Zauderer mit Charme

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Zauderer mit Charme

Impressum

Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016– 2020 unterstützt.

Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.

Umschlagbild: Hans Schindler in seinem Büro im Verwaltungsgebäude der MFO, 1950. © Jakob Tuggener-Stiftung, Uster

Lektorat Stephanie Mohler, Hier und Jetzt

Gestaltung und Satz Simone Farner, Naima Schalcher, Zürich

Bildbearbeitung Benjamin Roffler, Hier und Jetzt

ISBN Druckausgabe 978-3-03919-466-7

ISBN E-Book 978-3-03919-941-9

E-Book-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

© 2020 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Baden, Schweiz

www.hierundjetzt.ch

Einleitung

Die Reise nach China

Ein hoffnungsvoller Spross

Einstieg in die Firma

Die Moralische Aufrüstung

Verpflichtungen an jeder Ecke

Verlorene Wahl und USA-Abenteuer

Fehlende menschliche Wärme

Vaters Schatten

Die Ära Schindler geht zu Ende

Ein neues Leben

Quellen- und Literaturverzeichnis

Zeittafel

Führungspersonal der Maschinenfabrik Oerlikon, 1935–1957

Verflechtungen in den Verwaltungsräten

Abbildungsverzeichnis

Dank

Autor

«Ein angenehmer Abschluss meiner mannigfachen Kontakte in der Schweiz: ein Besuch bei Dir. Schindler von der Maschinenfabrik Oerlikon. Er hat seine bedrückende ‹Villa› aus der Jahrhundertwende verlassen und wohnt hoch über dem See in Zollikon. [...] Sch. hat, was mir noch nie zuteil geworden ist, an einer hohen Stange, die in peinlich gepflegtem Rasen steht, die Schweizerfahne eigens zu meinen Ehren hochgezogen. Sie ist allerdings in symbolischer Weise zunächst auf Halbmast steckengeblieben und wollte nachher nicht recht in Wallung geraten, doch hat sich schliesslich alles zum besten gewendet, und die aufgefahrene Zwetschgenwähe war so herrlich, wie die angeregte und mit menschlichen Affinitäten gewürzte Unterhaltung mit dieser liebenswürdigen und kultivierten Familie, zu der nur der Fontane fehlt, um literarisch verwertet zu werden.»

Emil Friedrich Rimensberger Tagebucheintrag, 10. August 1954

«Zum Thee kommen die Rimensbergers, er Sozialattaché bei unserer Gesandtschaft in Washington. Er macht etwas viel in Opposition, wird aber im Laufe des Gesprächs ganz nett.»

Hans Schindler Tagebucheintrag, 10. August 1954

Einleitung

«Seine grauen Augen blicken energisch und frisch, und es liegt ein Schimmer in ihnen, der gesunden Menschenverstand und Sinn für Humor verrät.» So beschreibt ein Journalist der Zürcher Woche im August 1954 den 58-jährigen Direktionspräsidenten der Maschinenfabrik Oerlikon (MFO), Dr. Hans Schindler-Baumann. Auf den ersten Blick entsprach der 1896 geborene Industrielle idealtypisch dem Bild eines Angehörigen der Schweizer Wirtschaftselite, wie es noch bis in die 1980er-Jahre vorherrschte. Er war männlich, Schweizer Staatsbürger, Chef eines Grossunternehmens, freisinnig, Milizoffizier, sass in mehreren Verwaltungsräten, hatte sich an der ETH zum Ingenieur ausbilden lassen und Lehrjahre im Ausland verbracht. Privat stammte er aus einer angesehenen Familie, trat die Nachfolge im Unternehmen des Vaters an, heiratete standesgemäss, hatte mehrere Kinder und einen repräsentativen Wohnsitz. Was nach einer erfüllten Berufskarriere, gesellschaftlichem Ansehen und befriedigendem Familienleben aussieht, erweist sich bei genauerer Betrachtung allerdings als konfliktreicher persönlicher Weg. Dieser endete erst mit dem dramatischen Ausscheiden Hans Schindlers aus der operativen Führung der kriselnden MFO 1957 und der äusserst schmerzvollen Scheidung von seiner ersten Frau Ilda Schindler 1959 – zwei Ereignisse, die Hans Schindler rückblickend aber als «Befreiung» aus einem Zwangskorsett empfand.

