Schweizerspiegel

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Schweizerspiegel
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Meinrad Inglin (1893–1971) aus Schwyz zählt zu den bedeutendsten Schweizer Schriftstellern. Nach Abbruch einer Uhrmacher- und Kellnerausbildung sowie des Gymnasiums, studiert er Literaturgeschichte und Psychologie in Genf und Neuenburg. Arbeit als Zeitungsredaktor und ab 1923 als freier Schriftsteller. Er schreibt vor allem Romane und Erzählungen, auch einzelne Aufsätze und eine Komödie. Für sein Werk erhält Inglin 1948 den Grossen Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung und gleichzeitig den Ehrendoktortitel der Universität Zürich. Es folgen der Innerschweizer Kulturpreis (1953), der Gottfried-Keller-Preis (1965) und der Wolfgang-Amadeus-Mozart-Preis der Goethe-Stiftung Basel (1967).

MEINRAD INGLIN

Gesammelte Werke in zehn Bänden • Herausgegeben von Georg Schoeck Neuausgabe • Band 5

MEINRAD

INGLIN

Schweizerspiegel

Roman

Nachwort von Beatrice von Matt

Limmat Verlag

Zürich

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www.limmatverlag.ch

Umschlagbild: Meinrad Inglin 1935, zur Zeit der Arbeit am Schweizerspiegel

© 2014 by Limmat Verlag, Zurich

eISBN 978-3-85791-995-4

Im September 1912 kam der deutsche Kaiser in die Schweiz, um sich die Manöver des dritten Armeekorps anzusehen, für ihn ein unverfängliches Vorhaben, wie es schien, für die bescheidene Republik aber, die er in den zwei Jahrzehnten seiner Regierung einer solchen Beachtung nie gewürdigt hatte, eine Sensation.

An einem regnerischen, herbstlich kühlen Tage traf der hohe Gast mit ansehnlichem Gefolge in Zürich ein und stieg in einem Hause ab, dessen Vergangenheit seinem kaiserlichen Wesen angemessen erscheinen mochte, in der ehemaligen Villa Wesendonck. Die feierlich erregten Willkommensartikel der bürgerlichen Presse, die Begrüßung am Bahnhof durch die obersten Landesbehörden, die Ehrenkompagnie, die Fahrt durch die beflaggten Straßen und der Jubel des Volkes bewirkten einen Empfang, wie er auch einer reichsdeutschen Stadt nicht besser hätte gelingen können. Das militärische Schauspiel war vorbereitet, mit aller Sachlichkeit übrigens, die Manöver wurden reif zur Besichtigung. Die 5. Division bewegte sich als Flügeldivision einer supponierten blauen Armee vom Zürichsee her gefechtsmäßig gegen Nordosten und stieß an diesem Tage mit ihren Spitzen auf die 6. Division, die als Flügeldivision einer ebenfalls supponierten, vom Bodensee her anmarschierten roten Armee schon über das Thurknie bei Wil vorgedrungen war. Nur das Wetter ließ zu wünschen übrig. Die Nebelschwaden, die nach mehreren Regentagen auch jetzt wieder über die Stadt hinzogen, und der Gedanke an das schmutzige, nasse Manövergelände, das der Kaiser morgen besuchen sollte, ärgerten jedermann. Aber auch das Wetter zeigte sich noch gefügig, in der Nacht hellte es wider alle Erwartungen auf, und am nächsten Morgen blaute über dem ganzen Land ein unglaubwürdig wolkenloser Himmel.

An diesem Morgen verließen schon in der frühesten Dämmerung ungezählte Neugierige ihre Häuser und fuhren oder wanderten nach Kirchberg im Toggenburg, wo unter den Augen des deutschen Kaisers die Hauptschlacht zu erwarten war. Im Umkreis des hochgelegenen kleinen Dorfes tauchten denn bei Tagesanbruch überall zerstreute Gruppen und Züge von Menschen auf, die nach einigem Zögern die Hügelkuppe südlich des Dorfes bestiegen und ihr den Anschein eines riesigen Ameisenhaufens verliehen, während ringsum auf allen Straßen der lockere Anmarsch weiterdauerte.

