Sand im Dekolleté

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Sand im Dekolleté
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Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

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eISBN 978-3-8271-8395-8

Micha Krämer

Sand im

Dekolleté


Prolog

September 2020

Insel Langeoog

Vielleicht hätte er doch auf seine Mutter hören und einen ordentlichen Beruf erlernen sollen. Die Zeiten, in denen man es in seinem Berufsstand noch zu etwas bringen konnte, waren ziemlich eindeutig lange vorbei. Dieses Internetz mit seinen gläsernen Menschen, in dem jeder alles über jeden wusste und in Erfahrung bringen konnte, empfand er mehr und mehr als einen Fluch als einen Segen. Allesamt Umstände, mit denen sein großes Vorbild Onkel Ludwig nie zu kämpfen gehabt hatte. Der Onkel, der liebe Gott hab ihn selig, war eine echte Koryphäe gewesen. Was der angepackt hatte, wurde zu Gold. Der hatte so viel Kohle beiseitegeschafft, dass er sich mit siebzig davon zur Ruhe hätte setzen können. Hatte er aber nicht. Ludwig hatte das, was er tat, geliebt. Er war es gewesen, der ihn damals an die Hand genommen und ihm alles an Handwerkszeug mit auf den Weg gegeben hatte, was man brauchte, um in ihrem Gewerbe Erfolg zu haben. Nach anfänglichen Fehlschlägen, aus denen er viel gelernt hatte, lief es dann auch richtig gut. Er hatte fette Jahre gehabt. Doch dann verließ ihn irgendwann das Glück. Es wurde immer schwerer, Kasse zu machen. Gespart hatte er auch nie. Es war töricht von ihm zu glauben, dass es immer so weitergehen würde wie zu den guten alten Zeiten.

Kurzum: Wenn er nicht bald einen ordentlichen Fisch an den Haken bekäme, würden sie ihm in seiner Hamburger Einzimmerwohnung nicht nur den Strom abstellen. Nein, die Leute, mit denen er sich eingelassen und von denen er sich Geld geborgt hatte, würden ihn komplett ausknipsen.

Fürs Erste blieb nur zu hoffen, dass sie ihn hier, wo er sich jetzt befand, nicht vermuten und auch nicht suchen würden. Hier auf der Insel zwischen den Touristen fühlte er sich sicher. Nie und nimmer kämen die Gorillas von Stalin Inkasso auf die Idee, ihn auf einer Insel zu suchen. Hinzu kam, was er überhaupt nicht vermutet hätte, dass die Arbeitsbedingungen in einem Ferienort, wie Langeoog einer war, fast optimal für jemand aus seinem Gewerbe waren. Dass er da nicht früher drauf gekommen war.

Er lehnte sich im Strandkorb zurück und blickte dem feurigen Ball nach, der am westlichen Horizont ins Meer tauchte. Doch, ja … er liebte seinen Job noch immer. Auch wenn es zuletzt nicht so gelaufen war wie geplant, so war er doch gerne ein Heiratsschwindler. Ansonsten hatte er ja auch, wie gesagt, nichts anderes gelernt.

Kapitel 1

Sonntag, 20. September 2020, 23:48 Uhr

Insel Langeoog

Zu Hause war es doch immer noch am schönsten, ging es Kriminaloberkommissar a. D. Hans Peter Thiel durch den Kopf. Natürlich gab es eine Menge anderer hübscher Orte auf dieser Erde, wo er gerade lieber wäre. Sein Lieblingsort zum Beispiel, wenn es denn so etwas gab, war die Amalfi­küste. Die steilen Klippen, an denen die Häuser klebten wie Schwalbennester, das Meer, die Ruhe. Ja, das gefiel ihm.

Die Insel Langeoog, auf der er sich gerade befand, war ebenfalls ein herrliches Fleckchen Erde und im Gegensatz zu Amalfi verstand er hier sogar die Einheimischen. Also zumindest im Ansatz und solange sie nicht in ihren norddeutschen Slang verfielen.