In welchem Sinn musste sich Hans Schindler befreien? Was spielte sich in seinem Innern ab? Wie erklärte er sich die Schwierigkeiten in beruflicher und familiärer Hinsicht? Er war, so schrieb er später, bis zu einem eigentlichen Neustart im siebten Lebensjahrzehnt ein Gefangener seiner familiären Prägung: «In meinem Leben spielten die vom Elternhaus übernommenen Vorstellungen eine grosse Rolle. Sie hatten ein erstaunliches Beharrungsvermögen. Auslandsaufenthalte, aktive Betätigung im Beruf, Militärdienst in allen Chargen vom Rekruten bis zum Bataillonskommandanten, Heirat, eigene Kinder, all das erweiterte zwar den Horizont, änderte aber wenig an den Vorstellungen über Pflichten, Stellung in der Welt, Erlaubtes und Verbotenes, Verteidigungswürdiges und zu Bekämpfendes. Parallel zum Beharrungsvermögen alter Vorstellungen geht eine akute Blindheit gegenüber Erscheinungen, die nicht zu den alten Vorstellungen passen. Was nicht sein darf, wird ignoriert, abgeleugnet, abgestritten. Ich sündigte in dieser Beziehung schwer, zum Erstaunen von wohlwollenden Leuten, deren Blick ungetrübt von familiären Vorurteilen war.» Erschwerend kam seine generelle Unsicherheit hinzu, die er erst im Alter ablegen konnte. Als veritables Handicap erwies sich aber seine Unfähigkeit, andere Menschen richtig einzuschätzen und sie mit ihren Stärken und Schwächen zu akzeptieren.

Zu seinem 70. Geburtstag schrieb der ehemalige Nationalrat Hermann Häberlin, sein langjähriger Weggefährte im Arbeitgeberverband schweizerischer Maschinen- und Metall-Industrieller (ASM), in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ), dass der ehemalige Präsident des Verbandes, Hans Schindler, «aus weicherem Holz geschnitzt» gewesen sei als sein Vater, der in streng patronaler Manier genau das Gegenteil verkörpert habe. Kurz vor seinem unfreiwilligen Ausscheiden aus der aktiven Unternehmensführung stellte Hans Schindler selbst fest, dass er als Unternehmer wohl zu wenig Härte an den Tag gelegt habe. Was er als scharfe Abgrenzung zu seinem strengen Vater praktizierte, wurde mit der Zeit zu einer schweren Hypothek. Seine Anordnungen wurden im Betrieb mit der Zeit immer weniger ernst genommen, und es mangelte ihm an Durchsetzungskraft und Entscheidungsfreude. Dazu kam das selbst diagnostizierte Fehlen des «Unternehmer-Gens», was die MFO fast ungebremst in eine schwere Krise schlittern liess. Die Reparatur gelang zwar halbwegs ab 1958 unter neuer Führung, doch für ein Überleben im internationalen Markt war der spätere Zusammenschluss der MFO mit der Brown, Boveri & Cie. (BBC) schliesslich unumgänglich.

Was in Künstlerbiografien gerne und oft ausführlich beschrieben wird, ist bei Abhandlungen über die Wirtschaftseliten kaum ein Thema: die Auswirkungen der familiären Situation auf die Karriere. Hans Schindler ist ein Beispiel dafür, wie sehr sich seine alles andere als idealen privaten Verhältnisse auch auf seine berufliche Tätigkeit auswirkten. Sein Cousin Rudolf Huber-Rübel, der mit ihm zusammen die MFO leitete, brachte es in seinen Lebenserinnerungen klar zum Ausdruck: «Schindler […] machte auch seine Familie schwer zu schaffen.» Er sei im Betrieb oft unausgeglichen gewesen. Die fehlende Liebe zwischen Hans Schindler und seiner Frau lastete schwer auf dessen Seele. Dazu kam, dass seine Frau als praktizierende Ärztin und passionierte Bergsteigerin in keiner Weise dem vorherrschenden Bild einer Industriellengattin entsprach. Mit der häufigen Abwesenheit ihrer Eltern und den gleichzeitig hohen Ansprüchen an ihr wohlgeratenes Gedeihen konnten auch die sechs Kinder kaum umgehen. Entsprechend problematisch gestalteten sich ihre Beziehungen zu den Eltern.