In einem der ungeordneten Züge schritten drei Brüder aus Zürich, Severin, Paul und Fred, die Söhne des Brigadekommandanten Oberst Ammann. Sie schritten nicht friedlich nebeneinander, sondern getrennt hintereinander, weil Severin, der älteste, ungeduldig vorwärts drängte, Paul aber unter lässigen Protesten nur widerwillig folgte. Fred, der jüngste, schien im Zweifel, ob er es mit diesem oder jenem halten sollte, jedenfalls ging er in wechselnden Abständen zwischen ihnen und verhinderte auf diese Art wenigstens, daß sie den Zusammenhang gänzlich verloren.

«Wenn wir nicht rechtzeitig oben sind, hat es überhaupt keinen Wert, jetzt schon hinaufzugehen», rief Severin kühl belehrend, indem er knapp anhielt und die gemütlich Folgenden unwillig musterte. In seinen Kniehosen, der zugeknöpften Jacke, mit dem umgehängten Zeiß und der Ausweiskarte auf dem Hut erweckte er den Eindruck eines etwa dreißigjährigen Offiziers in Zivil, was den wirklichen Verhältnissen nicht entsprach. «Vermutlich ist er schon unterwegs», fuhr er fort, «der Zürcher Zug ist in Wil eingefahren, das haben wir ja gehört.»

«Wer ‹er›? Wer ist unterwegs?» fragte Paul verstockterweise, obwohl nun schon häufig genug vom Kaiser nicht anders die Rede gewesen war.

«Ach was!» sagte Severin und ging weiter, rief aber mahnend noch einmal zurück: «Wenn wir nicht beisammenbleiben, finden wir einander in diesem Gewimmel nicht mehr. Ihr könnt dann sehen, wer euch orientiert!» Damit schritt er endgültig aus, zielbewußt und aufrecht, ohne die vielen Bummler zu beachten, die bald beratend stehenblieben, bald zu irgendwelchen Infanteriestellungen in die Wiese hinausliefen.

Fred, ein lang aufgeschossener Bursche von sehr jugendlichem, gutmütig heiterm Aussehen, ermunterte Paul. «Komm du, es ist ja wurst!» sagte er lächelnd. «Und wenn wir Papa sehen, drückst du dich einfach!»

«Bitte, du wirst doch nicht glauben, daß ich mich vor Papa fürchte!» erwiderte Paul leise. «Da hätte ich ja zu Hause oder in Deutschland bleiben können. Aber diese Volksversammlung da … mir scheint, das wird ein zweifelhaftes Vergnügen.» Er drehte sein schmales, blasses Gesicht nach rechts und links, verzog leicht angewidert und etwas ironisch den vollen Mund, winkte dann aber mit der Rechten seinen eigenen Bedenken müde ab und schloß sich dem Bruder an. Er hätte auf Papas Wunsch in diesen Wiederholungskurs einrücken sollen, doch er besaß seinen Auslandsurlaub und war ein paar Tage zu spät heimgekommen; immerhin war er gekommen, wenn auch nur zu einem Besuch, Mama wenigstens konnte zufrieden sein, und Papa, der in diesen Manövern zum erstenmal eine Brigade führte, würde jetzt keine Zeit haben, sich mit ihm zu beschäftigen.

Die Brüder befanden sich vor dem letzten kurzen Anstieg zur Hügelkuppe, als rechts unter ihnen in der ausweichenden Menge ein paar Automobile sichtbar wurden, die auf dem nahen Fahrweg ebenfalls die Höhe erklommen. Das war ein glücklicher Zufall, der Fahrweg endete in ihrer Nähe oder verengte sich doch zum Fußpfad, keine dreißig Schritte über ihnen, und dort hielt denn auch, vom Publikum freilich zunächst verdeckt, der erste Wagen an. Aber die zudringlichen Leute wurden über die Böschung hinabgedrängt, und das Folgende spielte sich wie auf einer Bühne vor den Augen der Brüder ab. Severin packte plötzlich Freds Oberarm, drückte ihn heftig und starrte hinauf.