Was Hans Peter allerdings an der beschaulichen ostfriesischen Insel störte, waren die Sorte Menschen, die keine vier Meter hinter ihm an dem Ecktisch in der „Düne 13“ hockten, laut grölten, Witze erzählten, die gar keine waren, und die über Dinge lachten, über die man einfach nicht lachen konnte. Das Alleralleralleraller­schlimmste daran war jedoch der Umstand, dass er diese Rumkugeln, wie sie sich selbst nannten, schon seit der Abfahrt am Betzdorfer Busbahnhof ertragen musste. Nun gut, das kleine beschauliche Städtchen Betzdorf am Rande des Westerwalds konnte jetzt erst einmal eine Woche verschnaufen. So lange nämlich würde der Kegelclub „Die Wäller Rumkugeln“ das beschauliche Eiland in der Nordsee mit ihrem Frohsinn und guter Laune terrorisieren. Wie hatte er sich bloß von seiner Lebensgefährtin Inge Moretti zu diesem Ausflug überreden lassen können? Ihr schien das Ganze, im Gegensatz zu ihm, auch noch zu gefallen. Sie hockte da zwischen den Rumkugeln, trank Birnenschnaps und kicherte gerade wie ein Schulmädchen über eine Schote von Erna Kolchowsky. Hans Peter vermutete, dass man die Lache der beinahe sechzigjährigen Erna bestimmt auch noch auf einer der Nachbarinseln hören konnte. Bei jedem Lacher bebte ihr mächtiger Busen dermaßen, dass man Angst haben könnte, er würde ihr jeden Moment aus dem Dirndl hüpfen. Ja, Erna trug selbst hier an der See ein Dirndl. Das passte zwar nicht wirklich auf die Insel und zur maritimen Umgebung, aber man kannte es eben nur so an ihr. Erna trug immer und überall eines ihrer Dirndl. Dabei stammte sie gebürtig noch nicht einmal aus Bayern, sondern irgendwo aus dem Kohlenpott. Zumindest hatte er so etwas mal gehört.

Mit ein Grund für den geselligen Abend war die Tatsache, dass Erna Kolchowsky in ihren Jubeltag hineinfeierte. Morgen, also ziemlich genau in neun Minuten, würde Erna sechzig. Für die Rumkugeln ein gefundener Anlass zum Feiern. Wobei die vermutlich auch hier sitzen und trinken würden, wenn keines ihrer Mitglieder um Mitternacht Geburtstag hätte. Einen Grund zu feiern, das wusste Hans Peter nur zu gut, fand die Truppe immer.

„Wir hätten dann bitte noch eine Runde Birne für alle“, bestellte Oberrumkugel Hubert Bitterbach die nächste Runde.

„Jo, ich hät dann auch noch gern einen. Dat kann man hier heut ja nur im Suff ertragen“, orderte Käpt’n zur See a. D. Piet Dönges ebenfalls noch einen. Dieser alte ehemalige Kapitän der Langeooger Schifffahrt war ein Kerl nach Hans Peters Geschmack. So und nicht anders hatte er sich immer einen ostfriesischen Seemann im Ruhestand vorgestellt. Auf den ersten Blick ähnelte der Käpt’n, wie ihn hier alle lediglich nannten, einer zu heiß gewaschenen Version des Kerls aus der Fischstäbchen-Werbung. Piet Dönges wirkte nämlich irgendwie eingelaufen. Alles an dem alten Seebären war faltig und zerknautscht. Das fing bei seiner Mütze an, setzte sich im Gesicht fort und endete bei den ausgetretenen Schuhen. Hans Peter wurde in vier Wochen siebzig Jahre alt. Der Käpt’n könnte geschätzt sein Vater sein. Wobei er das nicht beschwören würde. Vielleicht lag es ja einfach nur an der salzigen Luft, dass dem die Haut so schrumpelig geworden war. Ähnlich wie bei einer salzigen, im Wind getrockneten Salami oder einer Mumie.

