Wedding 65, dritter Hinterhof

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Wedding 65, dritter Hinterhof
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Mesut L.

Wedding 65, dritter Hinterhof


Originalausgabe

© 2021 Hirnkost KG, Lahnstraße 25, 12055 Berlin;

prverlag@hirnkost.de; www.jugendkulturen-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage Juli 2021

Vertrieb für den Buchhandel:

Runge Verlagsauslieferung; msr@rungeva.de

Privatkunden und Mailorder:

https://shop.hirnkost.de/

Layout: Manuel Süess, Zürich / www.msueess.com

Fotos: Maximilian Gödecke / www.max-goedecke.de

Lektorat: Klaus Farin, Gabriele Vogel

ISBN:

PRINT: 978-3-948675-90-5

PDF: 978-3-948675-92-9

EPUB: 978-3-948675-91-2

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Der Autor

Mesut L., geboren 1978 in Berlin-Wedding. Zweitjüngstes von vier Kindern einer alleinerziehenden türkischen Gastarbeiterin. Breakdancer der ersten Stunde. Überlebender diverser Schicksalsschläge.

Inhalt

Wedding 65, dritter Hinterhof

Nachdem meine Eltern verstorben waren,

fahre ich nach Yozgat. Ich will einen Rückbezug zur Familie, den Anfang des Fadens finden. Meine ältesten Tanten leben noch; eine ist 86, die andere sogar schon 90 Jahre alt, und sie können sich noch gut an die Ereignisse aus ihrer Kindheit erinnern. Ich gehe in die Archive und finde tatsächlich Einträge über unsere Ländereien: Hab und Gut, alles ist aufgeführt. Mit meinen Papieren in der Hand will ich wissen, was damit passiert ist. Was mich besonders erstaunt: Der Führungsrat, den sie damals gewählt hatten, weil er das Alphabet und somit den Stift beherrschte, ist heute Multimillionär! Lebensmittelfabriken, Kuhweiden, Kornfelder … Auf seinem Fabrikgelände zähle ich allein 20 riesige LKW. Hier wird der in der ganzen Türkei berühmte Käse und Joghurt namens mandıracı hergestellt, benannt nach mandıra, der schönsten Milchkuh. Vor dem Dorfcafé treffe ich seinen Urenkel – mit schönem Hemd und schönem Audi.

»Hallo, grüß dich, mein Partner«, begrüße ich ihn.

Im selben Moment spüre ich den Schweiß an seinen Händen. Alle zehn Finger schweißnass!

»Wie kommst du darauf?«, fragt er. »Wie kannst du mich Partner nennen?«

Ich antworte, unsere Partnerschaft käme nicht von uns beiden, sondern schon von unseren Großvätern.

»Wenn dein Großvater noch lebte, würde ich gern mal seine Hand küssen.«

Das ist unsere traditionelle Art, den Älteren Respekt zu zollen, weil sie länger auf der Welt sind und mehr gebetet haben. Dem konnte er nicht widersprechen. Wir gehen alle zusammen – ich mit drei, vier Cousins, die mich begleiten, und er mit seinem Vater und einigen anderen seiner Leute – in das sehr alte, aber schöne und saubere Dorfhaus. Nach der Begrüßungszeremonie – Salam Aleikum, Friede sei mit euch, hayırlısı, wir kommen in guter Absicht – stelle ich mich vor. Nachdem der ältere Herr gehört hat, wer der Besuch ist, sagt er nur: »Es ist Gebetszeit«, steht auf und verlässt den Raum. Nicht mal ein Glas Wasser hat er uns angeboten. Ich will niemanden schlechtreden, aber in unserer Tradition bietet man einem Besucher das Beste an, was man hat, und wenn es das letzte Stück Brot ist. Okay, sagen wir uns, es ist wohl besser, wenn wir gehen. Die Leute werden unruhig, die Situation fühlt sich komisch an. Ich schaue mich um, vielleicht 50 Personen stehen um uns herum. Wir steigen ins Auto, fahren los, und nach 50 Kilometern werden wir vom Militär angehalten. Von A bis Z wird alles durchsucht. Sie finden nichts, machen uns aber eine Spezialansage, sofort auf direktem Weg wieder nach Istanbul zu fahren.