Die Verflechtung von Familien- und Firmengeschichte und der persönliche Einblick in das Denken und Fühlen eines Zürcher Wirtschaftsführers aus der Mitte des 20. Jahrhunderts ist vor allem aus einem Grund möglich: Hans Schindler hat von 1945 bis 1957 detailliert Tagebuch geschrieben. Die überlieferten 25 Hefte sind handschriftlich geführt, umfassen insgesamt knapp 3000 Seiten und weisen von wenigen Ausnahmen abgesehen zu jedem einzelnen Tag einen Eintrag auf. Sie erlauben einen fast schon intimen Blick in das Innenleben von Hans Schindler und zeigen seine Sorgen und Nöte auf – in geschäftlicher wie auch in privater Hinsicht. Da das 25. Heft bis zur letzten Seite gefüllt ist und seine Kinder auch spätere Tagebücher gesehen haben wollen, kann man annehmen, dass Hans Schindler im Oktober 1957 nicht aufgehört hat, Tagebuch zu führen. Die späteren Tagebücher sind aber nicht mehr auffindbar. Vermutlich vernichtete sie seine zweite Frau Dora Loppacher nach Hans Schindlers Tod. Sie nahm ab 1958 eine zentrale Rolle in seinem Leben ein und wurde ab diesem Zeitpunkt wohl auch sehr häufig im Tagebuch erwähnt.

 

Erhalten sind weiter seine Memoiren mit dem bezeichnenden Titel «Überprüfungen» und dem Zusatz «Als Kind und Jugendlicher anfangs des Jahrhunderts im Industriellen-Milieu Zürichs und spätere Erlebnisse». Interessanterweise räumt Hans Schindler der problembeladenen Zeit ab dem Zweiten Weltkrieg bis zu seinem Ausscheiden aus der aktiven Leitung der MFO 1957 nur sehr wenig Platz ein. Ausführlich beschreibt er seine Jugend, seine ersten Jahre bei der MFO und dann wieder die Zeit nach 1958. Zudem unterzieht er sein Leben ganz im Sinne der titelgebenden Überprüfung einer ziemlich schonungslosen Bewertung. Das privat gedruckte Büchlein mit einem Umfang von 69 Seiten gab er «tropfenweise» an Familienangehörige und Freunde ab. Als Gegenstück zu den persönlichen Aufzeichnungen von Hans Schindler standen mir auch Briefe seiner ersten Ehefrau Ilda Schindler zur Verfügung, die sie an ihre Freundin Suzanne – genannt Sus – Öhman-Schwarzenbach, die in Schweden wohnte, geschrieben hatte. Hans Schindler spielt darin allerdings im Gegensatz zur ausführlich geschilderten Entwicklung der Kinder eine Nebenrolle.

Aufgrund der sehr persönlichen und offenen Tagebucheinträge, die thematisch von schweren Auseinandersetzungen mit Familienmitgliedern und Arbeitskollegen über scharfe Selbstanklagen und psychiatrische Behandlungen bis hin zu unerfülltem sexuellem Begehren reichen, stellt sich eine wichtige Frage: Darf man ein Tagebuch, das der Verfasser im Prinzip nur für sich geschrieben hat, als Quelle für eine Publikation benutzen und so den Inhalt der Öffentlichkeit zugänglich machen? Im vorliegenden Fall sprachen einige gewichtige Gründe für die Verwertung des Materials. Hans Schindler ist seit über 35 Jahren tot, ebenso (fast) alle Hauptpersonen, die im Tagebuch genannt werden. Er und sein Umfeld stehen damit nicht mehr persönlich im Fokus, sondern fungieren als zeittypische Vertreter einer heute in dieser Form untergegangenen Elite. Und hätte Hans Schindler nicht gewollt, dass auch unschöne Dinge aus seinem Leben an die Öffentlichkeit gelangen, hätte er in seiner Autobiografie gewisse Probleme nicht so schonungslos geschildert. Der wichtigste Grund für die Veröffentlichung ist aber sicherlich die Bereitschaft seiner noch lebenden Kinder, dieses einmalige Zeitdokument – auch auf Empfehlung der Wirtschaftshistorikerin Dr. Margrit Müller von der Universität Zürich – interessierten Kreisen zugänglich zu machen. 2017 haben sie die Tagebücher dem Schweizerischen Wirtschaftsarchiv in Basel übergeben und mir im Jahr darauf den Auftrag zum Schreiben dieser Biografie erteilt.

