Dr. Love und die schüchterne Forelle

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Dr. Love und die schüchterne Forelle
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Ein satirischer Roman von Michael Bresser

DR. LOVE UND DIE

SCHÜCHTERNE FORELLE


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d­nb.de abrufbar.

ISBN 9783943172195

Der Autor:

Michael Bresser, geboren 1971 im Münsterland, studierte Germanistik und Philosophie in Essen, dazu Wirtschaftswissenschaften an der Universität von Cardiff in Wales. Dort merkte er, dass er der Droge Literatur verfallen war. Er veröffentlichte bei Ullstein Berlin mehrere satirische Münsterland­Krimis (u.a. „Die Sau ist tot“, „Mein Schwein pfeift“) voller schwarzem Humor, leitet Literaturworkshops, hält Lesungen und tritt bei Poetry­ Slams auf. 2007 emigrierte Bresser nach Hannover, wo er noch heute mit seiner Familie lebt.

Internet: www.rockdasdorf.de

Facebook: Michael Bresser

Twitter: @mickmagick

© 2012 MARLON

Ein Imprint der Joh. Brendow & Sohn Verlag GmbH, Moers

www.marlon­-verlag.de

Autor und Verlag haben dieses Buch sorgfältig geprüft. Für eventuelle Fehler kann dennoch keine Gewähr übernommen werden. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der gesetzlich geregelten Fälle muss vom Verlag schriftlich genehmigt werden.

Lektorat: Otmar Fischer, Münster

Umschlag: BrendowPrintMedien, Moers

Titelfoto: Thinkstock

Satz: BrendowPrintMedien, Moers

1. digitale Auflage 2013: Zeilenwert GmbH

Cover

Titel

Impressum

00. Ouvertüre

01. Marx, Ökologie und andere Katastrophen

02. In Jägermeister getauft

03. Der Schlieffen-Plan wird ausgegraben

04. Lonley Wolf auf der Suche nach Hot Bunny

05. Die Knutschkugel rollt

06. Seeteufelallergie

07. Moviestar

08. Ein schweißtreibendes Rendezvous

09. Hundediebstahl

10. Endlich Sex

11. Die Magie der Rühreizubereitung

12. Zurück in die Natur

13. Loverman

00. Ouvertüre

When you were here before,

Couldn’t look you in the eyes

You’re just like an angel,

your skin makes me cry

You float like a feather

In a beautiful world

I wish I was special

You’re so fuckin special

But I’m a creep,

I’m a weirdo

What the hell am I doin’ here?

I don’t belong here

Thom Yorke

01. Marx, Ökologie und andere Katastrophen

»Raus aus dem Bett! Heute geht’s um die Wurst«, weckt mich mein bester Freund und Mitbewohner Zorro.

Es gibt Tage, auf die fieberst du seit Jahren hin. Du wachst morgens auf, reibst dir die verschwitzten Hände und weißt genau: An diesem Datum wird sich dein Leben komplett ändern. So oder so. Der achtzehnte Geburtstag ist so ein Meilenstein. Du darfst Auto fahren, bis zum bittersüßen Ende abfeiern und lässt den Eltern ihre Meinung, scherst dich aber nicht weiter darum.

Heute ist ein noch wichtigerer Tag in meinem Leben. Denn heute absolviere ich den letzten Teil meiner mündlichen Magisterprüfung. Fachgebiet Neuere Deutsche Literatur. Wenn ich diese Hürde überspringe, sind acht Jahre Plackerei mit kargem Budget überwunden. Eigentlich hätte ich mein Studium früher beenden müssen. Aber meine Familie hat mich immer knappgehalten, obwohl mein Großvater zu den fünfzig wohlhabendsten Hannoveranern zählt. Das stand vor einem Jahr im Stadtkind. Ihm gehört ein Maschinenbauunternehmen, und manchmal sagt er im Scherz, dass er ein Schild auf sein Konto kleben müsse: »Wegen Überfüllung geschlossen.« Wenn man wie ich jeden Cent drei Mal umdrehen muss, ist das gar nicht lustig. Aber manchen Leuten fehlt der Blick für die Realität des Otto-Normal-Studenten.