Auf der Strecke vor uns fährt ein Reisebus, der kleine Steinchen aufwirbelt, die gegen meine Frontscheibe fliegen. Ich vergrößere den Abstand. Hinter mir fährt ein Kleintransporter, der das wohl komisch findet, nach links ausschwenkt, um mich und gleich auch noch den Reisebus zu überholen, und dann wieder nach rechts einschwenkt. Dabei gerät er mit bestimmt 150 Stundenkilometern in eine Riesenpfütze, kracht Wam! gegen irgendetwas, überschlägt sich zwei Mal und bleibt auf der Fahrbahn liegen. Der Reisebus kann gerade noch ausweichen, ich auch. Ich will stehenbleiben, aber die anderen Fahrer meinen, ich solle weiterfahren, um bei fließendem Verkehr nicht gleich einen zweiten Unfall zu verursachen. Im Rückspiegel sehe ich, dass tatsächlich andere Autos langsamer werden, anhalten und sich kümmern. Ich denke, vielleicht ist dieser für uns glückliche Ausgang die Folge einer guten Tat von uns, vielleicht auch die eines Gebets eines Älteren, vielleicht hat uns eine höhere Macht beschützt. Die Unglückswolke war schon über uns – wir hätten verunglücken oder im Dorf gelyncht werden können –, aber Gott sei Dank sind wir davongekommen.

Mein Name ist Mesut L. und ich bin ein geborener Kurd’ – einfach Kurd’, ohne Helm und ohne Gurt. Soweit ich selbst recherchieren konnte, beginnt meine Familiengeschichte im Osmanischen Reich. Meine Familie stammt ursprünglich aus Yozgat, einem Ort in der Mitte der heutigen Türkei zwischen Ankara und Sivas. Der Erzählung nach waren meine Urgroßväter als Generäle im Balkanbereich eingesetzt, wo sie sich in einem Dorf namens Ravsa nahe der türkischen Grenze ansiedelten. Trotz der massiven staatlichen Unterdrückung ging es ihnen recht gut; sie waren Großbauern mit Hunderten Kühen, Schafen, ein Riesenbauernhof halt. Eines Tages kamen Einsatzkräfte des Militärs und drohten, dass sie sie töten und alles niederbrennen würden, wenn sie nicht innerhalb von drei Stunden das Land verlassen würden. In derselben Straße gab es noch 35 andere Familien, die ebenso betroffen waren. Als die Soldaten kamen, warf ein Mann einen Stein auf einen der Kommandeure, woraufhin die Lage im Dorf eskalierte. Die Leute waren verzweifelt. Was können wir tun? Wir haben versucht, uns zu verteidigen, aber nun ist schon Blut geflossen. Von den 35 Familien packten 28 ihre Sachen und sagten, wir gehen zur Mutter, in unser Vaterland. Aber wo ist unser Mutterland, unser Vaterland?

Als diese 28 Familien an die Grenze des Vaterlandes kamen, wurden sie gefragt: Was hast du bisher gemacht? Der eine antwortete: Ich bin Schreiner. Der Grenzbeamte sagte: Okay, ab jetzt ist dein Name Schreiner. Ein anderer sagte: Ich bin Maurer. – Okay, dann heißt du ab jetzt Kemal Maurer. Mein Großvater sagte: Ich war Bauer, Großbauer, und daraufhin gab ihm die türkische Regierung den passenden Nachnamen. Aus welchen Gründen auch immer, allen wurden neue Nachnamen zugewiesen.1 Nicht nur das, sie waren auf einmal auch Analphabeten. Sie kannten nur die arabische Schrift, aber Atatürk hatte inzwischen das lateinische Alphabet eingeführt.

So wie meinen Vorfahren erging es vielen Türken nach dem Ersten Weltkrieg – nicht nur auf dem Balkan, auch in Griechenland und Zypern. Als die türkische Regierung das ganze Ausmaß des Übels mitbekam, öffnete sie die Grenzen für die osmanischen Nachfahren aus diesen Ländern; es gab aber auch große Migrantenströme innerhalb der Türkei. Das Land war gerade dabei, aus dem Kriegszustand herauszukommen und sich zu erneuern. Es war beileibe kein sicheres Land; es war wie im Wilden Westen: Es galt das Faustrecht, die Waffen und das Geld regierten.


Nachdem sie die Grenze passiert und neue Namen bekommen hatten, wurden meine Vorfahren in einen der berühmten Schwarzen Züge gesteckt. Was hat es mit dem sogenannten Schwarzen Zug, dem Kara Tren, auf sich? Viele Lieder handeln vom Schwarzen Zug.

