Kritik der digitalen Unvernunft

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Aus der Reihe: update gesellschaft
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Kritik der digitalen Unvernunft
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Matthias Eckoldt

KRITIK DER DIGITALEN UNVERNUNFT

Warum unsere

Gesellschaft auseinanderfällt

2022


Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Witten/Herdecke)

Prof. Dr. Ulrich Clement (Heidelberg)

Prof. Dr. Jörg Fengler (Köln)

Dr. Barbara Heitger (Wien)

Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp (Merseburg)

Prof. Dr. Bruno Hildenbrand (Jena)

Prof. Dr. Karl L. Holtz (Heidelberg)

Prof. Dr. Heiko Kleve (Witten/Herdecke)

Dr. Roswita Königswieser (Wien)

Prof. Dr. Jürgen Kriz (Osnabrück)

Prof. Dr. Friedebert Kröger (Heidelberg)

Tom Levold (Köln)

Dr. Kurt Ludewig (Münster)

Dr. Burkhard Peter (München)

Prof. Dr. Bernhard Pörksen (Tübingen)

Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Dr. Wilhelm Rotthaus (Bergheim bei Köln)

Prof. Dr. Arist von Schlippe (Witten/Herdecke)

Dr. Gunther Schmidt (Heidelberg)

Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt (Münster)

Jakob R. Schneider (München)

Prof. Dr. Jochen Schweitzer (Heidelberg)

Prof. Dr. Fritz B. Simon (Berlin)

Dr. Therese Steiner (Embrach)

Prof. Dr. Dr. Helm Stierlin † (Heidelberg)

Karsten Trebesch (Berlin)

Bernhard Trenkle (Rottweil)

Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler (Köln)

Prof. Dr. Reinhard Voß (Koblenz)

Dr. Gunthard Weber (Wiesloch)

Prof. Dr. Rudolf Wimmer (Wien)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Themenreihe »update gesellschaft«

hrsg. von Matthias Eckoldt

Umschlagentwurf: B. Charlotte Ulrich

Redaktion: Uli Wetz

Layout und Satz: Heinrich Eiermann

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2022

ISBN 978-3-8497-0415-5 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8359-4 (ePUB)

© 2022 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 · 69115 Heidelberg

Tel. +49 6221 6438-0 · Fax +49 6221 6438-22

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Inhalt

Prolog

1Typografische und algorithmische Vernunft

2Digitale und narzisstische Selbsterregung

3Die Hintergrundrealität

4Wunschungewissheit mit Dopaminkick

5Profitmaximierung durch Radikalisierung

6Torwächter und Türöffner

Epilog – ein neues Bewusstsein

»wenn wir die demokratie kaputt machen, wird es das einzige sein, was den menschen von facebook in erinnerung bleibt.«

Tribe-Board-Kommentar eines Facebook-Entwicklers

»ich bin kein wissenschaftler, nur ein komiker und schauspieler, aber eins scheint mir klar: hass und gewalt werden von einer handvoll internet-unternehmen befördert, die, zusammen genommen, den größten propagandaapparat der geschichte darstellen.«

Sacha Baron Cohen

»Facebook forciert besonders jene Inhalte, auf die Menschen am stärksten reagieren. Denn dann bleiben sie länger dabei. Und die eigene Forschung von Facebook zeigt, dass dafür Inhalte, die durch Spaltung und Polarisierung Wut erzeugen, am besten geeignet sind.«

Frances Haugen (ehemalige Produktmanagerin

und nunmehr Whistleblowerin)

Prolog

Schlecht steht es um die Pressefreiheit in Deutschland. Schlechter als in den letzten Jahren, so schlecht wie noch nie im neuen Gesamtdeutschland: Das globale Netzwerk »Reporter ohne Grenzen« zählte im Jahr 2020 hierzulande eine Zunahme massiver Behinderungen von Journalisten1 durch körperliche An- und Übergriffe von 500 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Medienschaffenden wurden während der Verrichtung ihrer Arbeit geschlagen, zu Boden gestoßen, getreten, ihre Kameras, Fotoapparate und Aufnahmegeräte wurden zerstört. Zur physischen kommt psychische Gewalt. Bedrohungen, Beleidigungen, massive wutgeschwängerte Sprechchöre zum Zwecke der Einschüchterung. Die Fernsehreporterin Dunja Hayali beispielsweise ging im August 2020 bereits mit Security zu einer Demonstration in Berlin und musste dennoch ihre Berichterstattung abbrechen. Ihre pure Anwesenheit erzeugte immer wieder eine derart aufgeheizte, an Lynchjustiz erinnernde Stimmung, dass nicht mehr für ihre Sicherheit garantiert werden konnte. Eine Demonstration später war Hayali wieder dabei – dieses Mal auf Transparenten, die sie in Sträflingsuniform zeigten. Wie eine Gefangene bei der Erfassung hielt sie ein Schild mit ihrem Namen, darunter war der Spruch der selbst ernannten Richter zu lesen: schuldig. Hayali erhielt auch eine Morddrohung, die pikanterweise mit nichtöffentlichen Daten aus einem Polizeicomputer gespickt war. Diese Tatsache wirft Fragen auf, denn eigentlich obliegt der Staatsgewalt der Schutz von Medienschaffenden. Der wird offensichtlich in einem in Deutschland noch nie da gewesenen Ausmaß vernachlässigt, während zugleich Teile der Exekutive zumindest indirekt an der Einschüchterung von Journalisten teilhaben.