Mein Vater ist pensionierter Lehrer, der nagt auch an keinem Hungertuch. Doch er vertritt wie Opa die Ansicht, dass ich den Eintritt ins Berufsleben selber schaffen muss. Ein Mitglied der Familie Singer sollte seine Sporen verdienen. Schließlich musste er auch in den Sechzigern in einer Autofabrik Metallteile zusammenschrauben. Und das, wo er kapitalistische Ausbeutung hasst. Warum sollte ich es besser haben? Somit unterstützen mich meine Eltern nur durch Übernahme der Mietkosten. Fünfzig Euro monatlich erhalte ich noch zum Leben. Das hält mein Großvater für puren Luxus. Mit meinem Wohlstand hätte er in Fünfzigern eine vierköpfige Familie ernährt und noch zehn Prozent aufs Sparbuch gepackt. Studiengebühren und den Rest muss ich mir selbst dazuverdienen. Aber ich will mich nicht beschweren. Andere Kommilitonen erhalten nichts von ihren Eltern.

Daher arbeite ich als freier Mitarbeiter bei der Hannoverschen Zeitung. Berichte von attraktiven Karnickeln, wunderschönen Schrebergärten oder feurigen Seniorentanzveranstaltungen gehören zu meinem Ressort. Die Eventeinladungen organisiert die Zeitung, die farbvollen Attribute sind mein Job. Diese Arbeit frisst Zeit, denn der christdemokratische Ortsverein berät natürlich abends über Deutschpflicht in muslimischen Gottesdiensten. Meine Zensuren in den Klausuren bewegen sich daher auf Sparflamme. Aber ein gutes Pferd springt nicht höher, als es muss. Wenn ich die Prüfung bestehe, winkt mir eine Stelle als Volontär bei der Hannoverschen. Das ist so gut wie eingetütet. Nur der Wisch vom Prüfungsamt fehlt.

»Willst du träumen oder durchstarten?«. Zorro hat mich am Arm gepackt und schüttelt mich.

»Alles klar. Das wuppe ich schon. Darf ich vorher einen Kaffe trinken?«, antworte ich, während ich mir den Schlaf aus den Augen reibe.

Zwei Stunden später sitze ich mit Zorro auf dem Rasen vor dem alten Welfenschloss, in dem die Leibniz-Uni residiert. Dieser Prachtbau wurde 1855 von Georg V. als Sommerresidenz in Auftrag gegeben. Das habe ich für einen Artikel im Lokalteil recherchiert.

Zorro raucht eine Selbstgedrehte. Den Spitznamen trägt Tobias Ziegler, so nennt ihn der Personalausweis, seit Kindergartenzeiten. An irgendeinem Karneval lief Tobi als Rächer mit der Maske auf. Der Nick blieb an ihm haften, was ihm auch gefällt. »Wenn der Pfarrer bei meiner Beerdigung sagt: ›Wir tragen heute Zorro zu Grabe‹, klingt das definitiv besser als ›Tobias‹, sagt er immer. Seine hagere Statur erweckt den Eindruck, als nähme er nur in Schaltjahren feste Nahrung zu sich. Aber der Schein trügt. Zorro hat einen gesunden Appetit.

Die anorektische Figur verdankt er seinem Job. Eigentlich studiert er ebenfalls. Irgendwas mit Kommunikation. Genau weiß er das selber nicht mehr. Die Uni vermisst ihn schon seit Jahren. Zu Beginn seines Studiums heuerte er bei einer Firma an, die Medikamente für die Pharmaindustrie testet.

Die zahlten gutes Geld für Probanden. Und tun das auch noch heute. Es gibt kein Krebs- oder Aids-Medikament, das Zorro nicht durch seine Blutbahnen gespült hätte. Neben Kohle gibt das jede Menge subventionierten Drogenrausch, meint er. Für mich wäre das nichts. Ich halte es für Prostitution, seinen Körper ausbeuten zu lassen. Doch Zorro sieht das anders. »Ich bin ein postmoderner Jesus«, sagt er jedem, der seinen Broterwerb kritisiert. »Ich gebe mein Leben für das Seelenheil anderer.« Damit ist jede Diskussion im Keim erstickt. Denn wer in unserem Kulturkreis kritisiert den Gottessohn? Die wenigsten, möchte ich behaupten.

Nebenher spielt er noch Gitarre in einer Punkband. Die hieß früher Kaputtnix und wurde vor einem Jahr in Kaputtwix umbenannt. Seitdem häufen sich die Auftrittsangebote. In Hannover sind die Jungs Kult, haben sogar schon auf einem internationalen Festival in Warschau im Rahmen des deutschpolnischen Kulturaustausches gespielt. Ansonsten relaxt Zorro gerne und lässt den lieben Gott lieber Gott sein. Damit leben beide gut. Aber zurück zu Zorros Äußerem. Seine kastanienbraunen Haare fallen ihm bis auf die Schulter. Heute hat er sie zu einem Pferdeschwanz gebündelt. Seine pechschwarzen Augen zwinkern oft, was auf die meisten Menschen sympathisch wirkt. Überhaupt, die meisten Menschen lieben meinen Freund. Vor allem Frauen.