Meine Augen sind auf dem Weg,

mein liebendes Herz ist verengt.

Komme entweder du selbst,

oder schicke mir wenigstens

eine Nachricht.

Ich hörte, angeblich hast du einen Brief

geschrieben und ihn vergessen.

Der Schwarze Zug verspätet sich,

kommt vielleicht nie wieder

Bleibt hängen auf den Bergen

und weiß nichts von meinen Schmerzen.

Dein Dampf verweht

und sieht nicht meine Situation.

Ein Verhängnis füllt mein Herz

und meine Tränen werden nicht weniger.

Der Schwarze Zug war immer mit dabei, wenn sich Leute auf die Reise machten, die aus den verschiedensten Gründen ihre Heimat verlassen mussten. Und er war komplett schwarz – von der Lokomotive bis zum letzten Wagen. Mit der Zeit wurde er ein Symbol der Trennung. Einer meiner Onkels wurde in so einem Zug geboren. Bis heute hat er ein Freiticket, kann lebenslänglich umsonst in der Türkei mit dem Zug fahren. Auch bei meiner Großmutter war ein Baby unterwegs, das es aber leider nicht geschafft hat. Es ist verstorben. Meine Zunge mag das alles zwar jetzt so schnell erzählen, aber das Elend und das Leid wurden mir schon in die Wiege gelegt.

 

Meine Vorfahren landeten in einem Dorf namens Yerköy, das zu der Stadt Yozgat gehörte. Soweit du schaust nur Stock und Stein. Jede Familie bekam ein Stück Land zum Bebauen und ein Haus zum Bewohnen. Einige der Häuser stehen immer noch. Die Wände waren aus Kuhdung und Stroh. Billig und luftdurchlässig. Meine Großeltern hatten insgesamt zehn Kinder, zwei sind früh verstorben, von den anderen leben einige heute noch. In dem Chaos der großen Umstrukturierung versuchten meine Vorfahren, sich eine neue Existenz aufzubauen, sich an das neue Leben anzupassen. Vorher in großem Reichtum, lebten sie jetzt in einer Baracke ohne Strom, ohne fließendes Wasser; sie hatten nichts. Der Alltag war sehr schwer. Den ganzen Tag Mühen, um gerade genug zum Essen zu erwirtschaften. Hinzu kamen Probleme zwischenmenschlicher Art. Von den Einheimischen wurden sie als Feinde betrachtet; die hatten wohl das Gefühl, ihnen würde etwas weggenommen werden. Die türkische Regierung versprach den Eingewanderten, den sogenannten osmanischen Türken: Wer ein Haus will, soll ein Haus bekommen, wer Land zum Bewirtschaften will, soll Land bekommen. Teilweise war es nichts als Propaganda, teilweise geschah es auch wirklich.

Jeder Familie versprach die Regierung circa 10.000 Quadratmeter Land pro Kind. Mit allen Angehörigen kam meine Familie so auf 286.000 Quadratmeter, also fast 30 Hektar.

Der muhtar, der Bürgermeister, ging mit einem Regierungsbeamten von Tür zu Tür, um die Menschen über das Förderprogramm der Regierung zu informieren. Als er an die Tür meiner Vorfahren klopfte, ließ meine Großmutter durch die Kinder fragen, wer dort sei. Zwischen Tür und Angel versuchten sie ihr zu erklären, dass die Familie nun ein Grundstück bekäme, um darauf etwas aufzubauen. Meine Großmutter, die leider nur wenig Bildung hatte, nahm ihnen das nicht ab. Sie dachte, jetzt käme wieder irgendein Ärger, und scheuchte sie weg. Sie war so verängstigt und eingeengt in ihrem Denken, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass ihr nach all dem Elend bisher nun jemand plötzlich etwas Gutes tun wollte.

Nach zwei, drei weiteren Besuchen und nachdem mein Großvater davon Wind bekommen hatte, wurde ihnen tatsächlich Land übereignet. Gleichzeitig wurde damit aber auch die Saat gesät für eine fitne, für Unfrieden. Die alteingesessenen Dorfbewohner waren schockiert, dass die Zugezogenen so viel Land geschenkt bekamen. Es herrschte damals sehr große Armut. Essen und Trinken waren knapp, für ein Schaf war man bereit, einen Hektar Land zu geben, fünf Hektar für zehn Liter Olivenöl.