Dort oben stieg ein wohlgewachsener uniformierter Mann aus dem Wagen, wandte sich auf dem Trittbrett auffällig lachend noch einmal den übrigen Insassen zu, mit einer witzigen Bemerkung vielleicht, betrat dann den Erdboden und ging festen Schrittes zur Böschung, wo er stehenblieb. Während dieser wenigen Schritte erstarb sein Lachen, der letzte Rest von Heiterkeit wich aus seiner Miene. Vom vollen Schein der Sonne getroffen, die sich aus den östlichen Randnebeln erhoben hatte, blieb er in großartiger Haltung über dem Volke stehen, die behandschuhte Linke auf dem Säbelkorb, in der Rechten leicht, ja anmutig gesenkt den Stab eines Feldmarschalls, die linke Brustseite mit Orden geschmückt, den Kopf mit dem steilen Käppi ein wenig nach rechts gedreht; man erkannte seinen Schnurrbart, dessen forsch aufgerichtete Enden nach den ausgeprägten Backenknochen zielten, seine schönen Augen mit dem stolzen Ernst im Blick, sein ganzes, männlich straffes und selbstbewußtes Gesicht, das berühmteste Gesicht dieser Zeit. Er war es, Wilhelm der Zweite, der deutsche Kaiser.

«Hoch!» schrie das Volk. «Hoch der Kaiser! Hoch Deutschland! Hurra! Hoch!»

Der Auftritt dauerte wenige Sekunden, der Kaiser wandte sich seinen Begleitern zu und verschwand hinter der nachdrängenden Menge, so daß zwischen Pickelhauben und Oberstenkäppis nur für Augenblicke noch seine Kopfbedeckung zu erkennen war, die den Lederhüten unserer Soldaten glich.

Paul war belustigt, er grinste unverhohlen, während Severin begeistert und immer noch aufmerksam verharrte. Fred warf, nachdem er selber dem Eindruck sich arglos mit offenem Munde hingegeben hatte, einen kurzen, forschenden Blick auf die Brüder, wurde unsicher in seinen Gefühlen und sagte, um nur etwas zu sagen, lächelnd: «Ich hätte gedacht, er trüge einen goldenen Helm.»

«Du bist ein Kindskopf!» bemerkte Severin ruhig.

«Oh, bitte, das ist gar nicht so dumm!» fiel Paul ein. «Er hat nämlich einen goldenen Helm, und er hätte ihn gewiß gern aufgesetzt.»

«Quatsch!» erwiderte Severin. «Ihr wißt natürlich nicht, was für eine Uniform er trägt. Es ist die Uniform des deutschen Gardeschützenbataillons, und dieses Bataillon bestand früher aus Neuenburgern, vor 1857 nämlich, als der preußische König zugleich Fürst von Neuenburg war. Daß er bei uns ausgerechnet diese Uniform trägt, das ist ein sehr feiner Zug … Aber jetzt müssen wir hinauf, wenn wir noch etwas sehen wollen, vorwärts!»

Sie stiegen weiter, gerieten mit einem Schwarm von Neugierigen an die Seile, die, durch Soldaten bewacht, den Scheitel der Kuppe absperrten, und suchten sich hier im Gedränge einen Platz zu erobern.

 

Der Kaiser hatte indessen den höchsten Punkt der mäßig gewölbten Kuppe erreicht und blieb in liebenswürdig höflichem Gespräch vor einem ältern, zivilen Manne stehen. Die übrigen Manövergäste innerhalb der Umzäunung kümmerten sich scheinbar nicht um die beiden, in der Tat aber wahrten sie unmerklich einen achtungsvollen Abstand und verfolgten die kleine Szene heimlich mit lächelnden Blicken voller Wohlgefallen. Der Mann in Zivil war der schweizerische Bundespräsident Ludwig Forrer, eine stattliche Gestalt in dunklem Mantel und breitkrempigem Filz, auf dem klugen, von Kinn- und Backenbart weiß umbuschten Gesicht einen Ausdruck besorgter Würde, eine ausgesprochen bürgerliche Gestalt, die zum höchsten deutschen Soldaten den stärksten Gegensatz bildete, ein Republikaner zudem, ein Demokrat, was den Monarchen und erklärten Verächter alles Republikanischen jetzt offenbar nicht abhielt, ihm die artigsten Dinge zu sagen.

In einiger Entfernung stand ein hoher Milizoffizier, Oberst Hoffmann, Bundesrat und Chef des schweizerischen Militärdepartements, der einzige im lockern Kreise, der nicht lächelte, sondern durch seinen Klemmer die zwei Staatsoberhäupter mit einem klaren, sachlichen Blick umspannte. Er wartete auf das Ende des Gespräches, dann trat er vor, zog die Absätze zusammen und begann: «Wenn Eure Majestät nun gestatten, wird unsere Manöverleitung …»

«Ja, nun wollen wir mal sehen, was hier gespielt wird», unterbrach ihn der Kaiser und ging, ohne ihn weiter zu beachten, zwischen den ausweichenden Gästen hin nach dem südlich abfallenden Hang. Dort vorn befand sich in Gesellschaft von Adjutanten und deutschen Offizieren ein eidgenössischer Oberst, ein mittelgroßer, fester Mann mit einem massigen, mürrisch wirkenden Gesicht, der Manöverleiter, Oberstkorpskommandant Ulrich Wille.

