3000 Plattenkritiken

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3000 Plattenkritiken
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Matthias Wagner

3000 Plattenkritiken

Gute und schlechte Musik aus drei Jahrzehnten

Mit einem Vorwort von

Jan Plewka

Imprint

Matthias Wagner

3000 Plattenkritiken

Copyright (Texte, Cover, Fotos): © 2016 by Matthias Wagner

Verlag:

Matthias Wagner

Postfach 30 42 50

20325 Hamburg

mattwagner@web.de

www.mattwagner.de

Konvertierung: sabine abels | www.e-book-erstellung.de

Alle Rechte vorbehalten. Verwendung der Rezensionen ab 2014 mit freundlicher Genehmigung der bunkverlag GmbH, Hamburg.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de abrufbar.

Inhalt

Über dieses Buch

„Streichle niemals einen brennenden Hund!“

- Statistisches

- Die meistrezensierten Künstler

- Die meistvertretenen Plattenfirmen (1)

- Die meistvertretenen Plattenfirmen (2)

- Die häufigsten Genres

- Die extremsten Rezensionen

- 3000 Plattenkritiken

1989

1990

1991

1992

1993

1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

2005

2006

2007

2008

2009

2010

2011

2012

2013

2014

2015

2016

666 Bonustracks

Plattenverzeichnis

A

B

C

D

E

F

G

H

I

J

K

L

M

N

O

P

Q

R

S

T

U

V

W

X

Y

Z

Verzeichnis der Bonustracks

Weitere Publikationen des Autors

Über dieses Buch


Das vorliegende Gebirge aus Albumkritiken hat sich mehr als 25 Jahre lang aufgetürmt. Die erste Rezension stammt aus der Zeit des Mauerfalls und beschäftigt sich bereits mit jenem Künstler, der sich heute – 2.829.523 Tastenanschläge später – auch als der meistrezensierte entpuppt hat: Bob Dylan.

Die mehr als 3000 Rezensionen – fast alle verfasst für die Hamburger Zeitschrift kulturnews – streunen scheuklappenlos durch die Genres, von Antifolk bis Techno, von Madonna bis Motörhead. Sie sind vergleichsweise kurz, nähern sich ihren Sujets oft emotional und popimmanent, sind also – fachterminologisch gesprochen – eingängig. Aber hoffentlich nicht seicht.

Neben Urteilen, die zu meiner nachträglichen Überraschung halbwegs standgehalten haben, stößt man natürlich auch auf viele Fehldiagnosen. Immerhin tragen gerade sie nicht wenig zum Unterhaltungswert des Ganzen bei.

Die Sammlung ersetzt trotz ihres Umfangs kein Lexikon. Doch sie bietet jenen, die Popmusik für die emotionalste Kunstform von allen halten und ein vorurteilsarmes Hören pflegen, die Chance auf Neu- und Wiederentdeckungen. Mir ging es beim Korrekturlesen ähnlich: An viele Alben konnte ich mich schlicht nicht mehr erinnern. (Das gilt leider sogar für die Mehrzahl.)

Ähnliche Projekte wie dieses gab es in Deutschland nur wenige, etwa das mit 1827 Kritiken bestückte Zweitausendeins-Buch „Sounds. Platten 1966–1977“, das die aufregendste Ära der Popgeschichte abdeckt. Doch die Jahre ab 1989 haben ebenfalls viel zu bieten, auch wenn sich viele Genres seit einiger Zeit eher durch Verschmelzung und Ausdifferenzierung erneuern als durch revolutionäre Umbrüche.

Die Sammlung deckt aber nicht nur die von mir rezensierten Erstveröffentlichungen jenes Vierteljahrhunderts ab, in dem sie sich zum Gebirge auftürmte. Dank der Neuverwertung des Backkataloges wuchs der Anteil remasterter Klassiker zuletzt rasant, und für einen Nachgeborenen ist es von großem Reiz, sich neben pressfrischen Novitäten von Adele, Coldplay oder Neko Case auch kanonisierten Meisterwerken wie „The Dark Side of the Moon“ widmen zu können.

Für alle 3000 Titel gilt, was Jan Plewka unten in seinem Vorwort schreibt: Eine Band, ein Gitarrist, eine Sängerin haben diese Alben irgendwann losgelassen und damit der Welt ausgeliefert. Unter anderem mir.

Ich hoffe, ihnen öfter gerecht geworden zu sein, als ich insgeheim befürchte.

Matthias Wagner

„Streichle niemals einen brennenden Hund!“


Ich weiß gar nicht mehr, wer diesen Satz zu mir sagte oder wo es war. Aber er ist mir im Gedächtnis geblieben als ein gutes Bild dafür, wie ich nach einem Konzert mit Kritik umgehe.