Trotz aller Kraftanstrengung gelang es meinen Vorfahren nicht, das Land ertragreich zu bewirtschaften. Die Kinder wuchsen heran, die ältesten Töchter wurden 13, 14. Eines Tages gingen sie ins Dorf, um an der dortigen Quelle Wäsche zu waschen. Eine Gruppe von drei, vier Männern machte sie an, wollte sie begrapschen. Erschrocken flüchteten die Mädchen zurück nach Hause. Es gab Gerüchte im Dorf, wonach unser Führungsrat große Goldstücke in seiner Wohnung versteckt hätte. Dorfbewohner brachen in die Häuser der zugezogenen Familien ein. Durch Terror sollte ihnen Angst gemacht werden. Es gab sogar eine Schießerei, bei der jemand am Bein verletzt wurde. Als abzusehen war, dass der Ärger hier wohl nie aufhören würde, entschieden sich die Familien, ihre Häuser und Grundstücke zu verlassen und nach Istanbul zu ziehen, bevor die Kinder ins Heiratsalter kommen und vielleicht noch größeres Unheil geschehen würde.

Wieder stiegen sie in den berühmten Schwarzen Zug – der wird uns bis Europa begleiten.

Meine Vorfahren landeten in einem kleinen Ort namens Adapazarı, circa 100 Kilometer von Istanbul entfernt. Mein Großvater verdiente dort den Unterhalt für die Familie mit Tragediensten. Säcke voller Kartoffeln, Tomaten und so weiter – so viel nur irgend ging, lud er sich auf den Rücken. Leider Gottes verletzte er sich durch die schweren Gewichte und wurde schwer krank. Autos gab es damals in dieser Gegend noch nicht; wer eine Pferdekutsche hatte, konnte sich schon glücklich schätzen. Meine Großmutter ging zu den Reichen Wäsche waschen. Die Kinder blieben währenddessen sich selbst überlassen, die älteren passten auf die jüngeren auf.

Trotz dieser schwierigen Verhältnisse schafften es meine Vorfahren, wieder neu anzufangen. Sie pachteten ein Stück Land, und einer meiner Onkels ging zur Schule und lernte Lesen und Schreiben. Meine Mutter – sie hieß Safiye – war immer auf dem Feld. In den Pausen bat sie ihren Bruder, der etwas älter war als sie, ihr das Alphabet beizubringen. Mit einem Stock kratzten sie die Buchstaben in den Boden. Sie lernte das Alphabet quasi auf der Erde beim Kartoffelgraben.

Mein Großvater verstarb nach einiger Zeit, er wurde nur 37 Jahre alt. Leider habe ich ihn nie kennengelernt. Nach seinem Tod wusste keiner so richtig, was jetzt mit den Grundstücken passieren sollte. Sie hatten Land ohne Ende, aber wie sollte es meine Großmutter mit acht Kindern bewirtschaften? Die älteste Tochter wurde verheiratet; zu dieser Zeit heiratete man schon im Alter von 16 oder sogar 15 Jahren. Kurz nach ihrer Hochzeit wurde sie schwanger.

Zu dieser Zeit startete Deutschland eine Riesenkampagne nach dem Motto: »Liebe türkische Mitbürger, wir brauchen eure Unterstützung für unsere Industrie«. Ihre Brüder hatten nicht den Mut, aber meine Mutter sprach wie ein Mann: Ich gehe auf diese Reise. Ich will die Familie unterstützen und fange in Deutschland als Gastarbeiterin an. Meine Großmutter hatte Bedenken: Safiye, meine Tochter, du bist doch erst 14 Jahre alt. Was denkst du, wer du bist? Aber letztlich stimmte sie zu. Sie vertraute meiner Mutter; sie war wie eine Soldatin, hatte trotz ihres jungen Alters schon viel erlebt. Bei den Behörden machten sie sie etwas älter, damit sie überhaupt eine Chance hatte, als Gastarbeiterin genommen zu werden. Bei der Untersuchung beschaute man ihr Gebiss, guckte ihr in die Augen – ein kerngesunder jugendlicher Mensch. Sie bekam ein Okay. Zum Abschied wurde ein Hahn geschlachtet, ein Festmahl wurde veranstaltet, die Familie gab ihr noch ein bisschen Wegegeld, und dann stieg meine Mutter in den Schwarzen Zug nach Deutschland.

