Die Sanduhr in meinem Kopf

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Die Sanduhr in meinem Kopf
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Copyright © 2022 bei P&L Edition, ein Imprint von Bookspot Verlag GmbH, Planegg

1. Auflage

Lektorat: Johanna Gerhard

Korrektorat: Celine del Rosario, Yvonne Singer

Satz/Layout und Covergestaltung: Martina Stolzmann

Alle Abbildungen © Wikipedia/Wikimedia

E-Book: Jara Dressler

ISBN 978-3-95669-173-7

www.bookspot.de

Meinen Dank an Christel

und unseren Manuel.

Immer wieder.

Was liegt am Ruhm,

da man den Nachruhm nicht erleben kann?

Marie von Ebner-Eschenbach

Vergänglich sind auch die Sterne am Himmel.

Janine Weger

Wer hoch steht, den sieht man weit.

Deutsches Sprichwort

Inhaltsverzeichnis

Spuren einer Heiligen – Hildegard von Bingen, Äbtissin, Heilkundige und Dichterin

Das attische Licht – Agnodike, Ärztin in Athen

Die Gefährtin – Maria Magdalena, Zeugin der Auferstehung

Mein Bild von Roxane – Die Prinzessin aus der Wüste

Die Königin bin ich – Maria Stuart und Elisabeth I.

Vierhändige Scherze am Klavier – Die Wiener Komponistin Marianna von Martines

Ein vermeintliches Paradies – George Sand und Frédéric Chopin auf Mallorca

Erinnerte Gezeiten eines Lebens – Clara Schumann, Pianistin und Komponistin

Die Unsterblichen und der Tod – Elisabeth von Österreich und Romy Schneider

Liebe aus dem Nichts geboren – Die Dichterin der Psychoanalyse Lou Andreas-Salomé

Aus einem ganz besonderen Leben – Marie Curie, zweifache Nobelpreisträgerin

Schwebender Engel – Käthe Kollwitz, Bildhauerin, Malerin, Grafikerin

Die Vermessung der Unendlichkeit – Henrietta Swan Leavitt, Astronomin

Das veruntreute Versprechen – Clara Immerwahr, Doktor der Chemie

Paula oder Die Sanduhr in meinem Kopf – Die Malerin Paula Modersohn-Becker

Von der Erotik der Mathematik – Dr. Amalie Emmy Noether, Mathematikerin

Ein Leben für die Malerei – Bilder von Gabriele Münter

Die Drachenburg oder das Hofatelie Elvira – Anita Augspurg und Sophia Goudstikker, Fotografinnen und Kämpferinnen für die Frauenrechte

Therese Courage – Therese Giehse, Schauspielerin

Das Leben als Bühne – Helene Weigel, Schauspielerin und Intendantin

Ein Tag im November – Luise Rinser, Schriftstellerin

Zahlen haben keine Farbe – Mary Jackson, Ingenieurin der NASA

Erinnerungen an eine Primadonna – Die legendäre Sopranistin Maria Callas

Spuren im Sand – Marilyn Monroe und Arthur Miller

Die erste deutsche Dichterin – Roswitha von Gandersheim

Was noch zu sagen wäre …


Spuren einer Heiligen
Hildegard von Bingen - Äbtissin, Heilkundige und Dichterin

Der Schrein mit den Gebeinen der Hildegard von Bingen befindet sich in der Pfarrkirche (ehemals Klosterkirche) von Eibingen. Am gleichen Ort wird auch ihr Reliquienschatz aufbewahrt.

Beschäftigt man sich mit dieser besonderen Frau, stellt sich bald unausweichlich die Frage: War Hildegard denn überhaupt eine Heilige? Erst im 16. Jahrhundert findet sich ihr Name im Verzeichnis der Heiligen. Und es war Papst Benedikt XVI., der 2012 Hildegard zur Kirchenlehrerin erhob.

Auf jeden Fall war Hildegard eine faszinierende, eine großartige Frau, auch im ziemlich nebligen Abstand von 900 Jahren. Sie verkörperte eine Idee, die auch noch heute anziehend wirken kann: Sie gab das Beispiel für Vertrauen auf Gott, für seine Gnade, Liebe und Weisheit.