Martin von Schlechtinger, ein ehemaliger Kölner Heizungsbauer, der links von Hans Peter an der Theke saß, hatte ihm erklärt, dass auch er nicht genau wüsste, wie alt der Käpt’n tatsächlich sei. Er vermute aber mal, dass er von den Hundert nicht mehr weit entfernt sein dürfte. Darüber hinaus wusste Martin von einer weiteren herausragenden Fähigkeit des Alten zu berichten. Angeblich tauchte der Käpt’n, ähnlich wie ein Geist, immer und überall da auf, wo gerade auf der Insel etwas passiere. Vermutlich habe der Seebär im Unruhestand so eine Art siebten Sinn.

„Der taucht nämlich immer und überall auf, wo etwas los ist und wo man ihn überhaupt gerade nicht gebrauchen kann“, hatte Martin behauptet.

Der Alte sei auch immer bestens über alles informiert. Wer den Käpt’n kannte, brauchte auf der Insel weder Zeitung noch Radio.

Dieser Martin von Schlechtinger war, das hatte Hans Peter schon bemerkt, als er ihn vor einem halben Jahr kennenlernte, ein feiner Kerl. Ein kölsches Original, gestrandet auf einer Insel in der Nordsee. Martin arbeitete bei der Ferienhausvermittlung Hansen, mit deren Chefin Annemarie Hansen er ganz nebenher auch liiert war. Die beiden waren ein wirklich sehr angenehmes Paar. Sehr feine Menschen. Auch Annemaries Ziehsohn Krischan Dönges und dessen Frau Lotta schätzte Hans Peter sehr. Lotta war Inselpolizistin und eine gute Freundin von Inges Tochter Nina. Über diese hatten sie die netten Langeooger auch erst kennengelernt.

„Meine Jüte, wat hat die Olle eine Krümelschublad“, sinnierte der Kölner gerade und starrte mit offenem Mund zu Erna Kolchowsky, deren üppige Oberweite nach einem Lacher vor einigen Sekunden immer noch nachbebte.

„Die hat was?“, musste Hans Peter jetzt mal nachfragen.

„Na, su ’ne Krümelschublad … hier fürne su … da, wo der beim Essen die ganzen Krümel reinfallen tun … Wie sät man dann noch … Dekolldingens … oder so“, wiederholte Martin von Schlechtinger sich und deutete auf seine Brust.

„Ach, du meinst ihr Dekolleté“, verstand Hans Peter Thiel jetzt.

„Jo, su genau heißt dat wohl … glaub ich“, bestätigte Martin und nippte an seinem Bier.

„Na ja … also erotisch ist anders“, musste Hans Peter jetzt mal loswerden, obwohl er sich im Grunde von sexistischen Sprüchen eher distanzierte.

Martin sah derweil auf seine Uhr und seufzte.

„Dat Frau Annemarie hät aber heute auch wieder eine Ausdauer“, stöhnte er nun.

 

Hans Peter blickte zu Annemarie Hansen, die neben seiner Inge saß und ebenfalls mächtig Spaß zu haben schien.

„Morgen um halb sechs geht der Wecker“, sinnierte Martin weiter.

Tja, da hatte es Hans Peter deutlich besser. Er als Pensionär im Urlaub konnte morgen so lange ausschlafen, wie er mochte, oder zumindest so lange, wie Inge ihn ließ. Im Grunde waren sie beide ja Frühaufsteher. Außer natürlich, wenn es abends mal später wurde und noch hinzukam, dass Inge Alkohol konsumierte. Dies tat sie selten, weshalb sie auch dementsprechend eher wenig vertrug. Morgen, das wusste er jetzt schon, würde es ein sehr ruhiger Tag werden, an dem er so richtig entspannen konnte, während sie vermutlich die meiste Zeit mit einem Mordskater im Bett liegen würde.

„Zum Geburtstag viel Glück, zum Geburtstag viel Glück. Zum Geburtstag, liebe Erna … zum Geburtstag viel Glück“, stimmte mit einem Mal Oberrumkugel Hubert Bitterbach den Chor der Rumkugeln an, die ausnahmslos in das schiefe Geplärr einstimmten. Selbst Martin von Schlechtinger sang voller Inbrunst mit, während Hans Peter nur langsam fassungslos den Kopf hin und her bewegte. Peinlicher ging es doch nun wirklich nicht mehr.