Zu dieser Zeit, 1972, wurden die Gastarbeiter quasi mit roten Teppichen empfangen. Die Deutschen freuten sich, fanden sie superinteressant, bewunderten sie wegen ihrer dunklen Augen und schwarzen Haare – genauso wie umgekehrt die Südländer die Nordländer wegen ihrer goldenen Haare und hellen Augen bewunderten.

Das erste Zuhause meiner Mutter war eine Wohngemeinschaft im Aufnahmeheim für Gastarbeiter in der Drontheimer Straße in Berlin-Wedding. Dort fand sie bald deutsche Freundinnen, die wir später dann auch kennenlernten und zu denen wir »Tante« sagten. Es war für meine Mutter eine schöne Zeit, ein Miteinander, bis ihr dann eine eigene Wohnung zugewiesen wurde: Soldiner Straße 70, Parterre, dritter Hinterhof.

Arbeit fand sie bei Siemens-Bosch in der Gartenfelder Straße in Spandau. Ihr Meister, Herr Meier, empfing sie freundlich und wies sie in ihre Arbeit ein. Sie arbeitete fleißig in der Kabelmontage, von Beginn an bis zum Schluss im Akkord. Deutsch konnte sie anfangs noch nicht, und sie brauchte es für die Arbeit auch nicht. Einige ihrer Kollegen waren Gastarbeiter aus Jugoslawien und sie eignete sich deren Sprache an. Später lernte sie arabische Mitbürger kennen, unter ihnen auch Flüchtlinge aus dem Libanon, und eignete sich von ihnen auch etwas Arabisch an. Damals gab es noch keine Handys, ein Telefon war schon äußerster Luxus. Den Kontakt zu ihrer Familie hielt meine Mutter brieflich.

Eines Tages kam ein Telegramm: Deine Mutter ist verstorben. Komm sofort in die Türkei. Ihre Hände zitterten, sie fiel auf die Knie, erzählte es stotternd Herrn Meier:

»Bitte, ich muss …«

Er beruhigte sie: Kein Problem, sie sei immer so fleißig gewesen und solle sich nicht aufregen. Meine Mutter flog in die Türkei, und in Adapazarı angekommen, traf sie auf einen Nachbarn. Der wirkte so fröhlich, als wenn nichts geschehen wäre.

»Hast du nicht gehört, dass meine Mutter gestorben ist?«, fragte sie ihn. »Was kannst du mir davon berichten?«

Er antwortete:

»Ja, wer das erlebt, kann davon berichten. Entschuldigung, von wem hast du das gehört? Deine Mutter habe ich gerade gesehen, mit zwei Gänsen auf dem Rücken ist sie an mir vorbeigelaufen.«

Meine Mutter wollte es noch nicht glauben. Als sie zu ihrem Elternhaus kam – ich habe es gesehen: eine kleine Baracke, Wasser und WC auf dem Hof –, machte ihre Mutter die Tür auf. Sie fielen sich in die Arme, weinten, und meine Mutter wusste immer noch nicht, was eigentlich passiert ist.

»Wir müssen reden«, sagte meine Großmutter. »Wir mussten es so hart machen, weil wir wissen, was für ein starker Mensch du bist. Für niemanden außer deiner Mutter würdest du deine Arbeit und deine Verantwortung liegen lassen.«

Die Geschichte dahinter war folgende: Meine Tante hatte einen Mann geheiratet, dessen Bruder gerade vom Militär zurückgekommen war und eine Frau suchte. Sie meinten, meine Mutter Safiye könnte eine Superfrau für ihn sein. Die hatten schon alles beschlossen. Meine Mutter rastete aus, machte richtig Ärger bei ihrer Schwester, sie wollte das nicht akzeptieren. Die anderen sagten, sie solle sich erst mal beruhigen, sei doch gerade erst angekommen, und wechselten das Thema. Nach ein, zwei Tagen kam der Schwager, der der Mann meiner Mutter werden sollte. Sie saßen und machten Small Talk, alles in Anwesenheit der Familie. Kein Spaziergang zu zweit, kein Kino, nicht mal kurz einen Kaffee oder Tee trinken. Mein späterer Vater Yaşar – das heißt: Er wird leben – fand meine Mutter ganz gut, und meine Mutter fügte sich nach dem Motto: »Wenn die Älteren das für gut halten, sag ich auch okay«. Man sagt ja, tatli yiyip tatli konuşalim, lasst uns Süßes essen, damit wir süß miteinander sprechen. Damals wurden die Ehen so eingegangen. Bevor eine Hand die andere berührt. Was die Eltern beschließen, ist Gebot. Sie wissen schon, was gut für dich ist.