Mit einem eher kleinen Artikel auf der Wirtschaftsseite einer Zeitung – leicht zu übersehen, da an dieser Stelle kaum zu erwarten – und nur wenige Tage darauf mit einem vielleicht zehnminütigen Feature in einer Kultursendung im Fernsehen, begann mein Interesse für Hildegard von Bingen. Ab da trug ich zusammen, was ich über diese Frau und ihre Zeit finden konnte.

Im vergangenen Jahr wurde ich gebeten, im Rahmen einer Vortragsreihe Große Frauen der Geschichte, vom Kloster Peterhof veranstaltet, über die Heilige Hildegard zu sprechen. Meine spontane Zusage hatte zur Folge, dass ich mein Wissen über Hildegard und ihre Zeit überprüfen und ordnen musste, am besten chronologisch. Daraus ergab sich zwangsläufig, mich auch mit den nicht unwesentlichen Widersprüchen während des Erdenweges der adeligen Frau zu befassen.

Da ich meine Zuhörer nicht zu sehr mit Daten und Fakten belasten wollte, wählte ich besondere Stationen aus der mehr als acht Jahrzehnten währenden Lebenszeit der Hildegard.

KINDHEIT UND JUGEND

Denke ich mir Hildegard als Kind, sehe ich sie in einer blühenden Wiese sitzen, die Hände im Schoß gefaltet, das Gesicht dem Himmel zugewandt. Es ist wieder solch ein Moment, in dem sie ein helles Licht sieht, sich von einer strahlenden Aura umgeben fühlt. Sie ist ein dreijähriges Mädchen, als sie zum ersten Mal spürt, wie dieses Licht in ihr Herz dringt, und sie fest daran glaubt, dass Gott ihre Seele berührt.

Die Blumenwiese, die sie so sehr liebt, von der sie ihr Leben lang träumen wird, gehört zum Gut Bermersheim, welches ihrer Familie gehört. Das lassen mich meine Unterlagen als gesichert annehmen. Wann und wo Hildegard das Licht der Welt erblickte, ist nicht zweifelsfrei zu belegen. Von adeliger Herkunft wurde sie wohl im Jahre 1098 auf Gut Bermersheim oder aber in Niederhosenbach als zehntes Kind ihrer Eltern geboren.

Hildegard begreift früh, dass ihr Leben der Kirche gehören wird. Als zehntes Kind ist dieser Weg beinahe fest vorgegeben, sie ist die Dank- und Opfergabe der Familie an Gott. Das Mädchen sieht sich herausgehoben, bevorzugt, spürt eine Heiterkeit, wenn sie an ihre Rolle denkt. Sie selbst beschreibt, wie sie mit acht Jahren Gott dargebracht wurde und damit ihr geistig-religiöser Weg begann. In ihrer neuen Umgebung wird man sich sehr bald gefragt haben, wer die Hildegard denn sei, dieses Mädchen, das gern von dem Licht erzählt, das sie immer wieder sieht.

KLOSTER DISIBODENBERG

Mit zwei anderen jungen Frauen kommt Hildegard in das Benediktinerkloster Disibodenberg. Ihr Einfluss dort nimmt so zu, man kann beinahe von einer friedlichen Übernahme sprechen, dass sie von ihren Mitschwestern zur Magistra gewählt wird. In dieser Führungsrolle sehe ich die junge Hildegard vehement und zäh für ihre Überzeugungen streiten. Noch steht sie als Person selbst hinter dem, was sie sagt und tut, bezieht sich noch nicht auf die Weisungen des Himmels. Natürlich kann der Abt des Klosters eine Frau mit eigenen festen Vorstellungen nur schwer ertragen, so etwas passt nicht in die Zeit.