Der Kaiser trat sichtlich wohlgelaunt an den ihm bekannten Schweizer heran. «Also los, Wille!» sagte er. «Wo stehen Ihre Legionen? Ich bin sehr neugierig! Und Sie wissen ja, mir können Sie nichts vormachen!»

Wille begann dem Kaiser den Stand der Übung darzulegen, indem er bald auf die Karte wies, bald in das Gelände hinausdeutete. Vor ihnen lag unter dem blauen Septemberhimmel eine mannigfaltige weite Landschaft mit Hügeln, Wäldern, Schluchten und Wiesentälern, mit leuchtend grünen Flächen, schattigen Gründen und kleinen, flach hinziehenden Nebeln, die in der schräg einfallenden Morgensonne weiß aufschimmerten und verdampften, das Anmarschgelände der blauen Division. Sie selber standen auf dem wichtigsten Punkt der roten Stellung, der sechsten Division, die sich in der Nacht hier auf den Höhen südlich von Kirchberg mit leicht nach Westen und Osten abgebogenen Flügeln, mit der Hauptfront nach Süden, zur Verteidigung eingerichtet hatte. Die Infanterie war eingegraben, da und dort ließ sie ihr Gewehrfeuer spielen, das den vortastenden gegnerischen Patrouillen galt, und über die Schützengräben hinweg donnerten bereits die Kanonen nach den Hauptkräften des Feindes. Der blaue Gegner hatte sich, mit zwei Brigaden in der Front, in einem mächtigen Halbkreis schon bedrohlich nahe an die rote Stellung herangearbeitet; er zeigte Angriffsabsichten und begann eben jetzt von verschiedenen Punkten her mit der artilleristischen Vorbereitung. Prächtige, lehrreiche Bilder von Angriff und Verteidigung waren zu erwarten, oder wären unter gewohnten Umständen zu erwarten gewesen. Die immer noch wachsende Masse der Manöverbummler aber drohte nun alles zu vereiteln; nicht nur den Hügel, auf dem man hier stand, umgaben sie in dichten Scharen, sie hatten auch die benachbarten Höhen besetzt und wimmelten überall durch die Kampfzone, ungezählte neugierige Menschen, die nach Zehntausenden zu berechnen waren. Sie zerstörten die Illusion eines wirklichen Kampfes, die notwendig ist, wenn die Übung nicht zum Gefechtsexerzieren oder gar zur Spielerei werden soll, sie verleideten der Truppe das kriegsgemäße Verhalten und ironisierten durch ihre bloße Gegenwart die eben dargelegte Lage.

Oberst Wille spürte grimmige Lust, die Übung zu unterbrechen, aber jetzt waren ihm außergewöhnliche Rücksichten auferlegt, und so zwang er sich, von den widrigen Umständen abzusehen, um bei der Sache zu bleiben. «Der rote Parteikommandant», erklärte er, «will alle verfügbaren Reserven an seinem rechten Flügel einsetzen, zur Umfassung des linken blauen Flügels, wie er hofft; er wird mit einem anständigen Gegenstoß zufrieden sein müssen, die Blauen haben dort auch Absichten, denke ich.»

«Wohl alles supponiert, was?» fragte der Kaiser.

Wille ging nicht auf diesen Ton ein, mit dem Wilhelm scherzhafterweise versuchte, die Übung leicht zu nehmen, er wahrte seinen vollen Ernst, setzte seinen bedeutenden militärischen Ruf entschlossen daran und gedachte im übrigen, dem kaiserlichen Fachmann morgen ein Beispiel von Verfolgung und Rückzug aufzutischen, wie man es in Deutschland kaum viel besser würde erleben können. Er wußte, warum der Kaiser gekommen war.

