Die Kinder von Gairo

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Die Kinder von Gairo
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Matthias Weingarten

Die Kinder von Gairo

Eine italienische

(Familien) - Geschichte

Die Kinder von Gairo

Texte: Copyright by Matthias Sprißler

Umschlaggestaltung: Copyright by Matthias Sprißler

Verlag: Dr. Matthias Sprißler, Tübingen, www.sprissler.org

Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin

ISBN 978-3-8442-8883-4

Umschlagbild: Autor (Colonia penale, Castiadas)

Impero Nos Elianora peri sa Gracia de Deus Juyghissa d`Arbarèe Contissa de Gociani, et Biscòntissa de Basso, desiderando, chi sos Fidelis, e Sudditos nostros dessu Rennu nostrum d`Arbarèe siant informados de Capidulos, et Ordiamentos ….

Sa carta Logu, sa quali cun grandissimu, providimentu fudi fatte peri bona memoria de juyighi Mariani …

Carta de Logu

Sardinien 1392

Eleonora von Arborea

1 Rom, Februar 2012

Constituimus et ordinamus qui alcunu homini hochirit at alcunu atteru homini minando over correndo a cavallo in plaza, o in bia, o in campu, o in silva, o in attero modu qui cussu homini qui havirit mortu su dittu homini siat mortu si parit ver et simili assus bonus hominis et juígantis de sa Corona qui sientimente et cum animo deliberado de ilu appat mortu. (Kapitel 4, Carta de Logu)

Es war ein klarer Frühlingsmorgen im spätwinterlichen Rom. Die Glockenschläge der nahen Kirche San Agostino waren gerade verklungen. Giulia Fasano sah bereits von ihrem Bett aus, dass der Nebel der vergangenen Tage einem hellen Vorfrühlingslicht gewichen war. Als die ersten Strahlen der noch tief im Osten stehenden Sonne durch eine schmale Häuserlücke zwischen den goldfarbenen Gardinen in ihr kleines Appartement im dritten Stock eines Wohnhauses hinter der Piazza Navona auf die Wand ihres Schlafzimmers trafen, fiel ihr das Aufstehen leicht. Erst vor wenigen Tagen war sie angesichts des schon seit Silvester andauernden trüben Wetters in etwas gedrückter Stimmung aus Venedig, wo sie ihre Eltern und väterlichen Großeltern besucht hatte, mit der Bahn nach Rom zurückgekehrt. Seit einem Jahr wohnte sie nun schon die meiste Zeit des Jahres hier, nachdem sie an der alten Universität „La Sapienza“ ihr rechtswissenschaftliches Studium aufgenommen hatte. Engagiert hatte sie mit dem Besuch der Vorlesungen begonnen, ihr Ideal war die Gerechtigkeit, ihr Berufsziel Richterin. Sie hatte sich für diese Ausbildung entschieden, obwohl ihr Vater Matteo, selbst Richter in Venedig, ihr dieses Fach nicht nahegelegt, sondern ihr freie Hand gelassen hatte. Ihr Studienplan sah für diesen Morgen erstmals den Besuch der fakultativen Vorlesung in mittelalterlicher Rechtsgeschichte bei Professor Caparelli vor.

Sie verließ ihr Bett, öffnete das Fenster und atmete tief die Luft ein, die schon einen Hauch von Frühling enthielt. Als sie dann über den Häusern den fahlblauen Himmel erblickte, der sich über die noch ruhige Stadt erstreckte, waren die drückenden Gefühle der vergangenen Tage vollends verschwunden.

Giulia beschloss, nicht zuhause zu frühstücken, sondern sich rasch auf den weiten Fußweg zur Universität „La Sapienza“ zu machen und möglichst viel von der klaren Morgenluft und dem hellen Licht zu genießen. Gerne war sie bereit, das Haus hierfür schon früher zu verlassen und auf die Benutzung des um diese Tageszeit qualvoll engen orangen ATAC-Linienbusses zu verzichten. Für ihr Frühstück plante sie eine Pause im Centrale, einer klassischen Kaffeebar in der Via del Tritone, ein.