Ich sehe sie zusammensitzen, Hildegard und den Abt, sehe sie sprechen, und das ist ein zähes Ringen. Schritt für Schritt geht Hildegard voran. Schritt für Schritt weicht der Abt zurück. Die Magistra hat sich vorgenommen, der Askese die unbedingte Strenge zu nehmen, die rigorosen Essensvorschriften, die anstrengenden Gebetszeiten und die endlosen Gottesdienste für die Schwestern leichter ertragbar zu machen. Während dieser Gespräche entdeckt Hildegard den Humor als eine unwiderstehliche Waffe, die starke Mauern zerbröseln lässt. Doch bei einem Punkt stößt sie auf Granit: mit ihrem Wunsch nach einem eigenen Kloster. Was für eine Idee! Das geht schon aus Prinzip nicht. Hinzu kommt noch ein bedeutender wirtschaftlicher Grund. Hildegard ist für das Kloster zu wichtig, da sie zu dieser Zeit bereits außerhalb der Klostermauern bekannt und beliebt ist.

 

HILDEGARDS VISIONEN

Die Lichterscheinungen Hildegards sind für sie längst Erinnerungen, auf die sie inzwischen nicht mehr unbedingt setzen muss. Sie kommen ihr erst wieder stärker in den Sinn, als ihr der Humor nicht mehr weiterhilft. Sie sucht einen Weg, ihren wachsenden Einfluss unangreifbar zu machen, die Männergemeinschaft der Kirche mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Der Gedankensprung von den Lichtern zu Visionen, die vom Himmel kommen, ist da nicht weit. Welcher Kirchenmann, ob Abt, ob Bischof wird es wagen, Zeichen des Himmels anzuzweifeln?

Sie erweist sich als geschickte Taktikerin. Sie schreibt einen Brief an Bernhard von Clairvaux, sucht bei ihm Anerkennung ihrer Visionen. Der Abt verfasst seine Antwort so, dass Hildegard seine Worte ganz in ihrem Sinne zu interpretieren vermag. Sie betritt ihren Weg als Seherin ohne Zögern und ganz im Vertrauen auf dessen Richtigkeit.

Ich sehe Hildegard mit einem Schreiber und einer Vertrauten im Skriptorium des Klosters sitzen. Sie diktiert ihre Eingebungen, die unmittelbar in Latein, das sie nur unzureichend beherrscht, niedergeschrieben werden.

So entsteht eines ihrer Hauptwerke, Scivias – Wisse die Wege – eine Glaubenslehre. Die schwierigen Texte sind kein fester gangbarer Weg, sie können aus verschiedenen Sichten gesehen und ausgelegt werden, beziehen vielleicht gerade daraus ihre starke Wirkung. (Übrigens: Die Handschrift gilt – ein wirkliches Unglück – seit Ende des Zweiten Weltkriegs als verschollen.)

Hildegard arbeitet geschickt und unermüdlich an ihrem »guten« Ruf. Vom Papst lässt sie sich das Recht zur Veröffentlichung ihrer Schriften erteilen. Das steigert weiter ihre Bedeutung. Gern gibt sie dazu kund, dass es der Himmel selbst war, der sie zu den Aufzeichnungen aufgefordert hat. Eine Stimme, sagt Hildegard, habe zu ihr gesprochen, sie solle die ihre im Auftrag des Höchsten erheben und schreiben.

KLOSTER RUPERTSBERG

Hildegards Einfluss wächst mit ihrer Bedeutung. Sie wird eine mächtige Frau. Ein wirkliches Novum zu ihrer Zeit. Sie hat den Ruf einer Botin des Himmels, der ihr Schutzschild ist, kann sie doch damit dem Widerstand vor allem aus dem höheren Klerus, der sehr subtil und feingesponnen ist, auf eine erhabene Weise entgegenwirken.

Ich sehe sie inmitten ihrer Mitschwestern im Refektorium »ihres« Klosters Rupertsberg, das sie irgendwann in den Jahren um 1150 links der Nahe endlich gründen konnte. Hildegard hat jetzt nicht mehr allein den Ruf einer Visionärin, sondern zudem den einer Universalgelehrten. Das sind die beiden Punkte, die sie auf Augenhöhe mit den mächtigen Männern der Kirche und der Welt stellen. Ihre klaren Worte und vor allem der schnell wachsende Reichtum ihres Klosters machen Hildegard angreifbar, wie oft, wenn ein Mensch einen besonderen Weg geht, und ihre Gegner sind nicht immer zimperlich. Aber die Klosterfrau weiß sich zu wehren. Ihre Gemeinschaft, so sagt sie kämpferisch, dürfe nicht nur beten. Gehe es nicht um geistliche, sondern um weltliche Dinge, dann sei allein kühle Vernunft gefragt, kein heißes Herz.