 

In diesem Punkt sieht es bei mir eher mau aus, um nichts zu sagen: finsterer als in einem Kohlenflöz in Aserbeidschan. Ich sehne mich nach einer Freundin, einer Frau, der ich die Sterne vom Himmel holen und ein Funkeln in die Augen zaubern kann. Das sollte doch eigentlich kein Problem sein, werden viele sagen. Ist es aber. Ich bin schüchterner als ein Hecht vor dem Köderfisch. Wenn ich eine attraktive Frau sehe, laufen meine Hormone Amok. Mein Herz rast, aus meinen Achselhöhlen läuft Schweiß, und ich erzähle kompletten Blödsinn.

Das wirkt auf Frauen nicht gerade attraktiv, innere Werte hin oder her. Die will keine mehr entdecken. Und ich kann es ihnen nicht verübeln.

Wenn ich über meinen fehlenden Erfolg bei Frauen jammere, zieht Zorro eine Augenbraue hoch und spricht wie ein antiker Philosoph. »Timo, in der Ruhe liegt die Kraft. Das wird.« Aber der neunundzwanzigste Geburtstag nähert sich.

Und danach kommt schon die hässliche Dreißig. Wann wird es denn nun endlich?

Heute besucht Zorro zum ersten Mal seit drei Jahren die Uni. Er ist mitgekommen, um mir Händchen zu halten. Ein wahrer Freund. Er trägt ein End-of-Green-Shirt, darüber eine graue Strickjacke, die nie gute Tage gesehen hat. Seine dürren Beine stecken in einer löchrigen Jeans-Hose. Nicht, dass er sich keine bessere Kleidung leisten könnte. Ich bin mir sicher, dass er am Monatsende mehr Geld auf dem Konto vorfindet als mancher Juniorprofessor. Es ist sein Style. Wäre er Multimillionär, würde er auch keine besseren Klamotten tragen, beteuert er.

»Und?«, fragt Zorro. »Wie hoch ist dein Adrenalinlevel? Koffein ist momentan bestimmt nichts für dich«, holt er eine Coladose aus dem Jutebeutel, öffnet sie und trinkt einen Schluck. »Sonst hätte ich dir was angeboten. Apropos, ich hab da so ein Grippemittel getestet, das beruhigt enorm. Das wäre ideal für dich.«

»Außer wenn ich krank bin, nehme ich keine Medikamente. Und dann auch nur, wenn ich den Kopf unterm Arm trage«, winke ich ab. »Aber es ist doch kein Wunder, dass ich hibbeliger als ein Duracell-Hase bin. Wenn ich durchfalle, kann ich den festen Job bei der Zeitung vergessen. Dann begrüßt mich wieder die Bäckerinnung zum Jubiläum.«

»War nur ein Vorschlag. Ich wusste gar nicht, dass du so heiß auf dieses Volontdingsbums bist. Du schreibst doch bereits für die Presse.«

»Sicher, aber als Volontär erhältst du ein Festgehalt und bekommst bessere Jobs. Außerdem brauche ich nicht als Uni-Methusalem zu enden. Gott sei Dank bin ich top vorbereitet.« Eine Gruppe Studenten geht vorbei. Darunter ein Mädchen mit Lockenkopf in einer blauen Installateursjacke. Ihre Nase wirkt etwas breit, sie hat aber ein nettes Gesicht mit Lachgrübchen.

»Da läuft Iris, die kenne ich aus einem Oberseminar«, sage ich zu Zorro.

»Und, wäre die nichts für dich? Die sieht doch nett aus.«

»Nee, lass mal. Irgendwie kann die nicht auf mich.«

»Iris!«, brüllt Tobias.

Ich gerate in Panik. »Bist du bekloppt!«

Iris dreht sich um, lächelt und kommt auf uns zu. Bestimmt grinst sie innerlich, weil sie mich für einen Idioten hält.

»Was machen wir denn jetzt«, flüstere ich aufgeregt. Sie steht vor uns.

»Hi, Timo«, grüßt sie. »Kennen wir uns?«, fragt sie dann Zorro. Eigentlich sieht sie freundlich aus, aber das liegt bestimmt an Zorros Charisma.