Nach einer belebenden Dusche schlüpfte sie, stets sorgfältig auf ihr Erscheinungsbild bedacht, in ihre dunkelblaue Jeans und ein weißes T-Shirt, über das sie einen dick wattierten schwarzen Daunenanorak zog. Sie würde nie verstehen, weshalb sie von den aus nördlicheren Ländern stammenden, bereits beim ersten Sonnenstrahl des Südens im Kurzarmhemd bummelnden Touristen, wegen ihrer Jacke regelmäßig staunend und mit fast vorwurfsvollen Blicken gemustert wurde. Sie nahm ihre hellbraune flache Lederumhängetasche mit Collegeblock und Stiften und legte ihr Smartphone zu Geldbeutel und Haarbürste ins Seitenfach. Bevor sie ihr Appartement verließ, fuhr sie vor dem großen Spiegel mit dem verschlungenen Goldrand in ihrem Schlafzimmer ein letztes Mal mit Kamm und Bürste durch ihre schulterlangen, dunkelbraunen und leicht gelockten Haare.

Vom Haus in der Via dei Pianellari 17a brauchte sie nur wenige Meter zurücklegen, um in das erwachende Rom einzutauchen, in die wachsende Menge der mit glänzenden Lederschuhen und Krawatten herausgeputzt bedächtig und aufrecht sich ihrem Arbeitsplatz nähernden Männer und der in hohen Stiefeln und mit falschem Pelz besetzten Mänteln den Büros und Geschäften entgegenhastenden Frauen. Aufgewachsen in den Touristenströmen Venedigs und gewohnt an die ab neun Uhr sich vom Petersdom aus über die Stadt ergießenden Asiatenströme waren es für Giulias Empfinden um diese Zeit die ruhigeren Stunden in Rom. Es waren die Zeiten, in denen man beim Gehen auch anderen Gedanken nachhängen konnte, ohne ständig auf menschliche Hindernisse zu achten, die aus nicht vorhersehbaren Gründen unvermittelt stehen blieben, um wieder ein Stück Rom mit immer leistungsfähigeren Fotoapparaten oder gar fotografierenden Laptops in Bits und Bytes zu verwandeln.

Zunächst blieb sie in den kleinen Straßen abseits der großen Verkehrswege, bevor sie nach Überquerung der Via del Corso, wo sie in ihren Gedanken durch dröhnende Vespas, dichten Verkehr und laute Busse erstmals gestört und in den Kreislauf der Stadt mit ihrer allgegenwärtigen zweitausendjährigen Geschichte zurückgeholt wurde, die Wachhäuschen um die Plätze beim Senatsgebäude passierte. Der Schatten des nahen Obelisken wies ihr den Weg weiter zur ansteigenden Via del Tritone. Sie nahm diesen Umweg nicht nur wegen der besten Cornetti zum Frühstück in Kauf, sondern auch wegen ihrer sorgenvollen Gedanken an Nonna Teresa, ihre mütterliche Großmutter, die, immer noch allein in ihrem Häuschen in Donnini oberhalb des Arno bei Florenz lebend, in den letzten Wochen immer öfter über Rückenschmerzen geklagt hatte.

Als Giulia auf halber Höhe der Via del Tritone „ihre“ Kaffeebar „Sole Romano“ erreicht hatte, gerieten diese Gedanken schnell in Vergessenheit, als sie der um diese Morgenstunde regelmäßig dort arbeitende Marco mit fröhlichem Lachen und den Worten „wie immer?“ begrüßte. Noch bevor sie antworten konnte stellte er an ihren Lieblingsplatz am hinteren Ende der langen, glänzend sauberen Mahagonitheke, ein frisches, noch warmes Cornetto con crema und einen dampfenden Cappuccino mit prächtigem, den Rand der Tasse übersteigenden Milchschaum. Immer wenn sie hier war, und sie kam in den letzten Wochen gerne und häufiger hier vorbei, erschien es ihr, dass Marco gerade sie mit einem besonderen Strahlen seiner Augen begrüßte. Einerseits gefiel ihr dies und ließ ihr Herz schneller schlagen, andererseits versuchte der rationale Ungeist in ihr, sie zu verunsichern und ihr einzureden, dass Marcos Strahlen schlicht die Freundlichkeit eines Barista war, die dieser auch jedem anderen Kunden entgegenbrachte und die Grundlage für das Florieren auch kleinster und unscheinbarster Kaffeebars war.

Auch heute war Marco wieder bester Laune; da er an diesem Tag durch eine Kollegin unterstützt wurde, konnte er sich sogar für wenige Minuten Giulia zuwenden. Zu ihrem Erstaunen fragte er sie in seiner jungenhaften und offenen Art unvermittelt und ohne Umschweife: „Na, was bewegt dich denn so, dass du mir von unsichtbaren Sorgenwolken am hellblauen Morgenhimmel umgeben erscheinst“. Giulia zögerte kurz, dann berichtete sie ihm in wenigen Worten von ihren Gedanken an Nonna Teresa.