Natürlich stellt sich weiterhin die Frage, ob man allzu Privates nicht weglassen sollte, ob man nicht Gefahr läuft, einem gewissen Voyeurismus Vorschub zu leisten. Doch Schindlers Aufzeichnungen sind so vielseitig und offen, dass es schade wäre, sie zu zensurieren. Der Unternehmer, der in historischen Abhandlungen oft stark hagiografisch gezeichnet wird, erhält hier ein komplexeres Gesicht – Zaudern, Zweifel, gar Verzweiflung gehören dazu, und auch privates und geschäftliches Scheitern werden thematisiert.

Auf den ersten Blick spiegeln die Geschehnisse zwischen 1945 und 1957 ein Bild von Hans Schindler wider, das von einigen Misserfolgen im Unternehmen und persönlichen Schwierigkeiten geprägt ist. Beeindruckend ist aber sein unbändiger Wille, sich selbst und die MFO zu verändern, seine Offenheit, sein Sinn für Humor und seine scharfe Beobachtungsgabe. Immerhin gelang ihm im Alter der Übertritt in eine glücklichere Lebensphase, was seine Krisenjahre in einem versöhnlichen Licht erscheinen lässt – auch im Hinblick auf die zuvor sehr schmerzlichen Konflikte in der Familie, die damals teilweise beigelegt werden konnten. Faszinierend ist seine unmittelbare Zeitzeugenschaft in der Nachkriegszeit. So begegnete er etwa dem sehr erschöpften Winston Churchill bei dessen berühmtem Besuch in der Aula der Universität Zürich, 1949 trat er im Kampf um einen Ständeratssitz gegen Gottlieb Duttweiler an, er machte Bekanntschaft mit der immer stärker in einen sektiererischen Antikommunismus abdriftenden christlichen Bewegung der Moralischen Aufrüstung, er lernte bei seinen vielen Geschäftsreisen in die USA den freizügigen American Way of Life kennen und zimmerte als Arbeitgeberverbandspräsident zusammen mit den grossen Gewerkschaftsführern wie Konrad Ilg insgesamt drei Verlängerungen des Friedensvertrags in der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie. Besondere Kühnheit verlangte aber 1945 eine Reise nach China, das sich immer noch im Kriegszustand mit Japan befand. Dieser riskante Besuch zur ersten Anbahnung von Wirtschaftsbeziehungen zwischen China und der Schweiz war für Hans Schindler der Anlass, mit dem Schreiben eines Tagebuchs zu beginnen, und soll auch hier dazu dienen, in das turbulente Leben dieses Zürcher Industriellen einzutauchen.

Die Reise nach China

«8.07 Uhr Abfahrt des Zuges nach Neuenburg. Die ganze Familie ohne die beiden Kleinsten, und die Grosseltern waren auf dem Bahnhof. Jedermann war etwas traurig.» So beginnt der erste Tagebucheintrag von Dr. Hans Schindler-Baumann am 2. Mai 1945. Da stand er also, der Ehemann, Vater, Schwiegersohn, 48 Jahre alt, ein stattlicher Mann mit nachdenklichem, aber wachem Blick, und verabschiedete sich im Zürcher Hauptbahnhof von seinen Schwiegereltern, seiner Frau Ilda und von vier seiner sechs Kinder. Ziel der Zugfahrt war Paris, von wo aus er in mehreren Etappen in amerikanischen Militärmaschinen nach China weiterreisen wollte.