Die Hochzeit wurde in kleinem Rahmen gefeiert, nicht in einem großen Festsaal, und für die Musik reichten eine Flöte und ein davul, eine Trommel. Die traditionellen symbolischen Handlungen wurden vollzogen. Als Symbol für ihre Jungfräulichkeit wurde meine Mutter von ihrem Bruder in einen roten Schleier gehüllt. Und nach der Hochzeitsnacht wurde der Schwiegermutter das Bettlaken gezeigt. Gott sei Dank war von dieser Seite her alles in Ordnung, die sogenannte Ehre war nicht in Gefahr. Sie waren sehr stolz auf meine Mutter: Obwohl sie weit weg in Europa arbeitete, ging sie unbefleckt in die Ehe.

Weil zwei Schwestern aus der Familie meiner Mutter zwei Brüder aus der Familie meines Vaters heirateten, entstand eine Art Clan. In der Türkei wurden Ehen früh geschlossen. Cousins von mir waren schon mit 37 Jahren Großväter.

Bereits in der Hochzeitsnacht wurde meine Mutter schwanger. Mein Vater zog mit ihr nach Deutschland, Berlin-Wedding, Soldiner Straße 70, dritter Hinterhof, Parterre. Hier wurde 1972 meine Schwester Meryem geboren, 1975 folgte mein älterer Bruder Kaan, 1978 kam ich zur Welt und 1981 mein jüngerer Bruder Süleyman. Meine Mutter arbeitete weiter bei Siemens-Bosch, aber mein Vater hatte es nicht so leicht, sich mit der Gesellschaft hier anzufreunden. Es gab damals nicht mal türkische Cafés oder Räume, wo sich die Männer treffen konnten. Den türkischen Gastarbeitern war kein Gewerbe erlaubt. Sie durften nur als Arbeiter oder Angestellte, aber nicht als Selbstständige arbeiten. Erst nachdem viele den Gastarbeiterstatus ablegten und eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erhielten – die Voraussetzung für die Anmeldung eines selbstständigen Gewerbes –, änderte sich das. Anfang der 80er-Jahre öffneten in den Straßen die ersten türkischen Läden.

Aber mein Vater kam nicht klar. Mit sich selbst, mit dem, was er im Militär erlebt hatte, mit der Gesellschaft, in die er geraten war. Der Sprache war er nicht mächtig, Integrationskurse oder Ähnliches gab es noch nicht. Zu Hause gab es Probleme. Dem Erzählen nach sei mein Vater hyperaggressiv und Gewalt an der Tagesordnung gewesen. Er hatte auch einen Aufenthalt in der Bonhoeffer-Nervenklinik. Die einen führen seine Probleme auf eine Kopfverletzung nach einem schweren Autounfall zurück, die anderen auf seinen Umgang mit den falschen Leuten, wieder andere auf Drogen. Ich weiß es nicht. Nach einer Auseinandersetzung mit der Polizei, wobei er einige Beamte schwer verletzt haben soll, wurde mein Vater 1981 knallhart und direkt abgeschoben. Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt mit meinem jüngeren Bruder schwanger. Allein mit vier Kindern. Akkordarbeit. Soldiner Straße, dritter Hinterhof, Parterre. Prekäre Verhältnisse.

 

Das Geld, das meine Mutter verdient, fließt in Essen, Miete und Unterstützung für meinen kranken Vater und die Verwandten in der Türkei. Oft reicht es nicht mal für Strom. Wenn ich abends merke, oh, es geht gar kein Licht an, lassen sich meine älteren Geschwister etwas einfallen.

»Komm, wir spielen Feuerwehr«, animieren sie mich.

Und wie spielt man Feuerwehr? Mit Taschenlampen und Kerzen. Dabei passen wir sehr auf, dass nichts anbrennt, denn ein bisschen Angst vor Feuer haben wir Kinder doch. Nach einigen Tagen bekam ich natürlich mit, dass da irgendwas nicht stimmte.