Ihr starkes Selbstbewusstsein, ihre hochstehende Moral öffnen ihr nicht nur die Herzen und Ohren der Nonnen, sondern auch Mönche, Adlige und gebildete Laien hören auf Hildegard.

Außer Scivias hat die fromme Frau das Buch der Lebensverdienste, das Visionen mit der Thematik der moralischen Verantwortung des Menschen sammelt, geschrieben. Ein dritter Band ist das Buch der göttlichen Werke, der Mensch und Welt beschreibt.

DIE BERATERIN

Ich sehe Kaiser Barbarossa in seiner Pfalz zu Ingelheim mit einer Nonne am Kaminfeuer sitzen und die Köpfe zusammenstecken, um die Szene in heutiger Sprache zu beschreiben. Der Kaiser hat Zutrauen zu dieser Frau gefasst, die aus der Einfachheit des Herzens heraus den richtigen Ton und die richtigen Worte trifft, um den erwünschten Rat zu geben. Denkt der Kaiser an ihre Ansicht zu seinem Kriegszug, muss er schmunzeln. Die Grundfarbe der Geschichte sei rot, Herr, blutrot. Das dem mächtigsten Mann zu sagen, traue ich Hildegard ohne Weiteres zu.

Nicht nur der Kaiser, auch Könige, Päpste, Bischöfe suchen vor wichtigen Entscheidungen ihren Rat. Es sind nicht nur die hohen Herren, auch dem einfachen Volk wird sie zur Wegweiserin, obwohl sie sich – Koketterie? – gern als ungebildet bezeichnet. Diese »ungebildete« Klosterfrau geht jedoch auf theologische Reisen, predigt, spricht mit Offenheit den Niedergang der Kirche und des Klerus an. Vor gefährlichen Gegenangriffen schützt Hildegard sich stets mit der starken Deckung ihrer »göttlichen Visionen«. Nicht sie spricht, Gott spricht aus ihrem Mund.

Es waren nur selten persönliche Begegnungen, so wie mit dem Kaiser, meist waren es schriftliche Verbindungen zur Welt. Ihre Korrespondenz war sehr umfangreich. So darf die Sammlung ihrer Briefe ohne Frage zu ihrem schriftlichen Werk gezählt werden.

SPÄTE ROSEN

Ich sehe Hildegard zur frühen Abendstunde im Klostergarten. Sie sitzt auf einer Bank von Sträuchern später Rosen umgeben, beinahe eingerahmt. Leise summt sie vor sich hin. So sucht sie in der Stille nach neuen Melodien für den Gottesdienst. Sie nennt das nicht komponieren, sie nennt es den Geist reinigen. Sie setzt so ihre Glaubensgrundsätze in Musik um und gibt die leuchtenden Bilder ihrer Vorstellung an andere weiter.

Was auf diese Art entsteht, sind liturgische Gesänge, die zur Gregorianik gezählt werden.

Dann sehe ich Hildegard ein anderes Mal mit jungen Frauen fröhlich singend im Kräutergarten. Hier hält sich die Äbtissin nur zu gern auf. Der Garten lockt sie zu jeder Jahreszeit, ist er doch für sie eine Erinnerung an ihre frühen Jahre. Und natürlich erkennt Hildegard auch hier eine Möglichkeit, auf die Menschen einzuwirken. Wieder diktiert sie den Schreibern, sammelt zwei Bände mit ihrem Wissen über die Kraft der Natur. Naturkunde und Heilkunde nennt sie die Bücher. Allerdings gibt es leichte Zweifel, sie als die alleinige Verfasserin zu betrachten. Nicht gesichert, aber zu vermuten ist, dass Hildegard auch aus anderen Quellen schöpfte, die sie als richtig ansah. Von dem Buch Ursachen und Behandlungen, auch Hildegard zugeschrieben, hat sich nur eine einzige Handschrift in unsere Zeit retten können.