Bevor er sich neuen Gästen zuwenden musste, empfahl ihr Marco mit verständnisvollen Worten „zünde doch einfach gleich eine Kerze in Santa Maria della Victoria bei `der heiligen Teresa´ an!“. Giulia war tief berührt – Marco sprach, ohne es zu wissen, ihre eigenen Gedanken aus, hatte sie doch auch aus diesem Grund den Umweg über die Via del Tritone gewählt. Sie legte einen 5-Euro-Schein auf die Theke, verließ schnell die Bar und war schon zwei Häuser weiter, als Marco noch immer über das unerwartet große Trinkgeld, das Frühstück hätte nur zwei Euro neunzig gekostet, staunte und ihr mit unübersehbaren Falten auf der Stirn nachschaute.

Sie überquerte die schon stark befahrene Piazza Barbarini und folgte der gleichnamigen Straße für einige hundert Meter. Am oberen Ende der Straße angelangt, trennten Giulia nur noch wenige Schritte von der eher unauffällig wirkenden Kirche Santa Maria della Vittoria. Giulia öffnete die Tür, hielt kurz inne, um ihre stark getönte Sonnenbrille ins Haar zu schieben und sich an das kühle Halbdunkel des Kirchenraums zu gewöhnen, und eilte dann zielstrebig das linke Seitenschiff entlang zum dortigen Altar im Querschiff. Die Kirche war werktags um diese Zeit kaum besucht, wenn nicht gar menschenleer. Auch heute verloren sich hier nur zwei alte Frauen mit Kopftuch aus einer vergangen scheinenden Zeit, bei deren Anblick Giulia aber unweigerlich an ihre Großmutter denken musste, um derentwillen sie die Kirche aufgesucht hatte. Außer diesen beiden Frauen und ihr befand sich in den Bänken vor dem Seitenaltar nur noch eine kräftige Frau mit einfachem Mantel, die neben sich eine große Tasche abgestellt hatte, offensichtlich schon um diese Zeit vom Markt kommend.

Als Giulia den Seitenaltar erreicht hatte wurde sie, wie bei jedem ihrer stillen Besuche hier, vom strahlenden Glanz der Altarfigur überwältigt. Engelsgleich, aus glänzend weißem Marmor filigran gehauen, stand die von Bernini schon Jahrhunderte zuvor genial geschaffene Teresa von Avila vor ihr. Schon oft hatte sie sich gefragt, warum das Interesse der unzähligen Besucher Roms sich fast ausschließlich auf Michelangelos Petrus und seine Pieta im Petersdom oder den gewaltigen und urtümlicher wirkenden Moses in St. Pietro in vincoli konzentrierte, während Berninis Teresa ein eher ruhiges Leben in Stein genießen konnte. Sie kam zu dem Schluss, dass es wahrscheinlich keine künstlerische Geringschätzung durch die großen Touristenmassen war, sondern eher auf Unkenntnis und die ein wenig abseitige Örtlichkeit zurückzuführen war.

 