Über uns wohnen Punkerinnen, wir nennen sie hippi kizlar, Hippiemädchen. Eine alltägliche Situation: Meine Mutter schickt mich mit einem Verlängerungskabel nach oben zu den Hippiemädchen, damit diese es von ihrem Fenster zu unserem herunterlassen. Uns war der Strom abgestellt worden, und so können wir unseren kleinen Kühlschrank und die Kochplatte weiterbetreiben.

Meine Mutter läuft mit uns täglich zu einer Telefonzelle, wo wir, nachdem sie die Münzen reingesteckt hat, manchmal noch stundenlang warten müssen, bis die Verbindung zustande kommt.

Um halb vier Uhr morgens muss meine Mutter das Haus verlassen, da ist es noch stockdunkel. Uns Kinder lässt sie bei Nachbarn, mich zum Beispiel bei einer ungarischen Familie. Kindergärten waren noch nicht verbreitet, man war auf Nachbarschaftshilfe angewiesen.

Wir haben einen Fernseher, aber keine Antenne. Mein Bruder probiert es mit einer Gabel als Antenne – und es klappt! Auf einmal haben wir Empfang, und zwar DDR-Fernsehen, Erstes und Zweites Programm. Mein erster Bezug zur Deutschen Demokratischen Republik: Wow! Sandmännchen! »Kinder, liebe Kinder …«, und wenn er seinen Sand verstreut, werden wir alle müde. Auch wenn wir unsere Augen zukneifen, es klappt immer. Wir haben das Sandmännchen mit seinem Bart als sehr liebevoll empfunden. Auch die anderen Kindersendungen wie Brummkreisel, Professor Flimmrich, Meister Nadelöhr, Pittiplatsch und Schnatterinchen und die Märchenfilme schauen wir sehr gern. Westkanäle können wir mit unserer Gabelantenne nicht empfangen.

In unserer Nähe, in der Freienwalder Straße, hat eine Kindertagesstätte aufgemacht, und ich soll mit meinem kleinen Bruder dort hingehen. Ich nehme ihn an der Hand, und als wir dort ankommen, sagt die Dame:

»Es tut mir leid, ich kann euch nicht annehmen, ich muss euch wieder nach Hause schicken. Euer Beitrag wurde nicht bezahlt. Eure Mutter soll kommen, damit wir das klären können.«

Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, ich bin auf der Straße. Auf der Straße mit einem kleinen Jungen. Ich habe noch nicht mal einen Wohnungsschlüssel. Ich nehme meinen Bruder und sage:

»Komm, ist nicht schlimm, dann gehen wir wieder nach Hause.«

Der verstand sowieso nichts. Für mich war das auch schwer verständlich. So richtig verstanden, was da eigentlich vor sich ging, habe ich erst mit 20, 25 Jahren.

Wir ließen das Küchenfenster immer etwas offen, sodass wir zur Not mit einem kleinen Trick auf diesem Weg in die Wohnung konnten. Ich klettere rein und hole die Glasschüssel, in der wir immer die Pfennige sammeln. Raus gehe ich durch die Wohnungstür, die wir nie abschließen. Und dann gehe ich mit meinem Bruder erst mal zum Bäcker, wo wir uns ein paar schöne Brötchen holen. Und Schaumküsse, die damals noch anders hießen. Wir setzen uns irgendwo auf die Straße, essen und trinken und sind glücklich.

Ich erkannte, ich muss Verantwortung übernehmen. Ich muss versuchen, meine Familie zu unterstützen. Mit drei, vier anderen türkischen und arabischen Kindern vom Spielplatz überlege ich, was wir machen könnten. In der Gustav-Meyer-Allee war ein Riesenflohmarkt. Dort könnten wir ja etwas verkaufen. Aber was? Wir haben ja keine Ware. Zwei Kinder sagen, sie würden sich mal in den Kellern umschauen. Sie hätten herausgefunden, dass der Öffner, der allen Fisch- und Fleischkonserven von Aldi beilag, sich auch prima als Dietrich eignet. Alle Schlösser könne man damit aufmachen, außer die der Firma Abus. Es funktionierte tatsächlich.

Mir ist noch nicht bewusst, dass das Klauen ist, aber intuitiv versuche ich, für mich selber einen anderen Weg zu finden. Ich frage bei Aldi:

»Kann ich nicht eure Autos zusammensammeln?«

Ich meinte die Einkaufswagen. Die finden das süß, dass so ein kleines Kind nach Arbeit fragt.