Die andern hohen Herrschaften beobachteten indessen die militärischen Vorgänge oder gaben sich zwanglos einer gewissen Geselligkeit hin. Verschiedene fremde Offiziere ließen sich von Oberst Sonderegger, dem jugendlich schneidigen Stabschef Willes, über die Lage unterrichten. Man erkannte den französischen General Pau und die mächtige Gestalt des schwarzbärtigen Burengenerals Beyer, man sah den österreichischen Feldmarschalleutnant von Dankl im Gespräch mit Oberst von Sprecher, dem großgewachsenen hagern Chef des schweizerischen Generalstabs, und freute sich am Anblick des kaiserlichen Gefolges. Die Herren Generaladjutanten von Plessen und von Lynker, General Hüne, der Graf zu Eulenburg und der Fürst zu Fürstenberg mit ihren Orden, reichen Schnurgarnituren und glänzend beschlagenen Pickelhauben bildeten, angeregt von der guten Stimmung ihres Herrn, eine offensichtlich wohlgelaunte und eindrucksvolle Gruppe. Abseits mit dem Fernglas vor Augen stand General von Moltke.

Die drei Brüder im Gedränge der Zuschauer sahen von alledem nicht eben viel und traten einen Streifzug durch das Manövergelände an. Sie waren eine knappe Stunde planlos unterwegs und wollten schon zum Feldherrnhügel zurückkehren, als sie in geringer Entfernung eine auffällige Bewegung des Publikums bemerkten, das von allen Seiten hastig einem Fahrweg zustrebte. Wie sie hinkamen, erkannten sie zunächst den kaiserlichen Wagen und gleich darauf zu ihrer größten Verblüffung den Kaiser selbst in einem nahen Schützengraben.

Der allerhöchste Feldherr hatte in der ausgesprochenen Absicht, sich die Dinge aus der Nähe anzusehen, mit dem Manöverleiter eine Rundfahrt unternommen und an verschiedenen Punkten anhalten lassen, auch hier also, wo ein mit Füsilieren dicht besetzter Schützengraben an den Fahrweg grenzte. Er war in den Graben hineingestiegen, prüfte jetzt leicht gebeugt über die Brustwehr hinweg das Schußfeld und fragte den nächsten Füsilier wohlwollend heiter nach dem Ziel und der Entfernung dahin. Der deutsche Kaiser in einem schweizerischen Schützengraben zwischen einfachen Milizsoldaten – so etwas hätte sich niemand auszudenken gewagt, es war ein unerwartetes Bild von zwingender Wirkung, das die hohen Begleitoffiziere entzückte und das Publikum zu lautem Beifall hinriß.

Als der Kaiser den Graben verließ, machte Severin, eine nahe Wiederholung des Auftritts erwartend, in hochgestimmter Aufregung den Vorschlag, dem Wagen vorauszulaufen und ihm, sobald man überholt würde, zu folgen.

Paul fand diesen Vorschlag lächerlich. «Überhaupt», sagte er leise und scherzhaft melancholisch, «das ganze Theater ist deprimierend. Zuerst singt die Presse in beschämender Untertänigkeit das Loblied Wilhelms, und jetzt läuft das Volk zu Tausenden diesem Monarchen nach und jubelt ihm zu … in Deutschland weiß man, wie er über die Republikaner denkt, aber hier fällt man auf ihn herein … mit unserem nationalen Selbstbewußtsein und dem Stolz auf unsere Demokratie ist es, scheint’s, nicht mehr weit her …»

«Jetzt hör aber auf, ich bitte dich!» erwiderte Severin streng. «Und übrigens bist du ja auch da, nicht wahr, du läufst auch mit, das ist sehr konsequent!»

«Ja, das ist ein Fehler», gab Paul zu. «Ich kehre jetzt um und werde mit dem nächsten Zug heimfahren, ich habe genug.» Er hob lässig grüßend die Rechte, nickte Fred noch zu und ging wirklich fort.

Fred lief ihm nach und suchte ihn zurückzuhalten. «Bleib doch, es ist ja ganz egal, wie du denkst!»

«Ach, es ist weniger wegen der Konsequenz», sagte Paul abschwächend, «aber ich bin nicht für Volksaufläufe …»

«Jaja, es ist ein elender Rummel!»

In diesem Augenblick, eben als der kaiserliche Wagen auf dem holprigen Wege langsam anfuhr, rief Severin dringend: «Fred, komm! Vorwärts, vorwärts!»