Einmal, so stelle ich es mir vor, hört die schon betagte Hildegard einem Gespräch über den Tod zu, schweigt und behält ihre Gedanken dazu bei sich. An einem der nächsten Abende, es ist der Tag vor ihrem Tod, spricht sie mit Gott und danach mit Gottes Sohn. Sie sagt, dass die Landschaft des Todes für sie keineswegs dunkel sei, wisse sie doch ihre Freunde dort und zudem gehe sie in das Licht des Himmels ein, das sie von Kindheit an begleitet habe.

Die Äbtissin vom Kloster Rupertsberg, Hildegard von Bingen, stirbt am 17. September 1179. Dieses Datum ist belegt.

HILDEGARDS SPUREN

Was ist von Hildegard von Bingen in unsere Zeit gekommen?

Hildegards Ruf als Heilkundige ist erst durch die moderne Werbung forciert worden und ist nicht zu ernst zu nehmen. Sie hat, das kann behauptet werden, das Heilwissen ihrer Zeit gesammelt und geordnet und sich dabei nicht hinter dem Latein versteckt, sondern die deutsche Sprache verwendet. Hildegard hat auch geschrieben: »Drei Pfade hat der Mensch in sich, die Seele, den Leib und die Sinne. Beachtet der Mensch dies, bleibt er gesund.«

Vom Volk wurde Hildegard schon zu Lebzeiten als eine Heilige verehrt. War sie das auch in ihren eigenen Augen? Dafür habe ich keine Belege gefunden. Ganz gewiss war sie eine seltene, eine überragende Persönlichkeit, die keinen Zweifel hatte an dem, was sie glaubte, sagte und tat. In ihrer Zeit, vor 900 Jahren, gab sie den Frauen eine Stimme, die Gehör fand und die ernst genommen wurde. Sie konnte wohl gewiss sein, ihren Weg nicht alleine für sich, sondern auch für ihre Schwestern und für alle Menschen zu gehen.


Das attische Licht
Agnodike, Ärztin in Athen

Ihren Namen lese ich zum ersten Mal in einer geschichtlichen Abhandlung eines ärztlichen Magazins. Dort wird sie beiläufig in einem Nebensatz als die erste Ärztin der griechischen Antike vorgestellt. Das fast schon fahrlässige an den Rand schieben dieser zur damaligen Zeit – wir sprechen von den Jahren um 290 vor Christus – so besonderen Ausnahme, ein Hinweghuschen über ein staunenswertes Kuriosum, reizt sofort meine Neugierde.

Wieder zurück an meinem Schreibtisch beginne ich zu recherchieren. Zunächst überrascht, im Verlauf meiner Nachforschung zunehmend erstaunt, muss ich feststellen: Es gibt über Agnodike nur wenig mehr als diesen Nebensatz zu finden. Dementsprechend dünn sind meine Notizen, die ich erst einmal zur Seite lege, bis ich möglicherweise etwas entdecke, das ich ihnen hinzufügen kann.

Mein Kopf allerdings beschäftigt sich selbständig in einem Hinterstübchen weiter mit dieser fast vergessenen Agnodike. In diesem ruhigen Domizil wird aus der unbekannten Frau, die als Ärztin, in jener Zeit eine für Frauen streng verbotene Tätigkeit, einen nicht unproblematischen, unter Umständen sogar einen für sie gefährlichen Beruf ausübte, allmählich eine lebendige Person.

Agnodike ist in meiner Vorstellung eine Frau in den mittleren Jahren. Sie strahlt eine eigentümlich ruhige Nervosität aus, hat das starke Charisma einer erfolgreichen und anerkannten Persönlichkeit.

Ich sehe sie durch das rege Treiben in den Straßen von Athen einem Ziel entgegeneilen. Immer wieder schenkt sie ein freies Lächeln den Menschen, die ihr begegnen und sie grüßen. Über der Schulter trägt sie eine geflochtene Tasche. Sie ist unterwegs zu einer Patientin, die in den nächsten Tagen ihr erstes Kind erwartet. Ein Sklave, der einige Schritte vor ihr herläuft, sich immer wieder nach ihr umschaut, hat ihr den dringenden Ruf überbracht.

Agnodike ist eine Geburtshelferin und wird von ihren Patientinnen wie eine gute Freundin geliebt. Die Gemeinschaft dieser Freundinnen, alle Gattinnen einflussreicher Männer, hat ihr in der dunkelsten Stunde die Freiheit für ihren Beruf erfochten.