»Noch nicht. Ich bin der beste Freund von Timo. Wir konnten noch keine Bekanntschaft schließen, da ich gerade aus Afghanistan komme. Ich habe für die Vereinten Nationen Polizisten am Hindukusch ausgebildet. Ich sage dir, das war kein Nonnenwettbeten. Du wusstest nie, wer Freund oder Feind ist. Bei jeder Fahrt konnte der Tod am Wegesrand lauern.«

Iris mustert Zorro von oben bis unten und wieder retour. Sie grinst.

»Wie ein Soldat siehst du nicht gerade aus. Ich schätze, dass du nur wegen dieser Tarnung überlebt hast. Strickjacke statt Uniform.«

Zorro winkt ab. »Das Trauma hat mich eingeholt. Die schrecklichen Bilder kannst du nicht verdrängen. Ich gebe zu, kleidungstechnisch habe ich mich etwas gehen lassen. Aber das passiert mit den Veteranen eines jeden Krieges. Kennst du Born in the USA von Springsteen?«

»Patriotische Songs mag ich nicht«, winkt Iris ab.

»Baby, der Song wird völlig missverstanden. Es geht um einen Jungen aus der Kleinstadt. Er wird nach Vietnam eingezogen, überlebt und kehrt zurück. Sein Job in der Raffinerie wurde von einem anderen besetzt. Sein Bruder zog auch in den Krieg und fiel. Wofür lohnt sich eine Rückkehr? Ronald Reagan wollte das Lied für seine Wahlkampagne missbrauchen, doch der Boss lehnte ab. Die Geschichte des Songs ist die Geschichte meines Lebens. Nur, dass ich der Tobias aus Linden bin. Für Freunde Zorro.«

Iris starrt ihn an, als wäre er ein sprechendes Auto.

»Du kannst Geschichten erzählen. Aber dein Baby bin ich deshalb nicht. Springsteen scheint ein interessanter Sänger zu sein. Den muss ich mir bei Gelegenheit genauer anhören. Redet dein Kumpel immer so viel?«, fragt sie mich.

Weil ein die Luftröhre aufsteigender Kloß im Hals meine Stimme erstickt, zucke ich nur mit den Schultern.

Zorro mischt sich ein. »Springsteen ist ein Genie. Wenn ich Streets of Philadelphia höre, treibt mir seine Stimme jedes Mal vor Rührung die Tränen in die Augen. Wenn du interessiert bist, Timo hat all seine Scheiben.«

Ich schaue entsetzt aus der Wäsche. »Ich glaube, da vertust du dich«, krächze ich heiser. Ein Knuff in die Hüfte löst meine Stimme aus ihrem Gefängnis. Er will da was arrangieren. Nein, was soll ich denn mit Iris reden. So gut kenne ich die doch gar nicht.

»Hast du oder hast du nicht?«, fragt sie und mustert uns wie Außerirdische.

»Ich weiß nicht so recht. Vielleicht irgendwo in einer alten Kiste verkramt«, stammele ich.

»Ist auch nicht wichtig«, meinte Iris schließlich. »Was machst du jetzt? Du siehst aus, als ob du gleich zum Wiener Opernball wollest.« Wolltest oder willst, wollest sagt doch keiner, oder?« Ich blicke auf meine Beine, die in einer Anzughose mit Nadelstreifen stecken.

»Magisterprüfung. Mündlich. Romantik und E.T.A. Hoffmann oder Kommunikationstheorien, keine Ahnung«, quetsche ich Satzbruchstücke raus.

»Oh, dann viel Glück! Du machst das schon, Timo. Ich muss nächste Woche auf den elektrischen Stuhl. Unter anderem Farbmetaphorik im Expressionismus. Ich habe echt Bammel. Und du? Bist du aufgeregt oder entspannt?«

»Entspannt, ja genau. Ich muss gleich los«, sage ich hastig. Ich weiß nicht, ob sie enttäuscht oder erleichtert ist, uns los zu sein. Wahrscheinlich Letzteres.

»Wie gesagt, viel Glück. Man sieht sich. Und dir, Tobias, auch viel Erfolg bei der Bewältigung deiner Kriegstraumata.« Grinsend zieht sie ab.

Als sie die Tür des Gebäudes hinter sich schließt, schlägt mir Zorro auf den Schenkel.