Nach diesen eher profanen Gedanken setzte sich Giulia in eine der kleinen Holzbänke, um im stillen Gebet für noch einige erträglich gesunde Jahre der von ihr so geschätzten Großmutter zu bitten. Soweit ihre Erinnerung in Kindheitstage zurückreichte, Nonna Teresa stand wie ein Fels in der Brandung, immer dunkel, aber sorgfältig gekleidet, immer aufrecht und stets voller anteilnehmender Aufmerksamkeit ihr gegenüber. Giulia bewunderte die Güte ihrer Großmutter, ihre Dankbarkeit und ihren Rückhalt im Glauben umso mehr, als Teresa schon seit 42 Jahren Witwe war und in den ersten Jahren nach dem tragischen Unfalltod ihres Mannes Alberto Polo fast rund um die Uhr für sich und ihre damals gerade zwei Jahre alte Tochter Maria, Giulias Mutter kämpfen musste. Nur so konnte sie das kleine Haus im Ortskern von Donnini, in dem schon sie selbst aufgewachsen war, halten. Giulias Mutter Maria Polo war im August 1968 geboren, nachdem Teresa wenige Tage vor Weihnachten 1967 Alberto Polo geheiratet hatte. Alberto Polo war als Maurer nur wenige Wochen zuvor in den Ort gekommen, angeworben von dem oberhalb des Ortes liegenden großen, schon seit Jahrhunderten existierenden, fast fürstlich und herrschaftlich ausgeprägten Landgut, der Fattoria Pitiana, zur Ausführung dort dringend nötiger Reparaturarbeiten an der zum Arnotal weithin sichtbaren prächtigen Renaissancefassade und dem angebauten Natursteinturm. Es war die sprichwörtliche Liebe auf den ersten Blick, die Teresa Olivetti und Alberto Polo schon wenige Wochen danach vor den Altar der kleinen romanischen Kirche Pieve in Pitiana, still in den sich über die weiten Hänge erstreckenden Haine oberhalb des Arnos gelegen. Anders als die süditalienischen, apulischen Olivenbäume waren die Olivenbäume hier eher schlanker, größeren Apfelbäumen gleich. Ihr silbriges Laub konnte im nördlicheren toskanischen Sonnenlicht auch nicht dasselbe hell-silbrige Glitzern erzeugen wie die knorrigen, vielfach im eigenen Stamm verschlungenen älteren Bäume weiter im Süden. Unter solchen Bäumen hatte sie nach der Trauung an diesem auffallend milden Dezembertag in der kleinen Kirche mit ihrer Familie und den wenigen angereisten Verwandten ihres Mannes noch gesessen und gefeiert, nachdem sie sich zuvor vor der damals kahlen Kirchenwand das Jawort gegeben und den kirchlichen Segen erhalten hatte, einschließlich ihrer gerade acht Monate später geborenen Tochter Maria. Teresa hatte sich knapp zweieinhalb Jahre später, als ihr geliebter und treu sorgender Alberto den hohen Sturz vom schlecht und billig befestigten Gerüst über dem Haupteingang des Palastes der Villa Pitiana auf deren Freitreppe vor eine der großen Bogentüren, die allabendlich den Blick in die von einem voluminösen, vielflammigen Muranoglas-Kronleuchter erhellte Eingangshalle mit ihrer noch erhaltenen Renaissance-Wandbemalung freigab, gestürzt und noch dort seinen schweren Verletzungen erlegen war, oft gefragt, ob das Jawort vor der kahlen Wand nicht bereits ein schlechtes Vorzeichen war. Erst 32 Jahre nach ihrer Hochzeit, als bekannt wurde, dass den dreisten Diebstahl des von seiner tiefen, etwas dunklen Farbwirkung und klaren Linienführung geprägten Tafelbildes der Rosenkranzmadonna mit Jesuskind zwischen hl. Johannes und hl. Augustinus von Rudolfo Ghirlandaio, das bis zum Diebstahl 1946 die Wand geschmückt hatte, kein geringerer als der damalige Pfarrer verübt hatte und das Bild nach einer Razzia der Carabinieri bei einem Florentiner Kunsthändler gefunden und zurückgebracht werden konnte, verschwanden die abergläubischen Gedankenspiele aus ihrem Denken. In den ersten Jahren danach musste Teresa ihre kleine Maria fast den ganzen Tag bei ihrer Mutter Chiara lassen, um selbst als Landarbeiterin auf den umliegenden Höfen das Nötigste zum Lebensunterhalt zu verdienen. Ihre eigene Mutter Chiara konnte ihr keine materielle Hilfe sein. Sie war damals selbst schon seit 17 Jahren Witwe und nur mit viel Einsatz und ununterbrochener Arbeit in dem kleinen Laden, den sie im Wohnzimmer des winzigen, zweigeschossigen Häuschens an der von Sant` Ellero durch Donnini zum Landgut Donnini und weiter hinauf zum hoch in den toskanischen Wäldern gelegenen Kloster Vallombrosa führenden Landstraße gegenüber der Kirche von Donnini eingerichtet hatte, konnte sie sich über Wasser halten. Das Haus hatte sie nach dem frühen Tod ihres Mannes, Stefano Olivetti, erworben, nachdem sie den kleinen, aber auskömmlichen Olivenhof ihres Mannes Stefano zu einem Schleuderpreis an den mächtigen, für einen Teil der Bevölkerung angesehenen, aus der Sicht vieler Bauern aber charakterlosen Grundbesitzer Massimo Moretti aus dem benachbarten San Donato Fronzano verkaufen musste. Chiara war es damals nicht verborgen geblieben, dass Moretti jeden, der ein besseres Angebot unterbreiten wollte, durch seine Arbeiter massiv hatte einschüchtern lassen.