Nämlich gar nicht!

Ich habe Jahre gebraucht, um zu lernen, dass man einem zu gesprächigen Konzertkritiker genau das sagen darf. Man darf sagen: Es ist gerade nicht der richtige Moment. Ja, man darf sogar weggehen. Aber manchmal, oh Wunder, entwickelt sich auch ein richtig gutes Gespräch aus der Kritik.

 

Im Grunde aber war und bin ich ein recht kritikunfähiger Mensch. Ich habe Kurse belegt und Freunde und Psychologen zu dem Thema befragt. Schließlich bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass es eine Zeit des Schaffens und eine Zeit der Kritik gibt.

Wenn ich die Arbeit an einem Album beendet habe, muss ich es loslassen. Es macht sich auf den Weg, um seine Hörer zu finden, und ich kann nichts mehr tun.

Hier kommen die Musikkritiker ins Spiel. Ich verstehe ihre Rolle als eine Art Vermittler. Im besten Fall erzählen sie dem Leser etwas über Künstler und Werk und machen ihn neugierig darauf. Die persönliche Meinung der Kritiker gibt es dann meistens dazu, und wenn diese weder gehässig noch kränkend formuliert ist, freue ich mich.

Natürlich ist man als Künstler den schreibenden Kritikern – im Gegensatz zum gesprächigen Konzertkritiker von oben – in gewisser Weise ausgeliefert. Aber das muss man akzeptieren. Denn in dem Moment hat die Kritik ja nur wenig mit mir, dem Künstler, zu tun. Sie ist für die Rezipienten da.

Als schaffender Mensch darf man sowieso nicht zu viel darüber nachdenken, wie die Arbeit, mit der man gerade beschäftigt ist, ankommen wird. Das ist für die Kreativität tödlich. Und in Momenten, wo ich es doch tue, sage ich mir: Wenigstens wird auf meinem Grabstein nicht stehen „Er starb bei dem Versuch, es allen recht machen zu wollen“.

Matthias Wagner ist einer der Kritiker, die mich über all die Jahre begleitet haben. Und alles, was er schrieb, hat mir gezeigt, dass ich richtig liege mit dem, was ich tue.

Jan Plewka Hamburg, im Oktober 2016

Jan Plewka (geb. 1970) gilt als einer der besten Rocksänger Deutschlands. Er wurde berühmt als Frontmann der Hamburger Band Selig


http://bit.ly/2fLww8q

Statistisches
Die meistrezensierten Künstler


Bob Dylan 28 x
Neil Young 20 x
The Rolling Stones 20 x
Johnny Cash 15 x
Pink Floyd 14 x
David Bowie 12 x
Nick Cave 12 x
Paul McCartney 11 x
Van Morrison 11 x
Klaus Schulze 10 x
Leonard Cohen 10 x
The Beatles 10 x
Bruce Springsteen 9 x
Grateful Dead 9 x
Mogwai 9 x
U2 9 x

Die meistvertretenen Plattenfirmen (1)


Sony Music 146 x
Warner/Wea 140 x
Virgin 109 x
EMI 103 x
Columbia 95 x
Universal 72 x
Polydor 64 x
Rhino 64 x
BMG 61 x
SPV 54 x
Rough Trade 52 x
Mercury 49 x

Die meistvertretenen Plattenfirmen (2)


Eastwest 48 x
EFA 44 x
Glitterhouse 44 x
Edel 37 x
Epic 30 x
Motor Music 29 x
Reprise 27 x
Cooking Vinyl 27 x
In-Akustik 26 x
Act Music 25 x
V2 25 x
PIAS 22 x

Die häufigsten Genres


Rock 954
Pop 788
Folk 548
Dance, Elektro 410
Jazz, Klassik 291
Black Music 115

Die extremsten Rezensionen


kürzeste Marcel: „Viginti EtDuo“, 1999
längste Roger Waters: „The Wall live in Berlin“, 1990
härteste Elvis Presley: „Viva Elvis – The Album“, 2010
hymnischste Antony & The Johnsons: „The crying Light“, 2009


3000 Plattenkritiken


1989–1995 490 Rezensionen
1996–2000 821 Rezensionen
2001–2005 762 Rezensionen
2006–2010 599 Rezensionen
2011–2016 436 Rezensionen

1989

„Wären da nur nicht diese Sonntagsschulentexte, die plagen bis zum letzten Song. I wonder why, Van.“

aus der Rezension zu „Avalon Sunset“ von Van Morrison

Bob Dylan
„Oh Mercy” (1989)