„Wie schön, dass du geboren bist … wir hätten dich sonst sehr vermisst“, trällerte Hubert nun auch direkt den nächsten Geburtstagshit hinterher, der nun wirklich auf keinem Kindergeburtstag fehlen durfte. Hans Peter wandte sich ab und trank weiter Bier. Was könnte er jetzt schön daheim vor dem Fernseher sitzen. Seine Hand glitt unbewusst zu seiner Brusttasche, wo sich früher für gewöhnlich seine Zigaretten befunden hatten. Aber wie immer in den letzten vier Jahren griff er ins Leere. Daran, dass er nicht mehr rauchte, konnte er sich einfach nicht gewöhnen. Gerade an solchen Abenden wie heute vermisste er seine Filterlosen schon sehr.

„Sag mal, Hans, häst du schon mal so ein Rubbellos gekauft?“, riss ihn die Stimme von Martin aus seinen Gedanken.

„Was?“, verstand er gar nicht, was der Kölner von ihm wollte und sah von seinem Bierglas auf.

„Na su ein Rubbellos … wie dat, wat der Mann da dieser Erna gerade geschenkt hat“, erklärte der Kölner.

Hans Peter drehte sich wieder um. Erna Kolchowsky wedelte mit einem blau glitzernden, etwa postkartengroßem Los umher und drückte Heribert Wolf an sich. Der arme Kerl konnte einem fast leidtun.

„Danke schön, Heri, nein, wie lieb von dir“, freute sich die Jubilarin und drückte dem rüstigen Rentner einen dicken Schmatzer auf den Mund. Dem erschrockenen Gesichtsausdruck nach schien dieser nicht wirklich begeistert von der Kussattacke zu sein. Überhaupt kam nun Bewegung in die illustre Gruppe. Fast alle erhoben sich, um Erna zu gratulieren. Selbst Martin von Schlechtinger, der Erna ja erst seit wenigen Stunden kannte, reihte sich ein. Auf den nun frei geworden Barhocker zu seiner Linken sank derweil ein ziemlich geschaffter Heribert.

„Meine Güte, ist die Olle anstrengend“, stöhnte er.

Hans Peter stimmte nickend zu.

„Vielleicht gewinnt sie ja die halbe Million und wandert dann auf eine Südseeinsel aus“, überlegte Heribert laut. Hans Peter sah ihn von der Seite an. Er und Heribert kannten sich schon aus der Schule. Der alte Schulfreund grinste und bestellte dann bei der Bedienung noch ein Pils.

Keine fünf Minuten später hockte die Schar der Gratulanten wieder brav am Tisch und sah gebannt zu, wie Erna Kolchowsky mit dem Rand einer Fünfzigcentmünze das Gewinnfeld freirubbelte.

„Du musst das Feld mit den Barren freirubbeln. Wenn du eine Sieben findest, dann ist der Betrag, der danebensteht, dein Gewinn“, erklärte Walter Humberger, der neben Erna saß und dessen Kopf beinahe nun auf ihrer Schulter lag. Wie konnte jemand nur so neugierig sein, überlegte Hans Peter Thiel. Wobei … ja … irgendwie war er ja auch ein bisschen gespannt, was nun bei diesem Gerubbel zum Vorschein kam. Sein gesunder Menschenverstand sagte ihm, dass das Los mit großer Wahrscheinlichkeit eine Niete war. Martin von Schlechtinger, der nun wieder neben ihm auf dem Barhocker thronte, gähnte.

„Hoffentlich is hier mal bald Schluss … mir muss ins Bett“, flüsterte er. Hans Peter nickte. Ja, das musste er auch langsam. Dennoch wollte er jetzt wissen, was auf diesem Los stand. Erna hielt nun inne und deutete auf das Stück Papier.

„Eine Sieben, da ist tatsächlich eine Sieben“, jubelte Walter Humberger begeistert.