So über ihre Großmutter Teresa sinnierend merkte Giulia nicht, dass der Beginn ihrer Vorlesung schon greifbar nahe gerückt war. Erst der metallische Schlag der Kirchturmuhr ließ sie zusammenzucken. Schnell warf sie eine Euromünze in den in die Wand sicher eingelassenen Opferstock, nahm eine der schlanken weißen Kerzen aus der daneben stehenden Schale, entzündete sie an einer weiteren, bereits für die Bitten eines anderen Gläubigen brennenden Kerze und steckte sie auf eine freie Metallspitze des mit vielen Wachstropfen befleckten großen Kerzenständers. Danach eilte sie nach einer nur noch angedeuteten Kniebeuge schnellen Schrittes zum Ausgang.

Die nächsten zehn Minuten musste sie eine beachtliche Geschwindigkeit entwickeln, die leicht abwärts zum Hauptbahnhof Termini führende Strecke legte sie fast joggend zurück. Erst wenige Minuten vor zehn Uhr erreichte sie das hinter dem Bahnhof gelegene Universitätsgelände. Weitere Minuten verlor sie in der Zeit, die sie damit zubrachte, der umlaufenden universitären Umfassungsmauer bis zum Haupteingang an der Piazzale Aldo Moro, erst vor einigen Jahren nach einem ermordeten Politiker der Democratia Christiana benannt, zu folgen. Mit dem Zehnuhrschlag einer der benachbarten Kirchen erreichte sie dann das fast im Zentrum der „La Sapienza“ an der Ecke eines zu Ehren der römischen Göttin Minerva benannten Platzes die breite Eingangstreppe des Gebäudes der juristischen Fakultät.

Im kleinsten Hörsaal ließ sie sich in einer der hinteren Reihen nieder, die Plätze waren nur spärlich besetzt. Die meisten ihrer Kommilitoninnen hatten sie eher belächelt, ohne dies böse zu meinen, als sie davon sprach, die Vorlesung in mittelalterlicher Rechtsgeschichte zu besuchen. Dem einen Teil dieser Mitstudenten erschien bereits der greise Professor Caparelli ein rechtsgeschichtliches Relikt, der andere Teil zog betriebswirtschaftliche Nebenfächer der Beschäftigung mit längst vergangenen Rechtskulturen als zeitgemäßer vor. Während Giulia so auf das Erscheinen des Professors wartete und ihren Collegeblock auf der schrägen Tischplatte der Hörsaalbestuhlung zu fixieren versuchte, hatte sie zunächst nicht einmal bemerkt, dass auf dem Nachbarplatz eine andere Studentin, etwas kleiner als sie, schulterlanges tiefschwarzes Haar, knielangem dunkelblauen Wollrock und einer mit Blumen in zarten Pastelltönen dezent gemusterten Bluse Platz genommen hatte.

2 Baunei, Sardinien, Frühjahr 1959

Et si cussu homini qui adi haviri mortu su dictu homini gasi minandu cavallu comenti est naradu desupra no l`averit mortu a voluntadi sua et siat istadu disastro. (Kap. 4, Carta de Logu)

Seit über zwanzig Jahren schon tat Antonio Cotto bei den Carabinieri in Baunei seinen Dienst. Damals hatte er sich entschieden, die Großstadtkaserne in Cagliari gegen eine kleine Carabinieristation in den einsamen Bergen der sardischen Ostküste zu tauschen. Inzwischen war er mehrfach befördert worden und war nun als Capitano Chef der kleinen Truppe in Baunei. Mit „Truppe“ pflegte er die freundschaftlich verbundenen vier Beamten, einschließlich sich selbst, zu bezeichnen, die die Staatsgewalt in Baunei repräsentierten. Im Ort selbst, einem eng und dicht bebaut an den steilen, nach Süden abfallenden Hang gepressten Straßendorf, genoss er großes Ansehen. Bei den Männern im Ort war er längst „Toni“ geworden. Dank seiner bodenständigen Art und seiner natürlichen Autorität gelang es ihm meistens, kleinere Vorfälle bei einem Glas Wein in der Bar gegenüber dem umzäunten Carabinieri-Dienstgebäude, in dem er und seine Kollegen ihr Büro und zugleich mit ihren Familien auch die Dienstwohnungen hatten, unbürokratisch und ohne die ihm lästigen Schreibarbeiten, zu regeln.

An diesem Morgen saß Toni wie üblich in seinem Büro und wartete darauf, dass der Briefträger - hoffentlich ohne Post – zu der morgendlichen Unterhaltung über die Neuigkeiten im Ort vorbeikam. Solange die meist geschotterten Wege noch mit den tiefen Pfützen der letzten Frühlingsregen versehen waren, wollte er es möglichst vermeiden, durch übermäßige Streifenfahrten den dunkelblauen, frisch gewaschenen Dienst-Fiat und seine blank glänzenden schwarzen Uniformstiefel unnötig einer zusätzlichen Pflegeaktion unterwerfen zu müssen.