Die bevorstehende Reise in den Fernen Osten war offensichtlich der Anlass, um von nun an Tag für Tag über sein Leben Buch zu führen und die wichtigsten Erlebnisse, Gedanken und Taten festzuhalten. Die Ungewissheit einer Reise durch die halbe Welt, die sich nach wie vor im Kriegszustand befand, löste auch bei der Familie spezielle Gefühle aus. Sohn Peter, damals zehn Jahre alt, erinnert sich, dass sich Vater und Mutter beim Abschied in der Bahnhofshalle das einzige Mal in der Öffentlichkeit einen Kuss gaben. Die Kinder waren tief beeindruckt.

In China wollte Hans Schindler zusammen mit einer kleinen Delegation von weiteren Vertretern aus wichtigen Schweizer Industriefirmen den Boden für die wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Länder bereiten. Man erwartete, gute Beziehungen zu massgeblichen Persönlichkeiten der Regierung und der Privatwirtschaft knüpfen zu können. Im Stillen hoffte die Delegation natürlich, bereits erste Bestellungen für ihre Firmen oder zumindest für Schweizer Unternehmen einholen zu können. China befand sich immer noch im Krieg mit Japan. Die chinesische Regierung unter Chiang Kai-shek hatte sich nach dem Massaker in der alten Hauptstadt Nanking von 1937 in Chongqing installiert und empfing in Erwartung der baldigen Kapitulation Japans erste ausländische Besucher, die beim Wiederaufbau mithelfen wollten.

Hauptbahnhof Zürich, um 1940.

Im Februar 1945 hatte sich Schindler nach einer Besprechung mit Fritz Respinger entschlossen, sich der Delegation anzuschliessen. Respinger war früher Direktor der Aluminium-Walzwerke in Schaffhausen und sass aktuell im Verwaltungsrat der Aluminium Industrie Aktiengesellschaft (AIAG). Er hatte unter anderem ein Folienwerk in Schanghai aufgebaut. Weitere Mitglieder waren der Prokurist Dr. Willy Corti von der AIAG, Ingenieur Allemand von der MFO sowie Ingenieur Winkler von Escher Wyss, der in Kairo zur Gruppe stossen wollte. Als Verbindungsmann diente der chinesische Ingenieur Miao Chung-wa, der bei Sulzer ein langes Praktikum gemacht hatte und deshalb auch Deutsch sprach. In Schindlers Tagebuch taucht er in alter Schreibweise als «Herr Miau» auf.

Die Abreise im Frühling 1945 hatte sich immer wieder verzögert, weil keine Diplomatenpässe bewilligt worden waren. Für die normalen Dienstpässe wurden nicht weniger als elf Visa benötigt, um den Transit durch verschiedene Länder nach China zu bewerkstelligen. Auf das Visum aus China wartete die Delegation zweieinhalb Monate. Es zeigte sich, dass gewisse Kreise der Mission feindlich gesinnt waren. Später erfuhr Schindler, dass insbesondere ein wichtiger Wirtschaftsberater von Chiang Kai-shek den Verlust von Einfluss und Geschäftsmöglichkeiten fürchtete und deshalb den Schweizern möglichst viele Steine in den Weg legte. General Kwei Yun-chin, der die Delegation zur Reise nach Chongqing ermuntert hatte, pochte jedoch trotz der Schwierigkeiten auf die sofortige Abreise. Er war in der Regierung von Chiang Kai-shek offiziell Chef der chinesischen Militärmission in Deutschland und bekleidete weitere hohe militärische Ämter.

Das lange Warten in Paris

Kaum mit dem Schlafwagen in Paris angekommen, erwartete sie schon die nächste Komplikation. Respinger erfuhr in der schweizerischen Gesandtschaft, dass der chinesische Botschafter in Frankreich aufgrund von Meldungen aus Chongqing von einer Weiterreise nach China abriet. Offenbar waren die Chinesen beleidigt, dass die offizielle Schweiz noch keinen Gesandten nach Chongqing geschickt hatte. Trotz eines Briefs von Bundesrat Walther Stampfli an den chinesischen Wirtschaftsminister, in dem er eine baldige Entsendung versprach, gab der chinesische Botschafter nicht nach. Die Delegation habe den Charakter einer rein wirtschaftlichen Mission. Man könne sie jetzt nicht gut empfangen. Dies sei ein Befehl von Chiang Kai-shek, und General Kwei müsse gehorchen.