„Los, Erna, jetzt das Feld daneben. Da steht dann, was du gewonnen hast“, drängelte er.

Erna blickte sich verstohlen um, ihr Kopf glühte rot wie eine Tomate. Dann rubbelte sie weiter, hielt dabei aber die Hand so, wie man es früher in der Schule gemacht hatte, wenn man partout verhindern wollte, dass der Banknachbar bei einem abschreiben konnte. Erneut hielt sie inne. Die Gespräche am Tisch waren verstummt.

„Nun zeig schon“, drängelte Walter als Erster.

„Ich habe gewonnen“, sagte Erna und blickte in die Runde, in der nun auch andere Stimmen laut wurden, Erna solle es zeigen.

„Natürlich hast du gewonnen. Da war ja schon eine Sieben. Aber wie viel, Erna? Wie viel hast du gewonnen? Zehn, hundert oder tausend Euro … oder etwa noch mehr?“, nervte Walter weiter. Ernas speckige linke Hand lag nun auf dem Los und verdeckte es. Als Walter sich anschickte, danach zu greifen, klatschte sie ihm mit der Rechten auf seine Finger und sah ihn dabei gespielt zornig an.

„Pfoten weg“, schimpfte sie. Nahm dann das Los vom Tisch, faltete es einmal in der Mitte und steckte es sich zwischen ihre Brüste ins Dekolleté, wo es zur Gänze verschwand. Eine Geste, die noch mehr Unruhe in der Rumkugelrunde aufkommen ließ.

„Jetzt los, Erna, sag schon“, hörte Hans Peter Inges Stimme in dem Gewirr.

Erna erhob sich und winkte zur Theke.

„Hallo, Herr Wirt … eine Lokalrunde bitte … aber von dem guten Birnenschnaps mit Schoko“, orderte sie. Der junge Mann hinter dem Tresen ließ sich das nicht zweimal sagen und begann sofort einzuschenken.

„Jo, einer geht noch, aber dann is Schluss“, fand Käpt’n Piet Dönges.

*

So mies, wie an diesem ansonsten wunderschönen Septembermorgen, war es Martin von Schlechtinger schon lange nicht mehr gegangen. Vom Meer her blies eine laue Brise, als er gegen sechs Uhr, so wie er es jeden Morgen tat, zum Strand radelte. Neben ihm her lief wie immer Lumpi, die Border Collie Hündin. Heute fuhr er nicht wie gewöhnlich erst ein Stück in Richtung der Melkhorndüne, wie die höchste Erhebung der Insel genannt wurde, sondern nahm den direkten und kürzesten Weg zum Strand. Das Radfahren fiel ihm schwer, und er sehnte sich einfach nur nach seinem erfrischenden morgendlichen Bad im Meer. Danach würde es ihm bestimmt besser gehen. Die Straßen und Gassen waren noch leer, als er sein Fahrrad am Beginn des Holzbohlenweges in der Nähe des „Seekrug“ abstellte und nur mit einem Handtuch unter dem Arm zu Fuß weiter zur Brandungslinie ging. Zum Glück war gerade Flut und der Weg zum Wasser daher nicht ganz so weit zu laufen.

Man musste das Wetter jetzt noch nutzen. Wer wusste schon, wie lange man morgens noch in der Nordsee baden konnte? Lange dauerte es nicht mehr, bis das Wasser zu kalt dazu werden würde. Von den Temperaturen des Sommers war die See bereits weit entfernt. Was Martin aber nicht störte. Was einen nicht umbrachte, machte einen nur härter, hatte sein alter Vater immer gesagt. Okay, früher war Martin auch eher so ein Warmduscher gewesen. Das gab er auch ganz offen zu. Allerdings hatte er gelernt, dass das Bad im kalten Meer ihm auch eine Menge Vorteile brachte. Seit er regelmäßig bei fast jedem Wetter morgens schwimmen ging war er nämlich nicht ein einziges Mal mehr krank gewesen. Seit gut und gerne sechs Jahren hatte er noch nicht einmal mehr einen Husten gehabt. Wie gesagt … was einen nicht umbrachte …

Etwa zehn Meter vor der Brandungslinie breitete er sein Handtuch auf dem feinen hellen Sand aus und begann dann sich zu entkleiden. Eine Badehose brauchte er morgens nicht. Zum einen, weil die meisten sich auf der Insel befindlichen Menschen ja noch schliefen und zum anderen, weil es ihm auch ansonsten ziemlich egal war, was andere darüber dachten. Wen es störte, dass er vor Tagesanbruch nackig baden ging, konnte ja auch wegschauen.