Bob Dylan war immer eine schillernde Figur. Bei den Fans hat er auf der langen Skala der Gefühle zwischen Entzücken und Empörung kaum eine Position ausgelassen. „Don’t follow leaders“ hieß die prägnante Essenz seiner Jahre als Kultfigur der Bürgerrechtsbewegung der 60er. Die, die ihn verehrten, haben sich in seinem Fall nie daran gehalten. Klar, das er sie vor den Kopf stoßen musste. 1965 griff er auf dem Wellenkamm der Folkprotestbewegung zur E·Gitarre, ließ surrealistische Wortgebilde von schwerem Rock umwogen und hatte ein Genre geschaffen: den Folkrock. Er hängte sich nie an Zeitgeistströmungen an – er schuf sie. Bis in die späten 70er hat uns der Poet aus Minnesota mit Alben beglückt, die in der Mehrzahl zum Grundstock der Populärmusik gehören, darunter Klangunikate wie „Desire“ oder das brillante Album „Blood on the Tracks“. Legendär auch seine Zusammenarbeit mit The Band oder die berühmte Konzertkarawane „Rolling Thunder Revue“ mit Größen wie Mick Ronson oder Roger McGuinn. In diesem Jahrzehnt aber ging es bergab mit dem einstigen Superstar. Der früher als „größter Dichter Amerikas“ Gefeierte verfiel missionarischem Eifer, ließ seinen Sound auf Mainstream trimmen. Flache Keyboards, süßliche Engelschöre und der einstmals originelle, inzwischen aber zur universal einsetzbaren Unverbindlichkeit verkommene Stil eines Mark Knopfler vergraulten die Fans. Man grämte sich nicht mehr über Dylans avantgardistischen Schritt voraus, sondern beklagte nun seine widerstandslose Vereinnahmung durch einen gehobenen Einheitssound. Zwar hat Dylan seinen Mut zur Veränderung oft genug bewiesen, doch warfen die letzten Platten ernste Zweifel auf. „Oh Mercy“ aber wischt sie beiseite – dank Daniel Lanois. Der Produzent aus New Orleans hat Dylans Musik zu den Wurzeln zurückgeführt, hat die introvertierten Songs in eine wohltuend erdige, sehr gitarrenlastige Instrumentierung gepackt, die „Oh Mercy“ zu einem unverwechselbaren Sound verhilft. Dylan selbst ist zwar noch immer vom Gauben beseelt, doch kehrt er ihn nur noch selten so plakativ heraus wie in „Ring them bells“. Ob Gospel oder Blues, ob schwelgerisch-elegisch („Most of the Time“) oder schwerblütig-rhythmisch („What was it you wanted?“): Die Musik des Teams Dylan/Lanois bleibt kraftvoll und erdverbunden. Die Platte präsentiert schnörkellos und direkt alle Qualitäten des Robert Allen Zinmermann: den hechelnden Gesang, die pointiert „falschen“ Betonungen, die spröde Schönheit seiner klagenden Mundharmonika. Und sie wartet auf mit einem der besten Dylan-Songs überhaupt: „Man in the long black Coat“, einer düsteren Geschichte um Liebe und Tod, beinah nekrophil und an Ambrose Bierce erinnernd. Lanois zaubert mit Grillengezirpe, hallenden Gitarreneffekten und Harmonika ein Wunder an Atmosphäre. „Courage is a thing of the past“, klagt Dylan im ersten Song dieser Platte, „Political World“. Ihn selbst muss man nach „Oh Mercy“ ausdrücklich davon ausnehmen. Ein erstaunliches Comeback eines ausgeruhten Künstlers, der anscheinend in jedem Jahrzehnt seinen Platz zu finden vermag.

 

The Rolling Stones
„Steel Wheels” (1989)