»Du bist ein Vollpfosten. Wenn eine Frau Interesse an einer CD hat, besitzt du diese Scheibe. Ist doch klar. Und wenn du sie als Timbuktu-Import orderst.«

Die Anspannung verlässt meinen Körper. »Ich will die nicht treffen. Wenn ich mit Iris allein wäre, würde ich vor Nervosität kollabieren.«

»Spinner«, verdreht Zorro die Augen. »Mit der geht was für dich. Die mag dich, das habe ich im Gefühl.«

»Wer von uns ist hier der Spinner. Der Polizist aus Afghanistan. Wie kannst du so einen Mist erzählen? Warum sagst du nicht, du wärst Anwalt oder Investmentbanker. Das wäre genauso glaubwürdig.«

»Nur langweilig. Klar, sie hat mir kein Wort geglaubt, aber sie hat sich gut unterhalten gefühlt. Du hättest nur an meine Story andocken müssen, und schon wäre ein Date arrangiert. Alma habe ich nicht anders kennengelernt. Und Gitta. Auch Ulrike und Jenny«, gibt er ein wenig an. Es ist mir schon ein Mysterium, warum ein mit Medikamenten vollgestopfter Freak so einen Schlag bei Frauen hat.

»Vielleicht mögen sie dich auch trotz deiner Märchengeschichten« sage ich und kann mir ein Grinsen nicht verkneifen.

»Hm«, überlegt Zorro. »So habe ich das noch nicht gesehen. Na, ich bin aber auch ein smarter Kerl. Und unerschütterlich selbstbewusst. Das ist vielleicht der Dreh. So ganz kapiere ich dich nicht. Du erzählst immer, dass du eine Freundin möchtest. Aber wenn eine Frau sich für dich interessiert, machst du dicht.«

Ich blicke auf die Uhr. »Abgesehen davon, dass weder ich sie noch sie mich daten will, muss ich zur Prüfung. Bis später.«

»Faule Ausrede. Aber mach zumindest die Professoren fertig, Timo.«, Zorro zückt eine imaginäre Pistole und drückt ab.

»Ich tapere jetzt zu Mediopharm und schmeiß eine Runde Antiepileptika ein«, sagt er und erhebt er sich wacklig. »Da freu ich mich drauf. Schmerzmittel werden rasch öde.«

Ich schreite durch die Gänge. Als ich mich dem Prüfungsraum nähere, werden meine Schritte langsamer. Mit Neid denke ich an die ganzen Erstsemester. Die haben noch keinen Stress. Am Anfang des Studiums hast du alle Zeit der Welt. Du schaust, was dir die akademische Welt bietet. Besuchst Botanik- oder Theaterseminare und genießt die Freiheit. Ein Paradies. Doch eigentlich denkt jeder, dass er es am schwersten hat. Auch die Erstsemester.

Erst in der Retrospektive gewinnen Ereignisse Leichtigkeit, die sie im Erleben nie hatten. Ich nehme vor dem Prüfungsraum auf einem grauen Metallstuhl Platz. Noch zwei Minuten. Bin ich gut vorbereitet? Jawohl. Sehe ich gut aus? Zumindest ist meine Kleidung der Prüfungssituation angemessen. Werden mich die Prüfer lieben? Ich hoffe es, aber vermute das Gegenteil. Zumindest mein Hauptprüfer Professor Mörike scheint mich zu mögen. Er ist ein skurriler Opa, der immer in viel zu weiten grauen Anzügen herumläuft. Seine oft fleckigen Hemden sind mit karierten Krawatten garniert. Aber das altprofessorale Styling ist reine Tarnung. Dahinter verbirgt sich ein wacher Geist.

Arnold Mörike hat bereits in London, Paris und sogar zwei Semester in Harvard gelehrt. Dann kehrte er nach Deutschland zurück, weil er genug von der amerikanischen Küche hatte und wieder echte Thüringer Bratwurst essen wollte. Den zweiten Prüfer Professor Anrein kenne ich nicht, er soll aber ganz in Ordnung sein, wie der Mensatratsch berichtet. Nummer drei heißt Martin Lehmkuhl, noch nie gehört. Der Herr scheint frisch an der Leibnitz-Uni zu sein.

Das könnte sich als Pluspunkt für mich rausstellen. Neue Dozenten versuchen oft, sich bei den Studenten einzuschleimen. Das verschafft ihren Seminaren höhere Besucherzahlen. Andererseits könnte er auch Eindruck bei den Kollegen schinden wollen. Knallharte Fragen, Finten und Fallstricke. Na, das muss ich abwarten.