Als Tochter eines Arztes war Agnodike lange Jahre die Helferin ihres Vaters. Immer in seiner Nähe konnte ihr nicht entgehen, dass die Frauen vor ihrem Vater, einem Mann, zumeist eine schamhafte Scheu zeigten, die in ihrem Zustand zu Verkrampfungen und damit häufig zu Komplikationen führte. War sie mit den Frauen alleine, war alles leichter.

Bedingt durch diese Beobachtung versuchte sie mit steter Bitte, ihren Vater dazu zu bringen, ihr Lehrer zu werden. Doch der Vater schien bei diesem Wunsch mit Taubheit geschlagen. Er wusste nur zu gut, dass eine Frau nicht einmal daran denken durfte, Ärztin sein zu wollen, auch nicht eine Geburtshelferin. Das war allein Aufgabe der Männer. Das war einfach so. Die Tochter verstand, was der Vater ihr mit seinem Schweigen sagen wollte, bohrte aber weiter, versuchte das Unmögliche, nämlich einen Stein zu erweichen.

Eines Tages kam ein fremder Arzt auf Besuch in das Haus des Vaters. Sein Name war Herophilos und er kam aus Alexandria. Zunächst nahm der Gast die junge Frau kaum wahr, auch weil eine Frau in dieser Gesellschaft nur ein Schattendasein führen durfte. Trotz allem konnte er bald nicht mehr übersehen, wie geschickt Agnodike mit den Patientinnen umging, als er ihren Vater bei seinen Hausbesuchen begleitete.

Nach einiger Zeit und sehr vorsichtig suchte Herophilos immer wieder das Gespräch mit der Tochter des Freundes. Allmählich, ganz sanft, entwickelte sich zwischen den beiden eine besondere Beziehung der gegenseitigen Wertschätzung, die dazu führte, dass der Arzt zum Lehrer von Agnodike wurde.

 

Die Ausbildung musste mit besonderer Vorsicht ablaufen, es durfte auf keinen Fall zu Tuscheleien oder zu Gerüchten kommen. Was Herophilos machte, war ein Tabubruch, denn es wurde mit großer Strenge darauf geachtet, dass Frauen nicht in die Männerwelt eindrangen. Selbst die harmlosesten Versuche wurden rigoros unterbunden. Herophilos bestand darauf, dass seine Schülerin ihn nur in Männerkleidung begleitete. Sogar die Frauen ließen sich täuschen, reagierten bei ihr zunächst wie bei einem Mann, akzeptierten sie erst, nachdem sie sich als Frau zu erkennen gab.

Als Herophilos Athen wieder verließ, war Agnodike eine geschickte Geburtshelferin mit einer Reihe Patientinnen aus reichen Häusern. Der Arzt hatte ihr den Rat gegeben, den sie beherzigte, sich hauptsächlich Frauen anzunehmen, die den höheren Kreisen angehörten. Sie kam oft als Freundin der Schwangeren in die Häuser der Reichen und Einflussreichen, was für sie einen gewissen Schutz bedeutete.

Obwohl sie immer noch im Geheimen als Ärztin, zumeist als Geburtshelferin arbeitete, wurden durch Mundpropaganda im Atrium der Frauen ihre Fähigkeiten gelobt und ihre Bekanntheit wuchs. Damit aber auch das Risiko, dass von dieser geheimen Ärztin auch Männerohren etwas mitbekamen.

Eines Tages half sie einer Dame aus der oberen Schicht bei der schweren Geburt eines Mädchens. Der hohe Gatte hatte sich unbedingt einen Knaben als Erben gewünscht. Schuld, dass seine Hoffnung nicht erfüllt wurde, hatte ohne Zweifel Agnodike. Wie konnte es sein, dass eine Frau bei einem solch wichtigen Ereignis maßgeblich beteiligt war? Den Göttern hatte das nicht gefallen und sie hatten ihn dafür mit einem Mädchen bestraft.

Das enttäuschte Jammern des Vaters mit dem falschen Kind öffnete die Schleuse der Verleumdung. Die Männer pochten auf das Gesetz. Frauen und Sklaven durften keine Ärzte sein.