Klar: Solche Rockfossilien kann man als Spättwen nicht nur mit den Ohren der 80er hören. Eine neue Stones-Scheibe aufzulegen heißt auch, gerührt der knisternden Klassiker im Regal zu gedenken. Schließlich war „Satisfaction“ einmal die Hymne aller Unbefriedigten und somit ungefähr das wichtigste Stück der Welt – auch wenn man’s, wie ich, erst spät kennenlernte, weil bei der Erstveröffentlichung noch in dumpfer Kindheit musik- und ahnungslos dahindämmernd. Aber als pubertierender Teenager zu „Angie“ den Klammerblues getanzt zu haben, prägt fürs ganze Leben. Genau das jedoch macht es so schwer, „Steel Wheels“ gerecht zu bewerten: Man hat einfach zu viel im Kopf. Dennoch, selbst unter Berücksichtigung und anschließender Eliminierung dieses Faktums, klingt die Platte ziemlich fad. Das fängt beim leblos-nichtssagenden Außencover an, wird von einem brüllend erstarrten Mick Jagger auf der Innenhülle kurz revidiert, ehe die durchweg mittelmäßigen Tanzliedchen im immergleichen Takt den Eindruck bestätigen. Zwischendurch ein paar Balladen: mal angereichert mit Klassikgitarre („Almost hear you sigh“), mal mit juchzendem Hintergrundchor, dem man jedoch eine gewisse Selbstironie zugestehen könnte („Blinded by Love“). Aber Gänsehäute? Ewige Wahrheiten? Weder noch. Allenfalls der in karger Viererbesetzung eingespielte Hardrocker „Hold on to your Hat“ lässt erahnen, welche Energie und Kraft den englischen Rotzlöffeln der 60er einmal eigen war. Das Problem ist: Die Jungs von einst sind alt geworden, wollen aber partout noch up to date sein. Alle Songs sind darum modisch aufbereitet, es findet sich gar ein ganz im Trend liegender Ausflug in den Ethnobeat (kaschiert als Hommage an den lang verstorbenen Rolling Stone Brian Jones). Mick Jagger, Keith Richards, Charlie Watts, Bill Wyman und Ron Wood bilden nunmehr eine Rentnerband am Rande des musikalischen Mittelmaßes, die sich mit perfekter Routine über die Zeit rettet. Und weil die Kreativität längst flöten ist, Richards die genialischen Riffs und Jagger die zeitlosen Melodien ausgegangen sind (was ihnen nach 30 Jahren auch zugestanden sei), fügen sie der schier endlosen Reihe ihrer Klassiker keinen neuen hinzu. „All I want is ecstasy“, singen sie auf „Shipping away“ und werden ihrer ebensowenig teilhaftig wie wir. Immerhin: Sie waren einsichtig genug, diesen Song, einen melancholischen Exkurs über Vergänglichkeit, ans Ende zu stellen.

Tracy Chapman
„Crossroads” (1989)

Sie hatte eines der sensationellsten Plattendebüts der Popgeschichte: Rund zehn Millionen Exemplare ihrer schlicht „Tracy Chapman“ betitelten Scheibe wurden seit letzten Sommer verkauft – eine schier unerträgliche Hypothek für jedes Nachfolgewerk. Die junge Sängerin, die bis dahin in intimen Folkclubs die Saiten gezupft hatte, stand über Nacht im Rampenlicht, wurde herumgereicht, bestaunt, bewundert und beneidet. Plötzlich wollten sie alle, und wer Chapmans introvertierten Auftritt beim Mandela-Konzert in London gesehen hat, ahnt, wie fremd und unwirklich ihr dies vorkommen musste. Auf ihrer zweiten Platte „Crossroads“ tut sie darum das einzig Richtige: Sie thematisiert das Wunder ihres Erfolges, vor allem seine Schattenseiten. „Demons are on my Trail“ hat sie erkannt und meint all die Freundschaft nur heuchelnden Trittbrettfahrer des Ruhms. „Crossroads“ handelt von äußerer Bedrohung, von Verletztheit und von Verbitterung. Auf keinem der Coverfotos schaut Tracy Chapman uns an – als wolle sie so augenfällig machen, was sie im Song „Be careful of my Heart“ resigniert und trotzig zugleich bekundet: sich mehr Liebe für sich selber aufsparen zu wollen, statt sie an andere zu vergeuden. Natürlich fehlen auch die sozialkritischen Lieder im aufbegehrenden Duktus der 60er nicht: aggressionsgeladene Bestandsaufnahmen vom Leben in den Slums („Subcity“), Solidaritätsbekundungen für Nelson Mandela („Freedom now“) oder Attacken gegen Religion und weiße Dominanz („Material World“). Frappierend, wie sie zu zeitlos einfachen Melodien ganz schlicht nach „Gerechtigkeit“ verlangen kann, ohne sich je (wie etwa Sting, Simple Minds oder Bruce Springsteen) dem Verdacht eines modischen Betroffenheitsgestus auszusetzen. Wie auf der ersten Platte ist ihren mal persönlichen, mal politischen Balladen eine getragene Schwermut eigen, die, harmonisch und überwiegend akustisch instrumentlert, oft der Engagiertheit der Texte scheinbar zuwiderläuft. Doch genau diese Aura ist es, die sie bei aller Glätte der Produktion nicht scheitern lässt an der Erblast des genialen Erstlings. Tracy Chapman tat eben das einzig Richtige: zu reflektieren über das Jahr, das alles in ihrem Leben veränderte. Eine erneut meisterliche Platte also, die Rückzug und Isolation als Ausweg begreift, als letztes Mittel künstlerischen Überlebens. Eine konsequente Platte.