Er sog tief die salzige Luft ein und ließ seinen Blick über den Strand schweifen. Rechts von sich hörte er Lumpi bellen. Was die wohl wieder hatte, dass sie sich so aufregte? Martin hob die Hand über die Augen, da ihn die tief stehende Morgensonne blendete und er den Vierbeiner deshalb kaum sehen konnte. Lumpi befand sich etwa fünfzig Meter östlich von ihm, nahe der Brandungslinie, und machte ein Heidenspektakel. Irgendetwas Großes, das dort lag, schien ihr nicht zu passen. War da etwa ein kleiner Wal oder eine doch eher sehr große Robbe gestrandet? So jedenfalls würde Martin nicht in Ruhe baden gehen können. Lumpi hörte niemals einfach auf zu kläffen, nur weil er das so befahl. Die Hündin konnte sehr penetrant nerven, wenn sie nicht ihren Willen bekam. Da war sie ein wenig wie Martins bessere Hälfte Annemarie.

„Lumpi … hierher … bei Fuß“, rief er, obwohl er genau wusste, dass dies nichts bringen würde. Die Hündin wollte, dass er zu ihr kam und sich ansah, was da lag. Ein Verhalten, das man ja so auch aus den Lassie-Filmen und von Flipper kannte. Die hatten auch immer genervt, wenn sie ihrem Herrchen was sagen wollten. Es würde Martin nichts anderes übrig bleiben, als zu gehorchen. Eine verdrehte Welt war das, wo Menschen tun mussten, was ihre Hunde und Delfine wollten. Martin seufzte und setzte sich in Bewegung.

Beim Näherkommen erkannte er, dass der mutmaßliche Wal bekleidet war. Da Tiere bekanntlich keine blaugrünen Dirndl trugen, war ihm sofort klar, was oder wer da am Strand lag. Es war die Geburtstagsfrau von letzter Nacht. Die, die sie zur Geisterstunde noch hatten hochleben lassen.

Die Dirndlfrau schien zu schlafen. Sie lag auf dem Bauch, das Gesicht von Martin abgewandt.

„Lumpi … Schluss jetzt … hier bei Fuß!“, schimpfte er nochmals und wunderte sich, dass der brave Vierbeiner nun tatsächlich gehorchte und zu ihm kam.

„Ein feines Hundilein bist du … ja, ganz fein“, lobte er das Tier und tätschelte es. Die rundliche Frau mit dem Dirndl rührte sich nicht. Nun gut, er selbst hatte ja gesehen, was diese Dame in der letzten Nacht alles in sich hineingeschüttet hatte. So schnell, wie die trank, konnte der Köbes, wie man in seiner alten Heimat Köln den Kellner nannte, gar nicht nachschenken.

Martin würde sie am besten schlafen lassen. Er drehte sich um und wollte bereits wieder zu seinem Handtuch gehen, als ihm dann doch Bedenken kamen. Vermutlich ging es der Frau nach dem ganzen Alkohol nicht so gut. Klar sollte man Betrunkene erst einmal ausschlafen lassen. Doch in einer kalten Septembernacht an einem Nordseestrand konnte man sich ruckzuck etwas wegholen. Wer wusste schon, wie lange die bereits hier in der Kälte lag? Nein, er würde sie so nicht liegen lassen können. Er machte also noch einmal kehrt, ging zu ihr zurück und stupste sie sachte mit seinem Fuß an. Keine Regung.

Da musste er wohl rabiater werden.