Eine Sekretärin im blauen Hosenanzug kommt mit einer Kaffeekanne in der Hand den Gang entlang. »Sind Sie der Nächste?«, fragt sie. Meine Antwort interessiert sie nicht wirklich. »Sie werden aufgerufen.«

Sie klopft und huscht in den Raum, in dem sich meine Zukunft entscheiden wird. Dann dauert es geschlagene zehn Minuten, bis sich die Tür wieder öffnet. Die Sekretärin tritt heraus und kichert, als hätten die Prüfer den Klopper des Jahrhunderts zum Besten gegeben. Hoffentlich ging es nicht um mich. Aber wahrscheinlich schiebe ich nur Paranoia, wie Zorro sagen würde. Ich wünsche mir, ich wäre so cool wie mein Kumpel. Der würde die Prüfung wie einen seiner Punk-Songs runterrotzen, und jeder würde ihn lieben.

»Ah, der Herr Singer. Immer hereinspaziert!« Mörike hat die Tür geöffnet und lacht fröhlich. Er hat ein sympathisches Hobby, fällt mir ein. Bei jedem Heimspiel der Roten von Hannover 96 sitzt er mit Schal und Tröte bewaffnet auf der Tribüne und brüllt sie zum Sieg. Mit dem Sieg klappt das nur alle Jubeljahre, aber er ist sich für nichts zu fein. Ein Professor, den man einfach gernhaben muss. Zumindest bis jetzt.

Ich betrete den Prüfungsraum und bin geschockt. Nicht wegen Professor Anrain, den kenne ich vom Sehen. Nein, Martin Lehmkuhl ist eine Frau. Das muss ein Druckfehler gewesen sein. Wahrscheinlich heißt sie Martina. Und attraktiv ist sie. Mein Herz beginnt zu pumpen, die Schweißdrüsen öffnen sich. Die Lehmkuhl muss Mitte bis Ende dreißig sein. Sie trägt ihr hüftlanges Haar offen, durch ihre blauen Augen kann man in die tiefe der Seele schauen. Knackige Figur, soweit ich sehen kann. Die wird so einen hässlichen Vogel wie mich hassen. Warum muss so etwas immer mir passieren.

»Guten Morgen«, begrüßen mich Anrein und die Lehmkuhl. Die Lehmkuhl lächelt. Über mich? Eigentlich muss sie neutral bleiben. Obwohl Prüfer immer durch persönliche Vorlieben beeinflusst werden. Das stand zumindest im Spiegel oder im Stern.

 

»Na, Herr Singer. Wir haben heute die Romantik und E.T.A. Hoffmann als Thema. Das haben Sie bereits in Ihrer Magisterarbeit beleuchtet. Gute Arbeit, nur zum Ende hin etwas schwammig. Da wollten Sie schnell fertig werden, was?«, grinst mich Mörike an. Was will er denn damit sagen? Vielleicht ist er doch nicht so nett, wie ich gedacht habe.

»Käffchen?«, wendet er sich an die Kollegen.

»Gerne. Für mich mit Milch und zwei Kapseln Süßstoff.

Das ist nicht besonders gesund, sagen Kollegen von der medizinischen Fakultät, aber ich kann es einfach nicht lassen«, lacht Anrein affektiert.

»Ich trinke nur grünen Tee. Da gibt es einen Versand in Brandenburg. Die importieren die besten Grüntees Chinas. Und alles ökologisch angebaut. Kaffee macht mich immer nervös. Höchstens mal eine Tasse aus Eine-Welt-Bohnen. Da weiß ich, dass die Bauern fair entlohnt werden, gel«, verkündet die Lehmkuhl mit einer seltsamen Sprachmelodie. Wenn mich nicht alles täuscht, spricht sie mit leicht hessischem Akzent.

»Es ist schade, dass Hannover dem Lehrkörper nur Kaffee anbietet. In Hildesheim gab es wenigstens Kamillentee. Das ist zwar kein richtiger Tee sondern nur ein Aufgussgetränk, aber immerhin.«

»Für mich wäre das nichts, Kamillentee, bah. Den musste ich als Kind immer trinken, wenn ich krank war. Diese Flüssigkeit ist in meinem Unterbewusstsein fest mit Magen-Darm-Grippe verbunden«, weiß Anrein beizusteuern.

Hallo! Ich habe hier eine Prüfung. Wollen meine Prüfer die ganze Zeit verquatschen?