In diese Ungewissheit platzte am 7. Mai 1945 die Kapitulation Deutschlands. Schindler notierte: «Im Gare St Lazare ist das Publikum freudig erregt, aber nicht enthusiastisch. Abends durchziehen Gruppen von jungen Leuten singend die Boulevards. Man sieht Ehepaare auf der Strasse sich küssen. Gelegentlich wird die Marseillaise gespielt und jedermann steht entblössten Haupts und salutierend. Gedämpfte Freude, aber doch richtige Freude.» Am darauffolgenden Tag beobachtete er, wie Jeeps und militärische Fahrzeuge mit Frauen und Soldaten durch die Strassen fuhren und mit grossem Jubel begrüsst wurden. «US Soldaten, die zuviel getrunken haben, stürzen sich auf jede Frau, die in ihre Nähe kommt und nicht gerade uralt ist, und küssen sie schmatzend ab. Sie lassen sich das lachend gefallen, auch die Ehemänner der abgeküssten Frauen. Wenn man viel durchgemacht hat, versteht man andere Leute besser und nimmt kleinere Unarten weniger tragisch.»

In den nächsten Tagen trafen unterschiedlich lautende Meldungen ein. Es zeigte sich aber bald, dass die Delegation erst später im Jahr in China empfangen werden sollte. «Es ist schwierig, die Wahrheit zu erfahren. Wenn sich die Chinesen getäuscht haben, so wollen sie es nicht zugeben.» Da man weiter auf die offizielle Meldung von General Kwei wartete, blieb die Delegation vorerst in Paris. Schliesslich kaufte sich Schindler Rückreisetickets, um gleichentags zu erfahren, dass doch noch Hoffnung auf eine Weiterreise nach Chongqing bestand. «Ich wäre am Samstag wirklich gerne nach Hause gereist. Die neue Umstellung ärgert mich genau wie mich als kleiner Bub die Umstellung der Ferienpläne der Familie geärgert hat», notierte er entnervt. Zum Trost ging die Delegation ins Casino de Paris. Doch Schindler fand nicht sonderlich Gefallen daran: «Viel amerikanisches Militär, das bei besonderen Nacktheiten oder Anzüglichkeiten tierische Laute von sich gibt. Wenig Witz und Kunst, viel Kitsch und im zweiten Teil déshabillage [Striptease] in Serie.» Schon am nächsten Tag wurde der Delegation von chinesischer Seite erneut geraten, nun doch in die Schweiz zurückzukehren und nicht weiter darauf zu insistieren, jetzt in Chongqing empfangen zu werden. Neben den internen Machtkämpfen um Einfluss in wirtschaftlichen Belangen, der auf dem Rücken der Schweizer Delegation ausgetragen wurde, gab es einen weiteren Grund für die Verzögerung der Reise: Im Frühling 1945 fand in Chongqing der 6. Nationalkongress der Kuomintang, der Regierungspartei von Chiang Kai-shek, statt, sodass die Unterkünfte in der Stadt knapp und die Vertreter der Behörden mit wichtigeren Dingen beschäftigt waren.

 

Am 19. Mai 1945 traten sie die Rückreise an. Doch kaum wieder in Zürich, berichtete General Kwei, dass Chang Kai-shek nun doch signalisiert habe, dass sie in Chongqing willkommen seien. Schindler schickte die Pässe der Delegation erneut an das Politische Departement zur Erneuerung der Visa. Am 18. Juni 1945 starteten sie den zweiten Versuch. Respinger gehörte allerdings nicht mehr zur Delegation, weil sich das Verhältnis zwischen ihm und Schindler in Paris zusehends verschlechtert hatte. Unter anderem hatte sein ständiges Nörgeln an der Qualität seines Hotelzimmers beinahe zu einer diplomatischen Eskalation geführt. Schindler hatte der AIAG deshalb mitgeteilt, dass die Mitglieder der Delegation nicht unglücklich wären, wenn Respinger bei der zweiten Reise nicht dabei wäre. Die AIAG kam dem Wunsch nach und informierte den in Rom weilenden Respinger erst, als die Delegation bereits unterwegs war.