Die Tür zur Straße stand weit offen, so dass der Rauch seiner morgendlichen Zigarette – zu Hause hatte er sich das Rauchen im letzten Jahr abgewöhnt – in den kühlen Frühlingsmorgen hinausziehen konnte. Als Toni aufstand und zur Tür ging, wollte er eigentlich nur die weite Aussicht hin den tief blauen Buchten des Meeres bei Tortoli genießen. So stellte er sich den Blick aus einem der Flugzeuge vor, die seit kurzem einmal in der Woche im Anflug auf Cagliari im Sinkflug den Horizont passierten.

Heute allerdings wurde er schnell gestört. Kaum war er vor der Tür, stürmte bereits sein Freund Michele von der kommunalen Forstbehörde fast im Laufschritt durch die Zauntür zum Eingang der Wache. Toni war sofort klar, dass seine bis dahin nicht unberechtigte Hoffnung auf einen ruhigen Tag sich in wenigen Minuten zerschlagen würde, wenn Michele seinen sonst stets bedächtigen, dem gleichmäßigen Steigen im waldigen Gelände geschuldeten gleichmäßigen Schritt durch fast hektisch wirkende Laufschritte ersetzt. Noch bevor ihm Toni die Hand zur Begrüßung entgegenstrecken konnte, rief ihm Michele hastig entgegen: „Eine Leiche, Toni, eine Leiche, hier in unserem Wald!“

Toni legte seine Hand auf Micheles Schulter und führte ihn schweigend ins Büro. Nachdem er dann noch die Flasche Mythenlikör nebst zwei Gläsern aus dem Regal genommen und eingeschenkt hatte, forderte er Michele zum Berichten auf.

„Ich bin am frühen Morgen auf der schmalen Straße, über die im letzten Sommer erstmals auch einige wenige Urlaubsreisende von Norden her in den Ort gekommen waren, darunter auch zwei Deutsche mit einem Volkswagen Käfer, dem ersten, dem ich in meinem Leben begegnet war, hinauf zum Pass gegangen.“ „Bitte Michele, komm zur Sache, du wirst mir doch nicht berichten wollen, wann du den ersten Volkswagen gesehen hast, oder?“ unterbrach in Toni. „Schon gut, Toni, wir kommen schon gleich zum Problem. Kurz vor Erreichen der Passhöhe bin ich, nach einem letzten Blick nach links weit in den Süden und zurück zum Ort, bin ich nach rechts in den niedrigen Wald abgebogen und habe mich zwischen den Kiefern und immergrünen Büschen durchgezwängt, um die letzten Kehren der Straße auf einem schmalen Fußweg abzukürzen. Wahrscheinlich war ich der erste Mensch seit langem hier oben“. „Bitte Michele, ich habe zu tun“, unterbrach ihn Toni erneut. Dass sich Michele in den letzten Jahren häufig um die brandgefährdeten Wälder unterhalb des Passes zum Ort hin kümmern musste und er daher immer wieder auch in ungünstigeren Jahreszeiten hoch in die Berge musste, war ihm hinlänglich bekannt. „Gut, nun kommt`s. Beim Austreten ist mir dann ein Ledergurt am Boden aufgefallen, halb durch einen der großen, hier verstreut liegenden hellgrauen Felsbrocken verdeckt. Der Ledergurt wiederum hing an einem löchrigen, vom Wasser angegriffenen Lederbeutel, neben dem ich als erfahrener Jäger Knochen erkennen konnte, die ich, eigentlich vor allem wegen des Lederbeutels, als menschliche Handknochen identifizieren würde. In der näheren Umgebung fand ich, wohl von Tieren verstreut, weitere Knochenreste und kleinere Stoffreste.“ „Hast du irgendetwas verändert?“, fragte Toni in dienstlichem Ton dazwischen. „Nein, natürlich vorsichtshalber nicht. Nur den Lederbeutel habe ich mitgenommen, nachdem ich seine genaue Fundstelle mit einem Stock markiert habe.“ Zum Ende dieses Berichts holte er den Lederbeutel aus dem Rucksack und legte ihn auf den Besprechungstisch im Büro. Damit sah dann Michele auch seine in diesem Fall grausige Bürgerpflicht erfüllt, erhob sich und entfernte sich mit einem knappen Ciao schnell in die gegenüberliegende Bar.