»Ich bevorzuge zum Kaffeetrinken die Oststadt«, verliebt sich Anrein in das Thema. »Die Lister Meile ist doch pittoresk. Der Engelbosteler Damm ist in Fakultätskreisen auch beliebt und hat einige schöne Ecken. Das muss ich zugegeben. Dennoch gibt es dort soziales Konfliktpotenzial. Ich habe von der Bekannten eines Bekannten gehört, dass sie dort am helllichten Tag ausgeraubt wurde. Da trinke ich meinen Kaffee doch lieber in friedlichen Gegenden. Aber ich bin in diesem Punkt auch einfach gestrickt. Diesen neumodischen Schnickschnack wie aromatisierten Kaffee bei Starbucks brauche ich nicht. Meine Frau trinkt so was gerne. Um Ehestreitigkeiten aus dem Weg zu gehen, sage ich immer: ›Jeder soll nach seiner Fasson glücklich werden.‹ Gott sei Dank leben wir nicht mehr im Dritten Reich, wo alles vorgeschrieben wurde.«

»Ich glaube kaum, dass sich Herr Hitler Gedanken über Kaffe gemacht hat«, wirft Frau Lehmkuhl schnippisch ein.

»Das wäre ein interessantes Forschungsthema für eine Kollegin aus der Historiker-Abteilung.«

»Ja, solche Geistesblitze kommen oft aus heiterem Himmel, mitten im Gespräch oder beim Baden. Mein letztes Aufsatzthema schoss mir durch den Kopf, als ich mich in der AWDArena über ein Tor unserer Roten freute.«

»Fußball ist langweilig. Ich kann nicht verstehen, Herr Kollege, wie sich ein Mann mit Bildung für Leute interessiert, die wie von der Tarantel gestochen neunzig Minuten hinter einem Ball herhecheln.«

»Ähm«, trage ich auch meinen Anteil an der Diskussion bei und hoffe, nicht zu forsch aufzutreten. Erstaunt schauen mich die drei an.

»Entschuldigen Sie, Herr Singer. Da sind wir etwas vom Thema abgekommen«, räuspert sich Mörike. »Meine Kollegen stellen sich kurz vor.«

»Anrein«, knurrt der Fliegenträger mit Mittelscheitel, Mitte fünfzig, in der Mitte der drei. »Wie bekannt sein dürfte, bin ich die Instanz für marxistische Literaturtheorie in Deutschland.« Mir wird schlecht. Von Marxismus verstehe ich weniger als vom Schafezüchten. War Kalle Marx nicht der Typ, der alle Produktionsmittel dem Volke schenken wollte? Aber den Bezug zur Literatur kenne ich nicht. »Man kann nicht alles wissen«, sagt meine Oma immer.

»Martina Lehmkuhl. Ich bin von der Universität Marburg gewechselt. Mein Schwerpunkt liegt im Bereich der ökologisch orientierten Frauenliteratur. Ich hoffe, Sie haben keine Probleme mit Frauen«, zwinkert sie mir zu.

Mist, sie hat mich durchschaut.

Ich fühle, wie sich Wasserlachen auf meiner Brust und in meinen Achselhöhlen bilden. »Nei ein«, stottere ich. Sie sieht klasse aus. Wahrscheinlich fragt sie sich, warum sie an der Leibnitz-Universität angeheuert hat, wenn hier so hässliche und ungebildete Vögel wie ich herumfliegen. Von Frauenliteratur habe ich natürlich ebenfalls keinen blassen Schimmer. Das kann nur in einer Katastrophe enden. Und zwar ausschließlich für mich.

»Gut, sehr gut«, sagt sie und lächelt dabei spöttisch.

»Dann wollen wir ad hoc in medias res durchstarten«, strahlt Mörike. »Herr Singer, seien Sie so nett und ordnen Sie die Romantik literaturhistorisch ein.« Er will mir einen leichten Einstieg verschaffen. Guter Mann. Leider ist mein Kopf leerer als der Bratwurststand in einem Veganercamp. Ich schaue ihn mit großen Augen an und warte, dass Worte sich aus meinem Unterbewusstsein heraus über meine Zunge artikulieren. Die Lehmkuhl ist eine Wahnsinnsfrau. Die muss einen Verlierer wie mich hassen.

»Herr Singer, sind Sie noch bei uns?«, fragt Anrein. Dabei zieht er eine Augenbraue provokativ nach oben.

»Ja, Herr Singer, so schwer ist die Frage nicht. Sie haben sie doch in Ihrer schriftlichen Arbeit beantwortet«, macht Mörike mir Mut. Vergeblich. Mein Schädel ist ein Vakuum. Doch dann … Bitte. Ich presse mit höchster Anstrengung. Es ist wirklich verdammt schwierig, die zum Sprechen notwendigen Muskeln bewusst in Bewegung zu setzen. Das hätte ich nie gedacht. Aber es funktioniert. Wenn auch widerwillig.