«Laß ihn doch laufen!» riet Paul. «Komm du mit mir, wir wollen aus dem Rummel heraus.»

«Ach was, wir wollen doch beisammen bleiben», erwiderte Fred ärgerlich, ohne sich zu rühren, und sah mit finsterer Miene zu, wie Paul ihn freundlich nickend verließ und Severin dem Kaiser nachlief.

Paul schlenderte den Weg zurück, kam am südlichen Fuß des Feldherrnhügels vorbei und schlug die Richtung auf Batzenheid ein, in das Thurtal hinab, wobei er zwischen den östlichen Flügeln der beiden Fronten einer auffallenden Reitergruppe begegnete. Zuerst hörte er nur die rasch herantrabenden Pferde und wich in Erwartung einer Kavalleriepatrouille mit dem auch hier recht zahlreichen Publikum gemächlich an den Wegrand aus.

Die Gruppe bestand aber aus fremden Offizieren, die sich in Begleitung schweizerischer Kavalleristen in diesem Abschnitt umsehen wollten. Sie kamen in ihren ungewohnten bunten Uniformen überraschend aus der nahen Kurve geritten, mit dem französischen General Pau an der Spitze, der im Deutsch-Französischen Kriege den rechten Vorderarm verloren hatte. Dieser eindrückliche Zeuge eines bedeutenden geschichtlichen Ereignisses, eine gedrungene Gestalt mit weißem Schnurrbart und energischen Zügen, kam leicht vorgebeugt auf einem prachtvollen Schimmel dahergetrabt.

Paul riß, einer unüberlegten Regung folgend, den Hut vom Kopf und schrie, völlig gegen seine stille Art: «Vive la France!»

Der General hing die Zügel über den waagerecht vorstehenden Armstummel und legte grüßend die Linke an den Mützenrand.

«Vive la France!» wiederholte Paul mit Überzeugung, von den Zuschauern laut und bereitwillig unterstützt, während die Gruppe vorübertrabte und auf dem vielfach geschlungenen Wege hinter der nächsten grünen Böschung verschwand.

Indessen spürte Fred einen bitteren Ärger sowohl über die Brüder, die ihn leichtsinnig verließen, wie über sich selber, weil er sich nicht hatte entschließen können, dem einen oder andern zu folgen. Aber dieser Ärger machte rasch der trotzigen Selbstbesinnung Platz, daß er nicht jeder Laune zu folgen brauche, sondern nach seinem eigenen Gutdünken handeln könne. Es war ja eine Laune, die seine Brüder auseinandertrieb, sie hatte nichts mit dem zu tun, was hier eigentlich in Frage stand, sondern nur mit dem faulen Zauber, der daraus gemacht wurde. Hier handelte es sich doch um ein ernsthaftes Manöver, zwei Divisionen kämpften gegeneinander, und Papa selber führte eine Brigade; man brauchte also nicht mit der Nase in der Luft da herumzulaufen und jede Uniform zu begaffen, man konnte sich an die sachlichen Vorgänge halten, das hatte einen Sinn und war am Ende auch ein Vergnügen.

Er verstand noch nicht sehr viel von diesen sachlichen Vorgängen, die Rekrutenschule erwartete ihn erst im nächsten Frühjahr, aber der Gedanke an Papa ermunterte ihn. Warum sollte er sich nicht an den Vater halten, der als hoher Fachmann hier mitspielte? Das wollte er nun wirklich tun, er kannte den Abschnitt ungefähr, den die Ammannsche Brigade besetzt hielt, und wollte sich nach ihrem Befehlshaber durchfragen, um von ihm endlich zu erfahren, was hier eigentlich los war. Wann und wo er ihn finden und wie er dabei auf seine Rechnung kommen würde, blieb recht zweifelhaft, die Umstände waren ihm nicht sehr günstig, doch bedachte er nun keine Schwierigkeiten. Die Hände in den Hosensäcken, den Hut auf dem Hinterkopf, einen schweizerischen Militärmarsch vor sich hin pfeifend, ging er quer durch das grüne Gelände auf die Suche nach dem Vater, während irgendwo die Menge wieder hurra, hoch und bravo schrie, da und dort Gewehre knatterten, Kanonen donnerten, Schützenlinien vorgingen, und die Sonne am tiefblauen Himmel über dem ernsten Spiel der Menschen heiter und unbeteiligt in den Mittag stieg.