 

Toni lehnte sich zurück, zündete sich die erloschene Zigarette wieder an, nahm einen tiefen Zug und begann zu überlegen, was angesichts dieses in Baunei bisher einmaligen Vorfalls nun zu tun wäre. Einerseits spielte er mit dem Gedanken, möglichst sofort seinen Vorgesetzten in Tortoli zu unterrichten – oder müsste er gar Cagliari telegraphisch benachrichtigen? -, andererseits könnte es aber auch vorteilhafter sein, möglichst lange autonom tätig zu werden, bevor irgendwelche Kollegen aus der Stadt hierherkommen würden und seinen bis vor wenigen Minuten beschaulichen Alltag unter die Lupe nehmen könnten.

Seiner inneren Stimme, die ihm noch nie falsch geraten hatte, folgend, entschied er sich für die zweite Möglichkeit. Zunächst war also schlicht Ruhe zu bewahren. Der Beutel war sichergestellt, die Knochen abseits des Weges verstreut, die Gefahr eines neuerlichen Aufeinandertreffens eines Passanten mit den Knochen völlig unwahrscheinlich. Eigentlich war also zunächst nichts von größerem Aufwand zu tun, selbst das Protokoll konnte noch warten. Natürlich müsste er ermitteln, wer der oder die Tote war; da aber im Ort und auch unten im Tal in Tortoli niemand vermisst wurde, schien ihm diese Aufgabe zwar irgendwann als zur Erledigung notwendig, aber jedenfalls nicht dringlich. Einzig der Inhalt des Beutels sollte ein Nachschauen wert sein, vielleicht war darin sogar gleich die Lösung des Falls enthalten.

Der Beutel war nur lose verschnürt gewesen, die Schnur weitgehend aufgelöst. Vorsichtig öffnete Toni den Beutel, der ursprünglich sicher sorgfältig genäht worden war und auf dessen Vorderseite er die Spuren eines ins Leder eingebrannten „E“ zu erkennen meinte. Fast war er etwas enttäuscht, als er nur drei Gegenstände ans Licht befördern konnte: Ein kleines Stück Korkeichenrinde mit eingeritzten vier kleinen und zwei größeren Herzen, allesamt einen Kreis bildend; ein fast stumpfes, verbogenes und angerostetes Besteckmesser, dessen Riffelung am Griff er mit einer lange zurückliegenden Erinnerung verband, die er allerdings nicht sogleich zuordnen konnte; schließlich, was ihn doch überraschte, ein kleines, handgroßes Notizbüchlein, das allerdings von der Rückseite her erheblich unter den Umwelteinflüssen gelitten hatte.

Während er Messer und Korkrinde in einen Briefumschlag beförderte, legt er das Notizbuch auf seinen Schreibtisch, nahm auf dem dahinter stehenden wackligen Holzstuhl Platz, stützte den Kopf auf und begann vorsichtig damit, Seite um Seite umzublättern.

„Castiadas, 7. Oktober 1949

Nun ist bereits ein Monat vergangen, seit mich meine liebe Chiara zuletzt besuchen konnte. Ich weiß nicht, ob sie ihr überhaupt gesagt haben, wo ich nun bin und warum sie mich nicht mehr besuchen kann. Seit einer Woche sind wir nicht nur durch Mauern getrennt, auch die Weiten des tyrrhenischen Meers liegen nun, unüberbrückbar, zwischen uns. Ich habe mich dazu entschieden, den letzten Strohhalm zu ergreifen, um der lebenslangen HaFt Für eine nie begangene Tat dadurch zu entgehen, dass ich einer Umwandlung der HaFt in FünFzehn Jahre StraFkolonie im sardischen SumpFland zugestimmt habe. Mir war durchaus bewusst, dass dabei schon lange vor dem Ende der meiner Zeit in der Kolonie der Tod dem ganzen Schrecken ein Frühes Ende bereiten kann, einen Nachteil gegenüber dem Leben als seelisch Toter im Sarg des GeFängnisses erschien es mir eher als Vorteil. Nach den vergangenen Monaten im Kerker habe ich die HoFFnung auF ein Wiedersehen in unserer geliebten Heimat auFgegeben. Den letzten Funken HoFFnung verbinde ich dennoch mit der StraFkolonie, wer arbeiten muss, kann nicht ständig hinter dicken Mauern sein.“

Für einen Augenblick unterbrach Toni die Lektüre. Irgendetwas stimmte nicht. Erneut las er die letzten Sätze. Dann fiel es ihm auf: Der Schreiber des Tagebuchs verwendete nie das kleingeschriebene „f“, sondern stets – egal ob zu Wort- oder Satzbeginn oder mitten im Wort, nur das große „F“. Eine Erklärung konnte er sich nicht vorstellen, er vermutete einen schon aus Schülerzeiten übernommenen Fehler, bevor er das Tagebuch weiterlas.