»Wir können dich nicht bezahlen«, sagen sie, »aber wir können dir einen Gutschein geben, wenn du die ›Autos‹ zusammenschiebst.«

In unserer Straße gab es einen netten Herrn Lamprecht, der hatte ein Sportgeschäft. Ihn frage ich, ob ich nicht vor seinem Eingang die Straße fegen könne. Ich mache das ein paarmal, der Mann findet das gut und gibt mir eine Mark. Das war schon Geld. Dafür konnte man zum Beispiel fünf Brötchen kaufen oder Scheibenbrot bei Aldi. Später durfte ich seinen Laden auch drinnen reinigen.

In der Drontheimer Straße war die Teppichdomäne. Die schmissen alles gleich weg, was auch nur ein bisschen beschädigt war. Das fand man dann in großen blauen Containern auf dem Hof. Zum Beispiel eine nagelneue Toilette, nur weil eine Kante abgerissen war. Oder eine ganze Packung Fliesen, nur weil zwei Fliesen kaputt waren.

1984 wurde ich in eine der sogenannten Ausländerregelklassen der Karl-Krämer-Grundschule eingeschult. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich eine Schultüte hatte. Unsere Klasse bestand aus 28 Schülern, alle wie ich auf der Straße aufgewachsen, die meisten aus türkischen und arabischen Gruppierungen, zwei aus Bosnien. Kein Elternteil sprach deutsch. 95 Prozent der Schüler waren Türken und Araber, was anderes gab es kaum. Die Lehrer kamen aus anderen Stadtbezirken, versuchten ihr Bestes, verstanden aber die Kultur nicht wirklich und waren oft ohnmächtig.

Für die neu aufgenommenen Kinder war in der Aula eine Theateraufführung angesetzt. Auf einmal wirft ein Junge, ich kann mich sogar noch an seinen Namen erinnern, ein Ei. Es zerplatzt direkt auf dem Kopf von einem der Darsteller. Die Kinder rasten aus, finden das richtig lustig. Die Lehrer aber nicht. Sie versuchen, die Situation zu beruhigen. Einer der Lehrer kann den Eiwerfer identifizieren und nimmt ihn am Ohr. Die Bräuche an dieser Schule waren ein bisschen gröber. Daraufhin eskaliert die Situation. Stühle fliegen. Und alles von Kindern! Dann wird die Polizei gerufen. Die ganze Schule wird abgesperrt, die Verantwortlichen werden dabehalten und müssen zur Polizei. Nur zur Abschreckung, denn es sind ja noch Grundschüler.

Die Lehrer sagen, du brauchst eine Federtasche, du brauchst einen Taschenrechner, du brauchst ein Geodreieck. Unter unseren prekären Verhältnissen ist aber meine Sorge eher, wie ich einen Beitrag zur Miete oder zur Stromrechnung erbringen kann. Meine Mutter ist nach wie vor in Akkordarbeit, alleinerziehend mit vier Kindern, getrennt von ihrem Mann, aber noch mit Verantwortung für ihn und die Verwandtschaft in der Türkei. Ein anderer Mann kommt auch nicht infrage, weil sie nicht geschieden ist. Wovon soll ich mir unter diesen Umständen nun noch eine Federtasche kaufen? Ich sage mir: So wird das nichts. Du musst dir nehmen, was dir zusteht. Eine andere Möglichkeit hast du nicht. Wenn ich auf meine Kindheit zurückblicke, kommt mir ein Lied in den Sinn: »Hani Benim Gençliğim«, »Mama, mein Drachen ist hängen geblieben.«

Wo ist meine Freude?

Meine Spielzeuge?

Mein Kreisel?

Mein Hemd, das am Kirschbaum zerrissen wurde

Die haben meine Jugend ohne mein Wissen geklaut

Ich bin fensterlos geblieben, Mama

Mein Drachen ist hängen geblieben

Wo ist meine Jugend hin, Mama?

Alles, was es gibt, das den Rachen verbrennt

wie Brot,

wie Liebe,

ah … Alles, was der Schönheit gehört,

hab ich geteilt,

bin gewachsen

Was ist es für eine Qual, Mama?

Ich sitze am Tisch voller Wölfe

Wo ist meine Jugend hin, Mama?

Wo ist meine Freude?

Mein Aquarium?

Mein Kanarienvogel?

Mein geliebter Kaktus?

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