glauben erschüttern. Sie war stets ruhig und freundlich, manchmal mahnend, aber voller Liebe.

Es gab Jahre, da besuchte ich Oma und Opa fast täglich. Ich saß auf ihrem kleinen grauen Sofa und sie in ihrem Omasessel hinter ihrem Holzofen. Sie litt an Diabetes, und als ich etwa zehn Jahre alt war, amputierte man ihr ein Bein. So saß sie Tag für Tag hinter ihrem Ofen. Sie „krabbelte“ von einem Raum in den anderen oder saß gemütlich in ihrem kleinen Hof.

Kaum ein Tag verging, an dem sie mir nicht voller Liebe und Ehrfurcht von Jesus erzählte. Ehrfurcht? Was ist das? Ehrfurcht hat nichts mit unserer menschlichen Angst zu tun. Wer meine Oma gekannt oder ihren Worten gelauscht hätte, dem müsste ich das nicht mehr erklären. Vielleicht hat es auch mit Faszination, Staunen, Respekt und Würde zu tun.

Es war wenige Monate vor ihrem Tod, als sie mir eindringlich sagte: „Halte dich stets an Gott! Die Welt lacht mehr und mehr über ihn; den Menschen geht’s zu gut. Sie denken, sie schaffen es ohne Gott. Vielleicht braucht so mancher Mensch die Not, um nach Gott zu rufen. Ich wüsste nicht, was ich zu Kriegszeiten ohne ihn getan hätte. Er war immer für uns da!“

Solche Worte kamen aus dem Munde einer Frau, die ihr Kind verloren hatte, die so oft um das Leben ihres Mannes gebangt hatte und schauen musste, wie sie ihre Kinder versorgen konnte. Die sich selbst stets zurücknahm und gab, wo sie nur geben konnte – und das alles zu Kriegszeiten!

Oft erzählte sie mir biblische Geschichten. Ich bin so dankbar für jede Minute, in der ich ihr zuhören konnte. Gerade jetzt fällt mir ein, dass ich ihr wohl nie gesagt habe, wie sehr ich sie liebe. Sie wusste es immer, doch ist es so wertvoll, es auszusprechen. Ich wusste es ja auch erst mit 37 Jahren, wie unendlich kostbar es ist, die Liebe auszusprechen.

Sehr oft erzählte sie mir von dem ersten Märtyrer „Stephanus“, dass er für sein Bekenntnis zu Jesus sterben musste, dass er aber im Sterben den offenen Himmel sehen durfte. Diese Begebenheit sollte später noch eine größere Bedeutung bekommen.

So oft beteten wir gemeinsam. Welch ein Segen, Eltern und Großeltern zu haben, die beten und segnen können. Immer wieder erzählte sie mir von ihrem kleinen Jungen, dem „Werner“, der mit gerade mal zwei Wochen gestorben war. Sie gab Gott nie die Schuld für seinen Tod, sondern sagte mir mit Gewissheit, dass er nun bei Jesus sei.

 

Omas Sofa war ein Stück Zufluchtsort für mich, wenn die Welt da draußen brüllte. Hier wurde nie geschrien. Opa war wortkarg; nie sprach er aus seinem Herzen. Nähe konnte er auch keine spenden. Heute weiß ich, warum. Er starb 1988, als ich 18 Jahre alt war. Ich glaube, seine Erziehung sowie der Krieg und die Gefangenschaft haben vieles in ihm zerstört und sein Herz versteinert. Würde ich ihm nur noch ein einziges Mal begegnen, so würde ich ihn in meine Arme nehmen (wenn er es zulassen würde) und ihm in sein Ohr flüstern: „Opa, ich verstehe dich und ich liebe dich!“ Oh Mann, geht mir das ans Herz!

Ende Dezember 1983 kam meine Oma ins Krankenhaus. Die ersten vier Wochen dachten wir, dass alles gut werden würde, doch auf einmal schien sie uns nicht mehr zu erkennen. Es war eine schlimme Zeit. Meine geliebte Oma wusste meinen Namen nicht mehr.

Eines Tages saß ich an ihrem Bett, als ich ein Strahlen in ihrem Gesicht bemerkte; es war wie von Freude erleuchtet. Sie zeigte zur Wand neben sich und fragte flüsternd, mit zärtlicher Stimme, voll Ehrfurcht und Dankbarkeit: „Siehst du ihn Michael?“ Dabei wisperte sie aufgeregt, als teilten wir unser intimstes Geheimnis.

„Siehst du ihn?“, hakte sie nach. „Nein, wen?“, fragte ich und schaute verwundert auf die Wand. „Sieh doch genau hin!“, wurde sie energisch. „Jesus ist da! Schau … wie wunderschön er ist …“

Ja, jetzt sah ich ihn auch – auf ihrem Gesicht. Ich sah, dass Oma Lisa ihn sah … Und ich flüsterte ihr zu: „Ja, jetzt sehe ich IHN auch …“ Sie lächelte mit tiefer, erfüllter Freude und zugleich Sehnsucht.

So durften wir beide Jesus sehen – meine Oma von Angesicht zu Angesicht und ich in ihrer Freude, im Strahlen ihres Gesichtes …

Die auf Gott schauen werden leuchten wie die Sonne, sagt die Bibel (vgl. Mt 13,43). Ich habe es selbst gesehen und erlebt, damals am 7. Februar 1983 im Kreiskrankenhaus in Bopfingen auf Ebene eins, ganz hinten am Flur … Es war die Krönung all unserer Gespräche.

(So, nun laufen meine Tränen. Ich weiß nicht, ob es sich „gehört“, wenn man als Autor von seinen Tränen schreibt, während man die Tastatur bearbeitet und mit verschwommenen Blick zu erklären versucht, was unerklärbar ist. Ich spüre nur noch Ehrfurcht, Dankbarkeit und Liebe … Mein Bildschirm ist verschwommen … Ich sehe IHN gerade jetzt, Jesus, vor meinen inneren Augen; und vielleicht erkennst auch du ihn in deinem Herzen.)

Einen Tag später kam mein Papa um die Mittagszeit nach Hause. Dies war das erste Mal, dass ich ihn weinen sah – diesen Mann, der so oft geschrien hatte. Er stieg aus dem Taxi, ging die Stufen unseres alten Hauses hinauf, trat ein und flüsterte unter Tränen: „Meine Mama ist eben gestorben …“ Nie werde ich diesen Augenblick, sein Flüstern vergessen, genauso wenig wie das meiner Oma tags zuvor.

Im Himmel sah sie ihren kleinen Werner wieder, und sie hat nun wieder zwei Beine und tanzt mit Jesus. Ihr Gesicht strahlt jetzt bis in alle Ewigkeit …

Ihr leises Zeugnis von der Schönheit Jesu Christi möge auch in dein Herz flüstern und dir den gleichen Halt schenken, den meine Oma stets hatte, den Trost, der sie durch schwere Zeiten getragen hat, und den Mut, ihr Leben aus Liebe zu geben; ihr Vertrauen in den, der nie von ihrer Seite gewichen ist und der sich ihr im Sterben zeigte. Er nahm ihr alle Ängste und schenkte ihr die Zuversicht, dass der Himmel für sie offenstand wie einst bei Stephanus.

„Schau, Michael, wie wunderschön Jesus ist“, höre ich sie immer und immer wieder flüstern, seit nun mehr als 37 Jahren. Und deshalb flüstere auch ich es jetzt in diese Welt hinaus: „Seht her, wie schön ER ist.“

Mögest auch du sehen, wie schön ER ist … Sein Name ist JESUS!