»Äh«, gelangen schließlich Schallwellen aus meinem Mund. Das ist alles. Die Prüfer starren mich an, als hätte ich soeben das elfte Gebot verkündet, das mir Gott auf dem Lindener Berg offenbart hat. Gefühlte fünf Minuten verstreichen.

»Vielleicht sollten Sie Hoffmanns Beziehung zu Frauen mit den weiblichen Figuren seiner Texte in Korrelation setzen. Herr Singer. Er verwendet – Sie haben es sicherlich bemerkt – starke Frauenfiguren, die aber selten dem heutigen Bild einer emanzipierten Frau entsprechen.«

Was will sie jetzt von mir? Immerhin habe ich die Sprache wiedergefunden.

»Äh, ja. Äh.«

Allerdings gebe ich nichts Produktiveres von mir, was mich dem Bestehen der Prüfung näherbringt. Jetzt kann nur ein Wunder helfen. Der Schweiß von meiner Brust ist inzwischen über den Bauch in meiner Boxershorts gelaufen und juckt in einer sensiblen Gegend wie ein Rudel Sackratten, das Tango tanzt.

»Eine ausgezeichnete Frage. Nehmen Sie bitte auch Stellung zu dem Verhältnis Künstlertum und Kapitalismuskritik in Hoffmanns Novelle Das Fräulein von Scuderi », legt Anrein nach. Jetzt haben sie mich auf dem Kieker.

»Wenn Sie schon dabei sind, erläutern Sie die Hoffmann-Rezeption von den Zeitgenossen bis zur Gruppe 47. Bitte legen Sie besonderen Wert auf die Diskussion im Nationalsozialismus.«

Trotz gähnender Leere droht mein Kopf zu platzen. Alle Vakuummoleküle pressen sich zusammen und warten darauf, sich in einer Explosion zu entladen. Das kann nur in einer Katastrophe enden.

»Ich bin krank, ich kann nicht mehr. Da die Prüfung noch nicht begonnen hat, melde ich mich ordnungsgemäß als indisponiert«, verkündige ich.

»Bitte?«, reibt sich Professor Mörike die Nase.

»Das ist nicht Ihr Ernst!«, haut Anrein auf den Tisch. »Mich beschleicht der Eindruck, dass Sie uns veralbern wollen. Die Fragen haben bis jetzt höchstens Bildzeitungsniveau. Die könnte mein Großvater beantworten, und der war Landwirt.« Die Stöckelschuhe der Lehmkuhl klacken staccato aufs Parkett, als wenn sie mich auf den Boden nageln wollte.

»Herr Singer«, sagt sie mit sanfter Stimme. »Versuchen Sie es doch noch mal. Ich bin mir sicher, dass Sie unsere Fragen beantworten können. Der Reihe nach. Keiner hetzt sie.«

»Werte Kollegin, der Student zieht feige den Schwanz ein. Solche …«, überlegt Anrein, »Leute brauchen weder wir im akademischen Betrieb noch die Menschheit im Berufsleben.«

»Nun machen Sie mal halblang, Herr Kollege!« Die Lehmkuhl scheint etwas an mir zu finden. Was das ist, weiß nur sie allein, denn ich schäme mich selbst zutiefst für meine Unfähigkeit. »Herr Singers Magisterarbeit war passabel. Wenn er unter Prüfungsangst leidet, sollten wir ihm noch etwas Zeit geben. Vielleicht möchten Sie für fünf Minuten frische Luft schnappen?«

Die Männer schauen sie entgeistert an.

»Das ist doch meines Erachtens zu viel des Guten. Andere Prüflinge kneifen auch nicht mitten im Gespräch«, sagt Mörike und nimmt einen Schluck Kaffee. Seine Hand zittert, als er sie auf die Untertasse zurückstellt, so dass Kaffee überschwappt. Gedankenverloren wischt er die braune Tunke mit seinem Hemdärmel auf.

»Verlassen Sie bitte den Raum! Wir beraten, ob wir die Krankmeldung anerkennen.« Anreins Stimme klirrt vor Eiseskälte. »Bitte! Wir rufen Sie wieder herein.«

Wie ein geprügelter Hund schleiche ich aus dem Raum. Seltsamerweise lösen sich alle Blockaden, nachdem ich die Türschwelle überschritten habe. Den Flurwänden hätte ich unzählige Fakten und Theorien über Hoffmanns Damenwelt und die Romantik erzählen können. Aber ich weiß genau: Wieder im Raum, verlässt kein vernünftiges Wort meine Lippen. Ich würde am liebsten eine Flasche Schnaps leeren. Dann wäre ich lockerer.