Agnodike wurde in das Gerichtsgebäude bei der Agora gebracht. Dort wartete sie mit anderen in einem düsteren Raum auf ihren Prozess. Lange konnte das nicht dauern, war der Ärztin klar. Solch ein Frevel musste schnell gesühnt werden. Zu ihrem eigenen Erstaunen fühlte sie keine Angst, wartete in philosophischer Ruhe, gedachte ihrem Traum, der sich so wunderbar erfüllt hatte. Nun hatte er sich wie der feine Morgennebel verflüchtigt, womit sie ja jeden Tag, jede Stunde hatte rechnen können. Die Götter hatten es erst gut mir ihr gemeint, nun hatten sie ihre schützenden Hände von ihr genommen – das den Menschen bekannte Spiel eben.

Was Agnodike von ihren Mitgefangenen unterschied und ihr viel Respekt bei ihnen einbrachte, waren die Besuche hochstehender Frauen aus der besseren Gesellschaft. Jeden Tag kam eine andere ihrer Freundinnen, um sie zu trösten. Die Gefangene selbst war sich der Ironie bewusst, die hinter dem schönen Schein steckte. Das Ansehen und Vertrauen ihrer Mitgefangenen gewann sie alleine aus dem Umstand, dass ihre Besucherinnen zur führenden Schicht Athens zählten. Es war ebenso eine Farce, dass sie in Männerkleidung versteckt alle wichtigen Häuser der Stadt betreten durfte, obwohl alle zu gut wussten, dass sie eine Frau war. Als Agnodike bei diesen Gedanken lächeln musste, staunten die anderen über ihre scheinbare Gelassenheit.

Eine der Frauen, die in diesem trostlosen Raum wie alle anderen zu jeder Stunde darauf wartete, zur Verurteilung geholt zu werden, war krank. Sie war hierher gebracht worden, weil sie sich gegen ihren gewaltsamen Mann zur Wehr gesetzt hatte. Agnodike sprach mit ihr, denn nach ihrer Erfahrung hatten die körperlichen Symptome der Frau seelische Gründe. Herophilos, ihr verehrter Lehrer, hatte sie fast jeden Tag daran erinnert, dass der Arzt neben dem Körper auch für die Seele der Patienten sorgen müsse. Wichtig waren das aufmerksame Zuhören und das intime Gespräch. Agnodike hielt sich an diese Regel und schon durch diese Therapie besserte sich der Zustand der Mitgefangenen zusehends.

Da wurde die Tür geöffnet und herein kam Agnodikes einfluss-

reichste Freundin, der sie geholfen hatte, drei gesunde Kinder auf die Welt zu bringen. In der Ecke unter dem einzigen Fenster des gemauerten Raumes flüsterte der Besuch von der guten Nachricht. Wie Sphärenmusik klang es Agnodike in den Ohren, als sie erfuhr, sie würde in den nächsten Tagen vor den Richter gerufen. Nein, kein Urteil erwarte sie, sondern ihre Freiheit. Die Freundinnen hätten ihre Männer von der Notwendigkeit eines Umdenkens überzeugt.

Agnodikes Augen leuchteten auf, wurden aber nach einer Weile wieder trübe. Sicherlich würden in Zukunft strenge Augen über sie wachen, damit sie das Verbot beachte.

Nein, widersprach die Freundin, es würde kein Verbot mehr geben. Sie dürfe jetzt frei als Geburtshelferin den Frauen zu Seite stehen. Zwei Bedingungen: Sie muss weiterhin in Männerkleidung die Häuser betreten und sie darf nicht öffentlich über ihre Tätigkeit als Geburtshelferin sprechen.

Agnodike umarmte die Freundin.

»Liebe Agnodike, fünf Frauen warten schon mit heißem Herzen auf deine begnadeten Hände und deinen Mut machenden Zuspruch.«

Agnodike stiegen die Tränen in die Augen, ihr Gesicht wurde rot vor Freude.

Agnodike sei das helle Licht der Frauen, rief der hohe Besuch in den trüben Gefängnisraum, in dem kurz die Hoffnung leuchtete.