„Nach der ÜberFahrt nach Cagliari im stinkenden Frachtraum eines Marine-VersorgungsschiFFes und einer Fast ganztägigen Fahrt auF der LadeFläche eines alten Militärlasters über ungezählte Berge sind wir, damit meine ich mich und FünF andere, beängstigend starke Männer, am Rand einer vom Meer her kommenden Ebene, kurz vor dem Beginn des Gebirges angekommen. Nach dem Absteigen, Fast wäre ich wegen der schweren Ketten an Füßen und Händen heruntergefallen, stand ich vor meiner neuen Heimat, der colonia penale. Zwei Fast palastartig wirkende, rötlich gestrichene, zweistöckige lange Gebäude, verbunden durch ein hohes Gittertor, sprachen einen stillen Willkommensgruß. Der Blick über den weiten Vorplatz, hinüber über die Flirrende Luft mit dunklen Mückenschwärmen über dem SchilF in Richtung Meer, wurde mir schnell genommen. Noch am gleichen Abend musste ich meine Zelle beziehen: In der Breite kaum körperlang, die Länge kaum die Breite übersteigend, ein Metalleimer in der Ecke, eine SteinstuFe als Lagerstatt, statt eines Fensters eine nach oben abknickende Öffnung in der Decke, die zwar etwas Tageslicht hereinließ, den Blick in den irdischen Himmel aber unmöglich machte und mir nur den Glauben an den göttlichen Himmel ließ. Falls es diesen Himmel überhaupt noch gab, für mich, den Gottverlassenen, zu Unrecht verFolgten. Nur das Wissen um Deine Treue, Dein Vertrauen zu mir und in meine Unschuld, lassen mich noch hoFFen und an Versuche, das Schicksal zu ändern, denken ...“

Toni unterbrach seine Lektüre an dieser Stelle. Er war erschüttert. Die Knochen stammten offensichtlich von einem Gefangenen, woher auch immer er kam, wer auch immer er war. Er wusste nicht, was für ein Mann der Tagebuchschreiber war. War er ein Schwerverbrecher? War er unschuldig? Er wusste es nicht – und nach dem Tod spielte diese Frage jetzt für ihn auch keine Rolle mehr. Bohrend und schmerzend drängte sich unvermittelt die Vorstellung in sein Gehirn, nach Dienstende nicht mehr nach Hause zu kommen, seine Frau Pia, seine Kinder und den geliebten ersten Enkel nie mehr wieder zu sehen. Der Gedanke verursachte schon fast körperlichen Schmerz. Erst einem weiteren Glas Likör war es zu verdanken, zu nüchternen Gedanken zurückzukehren. Er beschloss, per Post bei der Justizverwaltung in Cagliari, die die letzten Gefangenen und Akten aus Castiadas übernommen hatte, nachzufragen. Castiadas – dies war der Name, nach dem er vorhin beim Blick auf das Messer in seiner Erinnerung vergeblich gesucht hatte. Castiadas, die letzte italienische Strafkolonie, im 19. Jahrhundert zur Trockenlegung der malariaträchtigen Sümpfe an der Ostküste zwischen Villasimius und Muravera gegründet, bis zu seiner allmählichen Schließung (ab 1952 bis 1955) noch zur „Versorgung“ von Schwerstverbrechern bestehend. Castiadas, in dem er kurz vor Beginn des zweiten Weltkriegs als junger Gefreiter der Carabinieri für einen stürmischen Winter und einen heißen Sommer zum Wachdienst für die außerhalb der Kolonie stehende Villa des Leiters abgestellt war. Castiadas – das damals schon auf den ersten Blick genau dem Bild entsprach, das er sich in seiner Phantasie als Schüler beim Lesen von in Süd- oder Mittelamerika spielenden Abenteurer-, Eroberer- und Landbesitzerromanen von dortigen Lagern, Verließen und Kerkern gemacht hatte. Ein erneutes Schaudern unterdrückte er durch den Entschluss, nun auf Streife zu gehen und dabei seinen Enkelsohn mit einem Becher frischen Eises aus der Bar zu beglücken und strahlen zu sehen.