„Hallo, Sie … Frau Erna … aufwachen“, glaubte er sich an ihren Vornamen zu erinnern und rüttelte sie an der Schulter. Nachnamen hatte Martin sich noch nie gut merken können. Vermutlich weil er fast jeden direkt beim Vornamen und mit „du“ ansprach.

„Hallo, Frau Erna. Du kannst hier doch nit einfach so liegen tun bleiben. Dat jeht ruckzuck und man tut sich bei der Kälte den Tod holen“, blieb er hartnäckig.

Noch immer regte sich nichts. Überhaupt fühlte die sich irgendwie komisch an. Ein übler Gedanke kam ihm. Er kniete sich hin, packte sie an Oberarm und Schulter und drehte sie mit aller Kraft auf den Rücken. Erna war steif und kalt wie ein Hähnchen aus der Gefrierkühltruhe im Supermarkt. Ihre Augen starrten ihn leblos an.

„Ja, verdamischt noch mal“, fluchte er und fühlte noch einmal vollkommen unnötig an ihrem Hals, an dem deutliche rote Striemen zu sehen waren. Wenn Martin hier eins und eins richtig zusammenzählte, dann gab es nur eine plausible Erklärung: Erna war erwürgt worden. Und das auch noch an ihrem Geburtstag. Was ja besonders schlimm war. Auf so einen Geburtstag, da freute man sich doch immer. Also er zumindest tat dies, weil ja dann alle Freunde zu Besuch kamen und es immer selbst gebackene lecker Torte von Frau Annemarie gab. Erna würde keine Torte mehr brauchen. Ein weiterer Gedanke kam ihm. Konnte es sein, dass er den Grund für den Mord an ihr bereits kannte? Er holte tief Luft, als wolle er im Meer untertauchen, nahm all seinen Mut zusammen und griff der Toten ins Dekolleté. Doch außer trockenem Sand, klammem Stoff und kalter Haut war da nichts zu ertasten. Das Rubbellos mit dem Gewinn war nicht mehr da, wo sie es gestern hingesteckt hatte.

 

„He Sie, was machen Sie denn da?“, kreischte plötzlich jemand dicht hinter ihm. Erschrocken zog Martin seine Hand zurück. Lumpi begann wieder zu kläffen.

Eine etwas fülligere Frau mittleren Alters in rosa­farbener Joggingkleidung stand keine drei Meter seitlich von ihm und gaffte entsetzt abwechselnd zwischen Lumpi, der toten Erna und Martin hin und her.

„Öhh ja … dat Frau Erna … ja … na … die ist wohl futsch“, stammelte Martin, erhob sich und machte einen Schritt auf die rosa Frau zu.

„Sie … Sie … haben Sie … Sie perverses Schwein Sie“, kreischte die jetzt auch noch.

Martin stutzte. Die Schrulle schien hier irgendetwas vollkommen falsch zu interpretieren.

„Ich? Nä … ich war dat nit. Die war schon so“, verteidigte er sich und merkte nun erst an dem angewiderten Blick des rosaroten Elefanten, der förmlich an ihm klebte, dass er selbst ja splitterfasernackt war.

„Sie Wüstling … Sie Perverser. Bleiben Sie, wo Sie sind“, schrie sie ihn weiter an.

„Aber jute Frau. Et is doch alles janz anders. Beruhigen Sie sich doch mal“, versuchte er die Lage zu deeskalieren und machte einen weiteren Schritt auf sie zu. In ihrem Gesicht stand pure Panik. Lumpi führte sich immer noch auf wie ein Berserker. Plötzlich zog die Rosafarbene ein Ding aus der Tasche ihrer Joggingjacke und machte einen Satz nach vorne. Als Martin begriff, was gerade abging, war es bereits zu spät. Der Stromschlag aus dem Elektroschocker auf seiner Brust war so heftig, dass ihm der Atem und vermutlich auch das Herz kurz stockten. Wie ein nasser Sack fiel er zu Boden. Lichtblitze zuckten vor seinen Augen, dann wurde es dunkel um ihn herum.