Für »Reporter ohne Grenzen« schlugen zudem noch das BND-Gesetz zur anlasslosen Auslandsüberwachung des Internetverkehrs, undurchsichtige Regeln beim Auskunftsanspruch für die Presse im Lobbyregister und der Verlust an Vielfalt in der Medienlandschaft negativ zu Buche. Alles zusammengenommen, ergab sich eine Rückstufung in der Rangliste der Pressefreiheit von 11 im Vorjahr auf 13. Zwei Plätze, die zugleich auch eine entscheidende Qualitätseinbuße markieren. Denn damit wechselt Deutschland auf der Weltkarte der Pressefreiheit die Farbe. Es verabschiedet sich aus der mit Weiß markierten Spitzengruppe, in der die Bedingungen für freie Berichterstattung gut sind, und erhält mit der Farbe Gelb nur noch ein Zufriedenstellend. So wie Papua-Neuguinea, Rumänien, Litauen und Surinam. Inwiefern sich die obskuren Aktivitäten des deutschen Gesundheitsministers im Jahr 2021 im Ranking niederschlagen werden, bleibt bis zur nächsten Auswertung abzuwarten. Jens Spahn hatte beim Berliner Grundbuchamt die Namen der Journalisten in Erfahrung zu bringen versucht, die über seine Immobiliengeschäfte recherchierten. Erstaunlicherweise erfolgreich. Zudem versuchte er, per Gerichtsbeschluss die öffentliche Nennung der Summe von 4,125 Millionen Euro zu verbieten, für die er mit bedenklichem Gespür für den Kairos inmitten der Corona-Pandemie eine Luxusvilla für sich und seinen Mann erstanden hatte. Wäre ihm auch das geglückt, hätte Deutschland vielleicht sogar noch die gelbe Einfärbung auf der Pressefreiheitsweltkarte aufs Spiel gesetzt.

Auch die in Deutschland immer wieder aufflammenden Debatten über die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks werden von »Reporter ohne Grenzen« kritisiert. Hier geht es um die Querelen angesichts der ersten Erhöhung des Rundfunkbeitrags seit 2009. Die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs hatte im Einklang mit dem Staatsvertrag zur Rundfunkfinanzierung eine Anhebung der GEZ-Gebühren um 86 Cent auf 18,35 Euro pro Monat empfohlen. Angemerkt sei, dass der Begriff Rundfunk ebenso die Fernsehanstalten umfasst, die naturgemäß die meisten Mittel verschlingen. Der Deutschlandfunk beispielsweise gestaltet seine drei Programme für gerade einmal 50 Cent pro Einzahler im Monat. Um die Erhöhung beschließen zu können, brauchte es die Zustimmung aller Bundesländer, die sie auch gaben – mit Ausnahme von Sachsen-Anhalt, wo sich eine verhängnisvolle Mehrheit aus CDU und AfD für die Ablehnung fand. Ministerpräsident Reiner Haseloff verhinderte die Mesalliance schließlich, indem er die Abstimmung aussetzte. Damit aber war die in den Sendeanstalten längst eingepreiste, weit unter Inflationsniveau liegende Erhöhung passé. Als Grund für die Blockade nannte die CDU stockende Reformbemühungen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und die geringe Beachtung, die Sachsen-Anhalt in der Berichterstattung finde. Die AfD wurde grundsätzlicher und sprach in der Begründung ihrer Verweigerung von mit Zwangsgebühren finanzierten Staatsmedien, die Fake News im Auftrag der Regierung verbreiteten.

 

Noch rauer ist der Ton gegenüber den öffentlich-rechtlichen Anstalten in den sogenannten sozialen Medien. Unter Hashtags wie »GEZ«, »Staatsfunk« oder »ÖR« werden ARD und ZDF als »linksradikale«, »totalitär denkende«, »ökosozialistische« und »kulturmarxistische« »GEZ-Zwangsbezahlsender« bezeichnet, die das Land im Geiste einer linksliberalen Elite des »Bionaden-Bonzen-Milieus« und »heuchlerischer Soja-Teutonen« mit «Gender- und Political-Correctness-Diktaten« »terrorisiere« und basisdemokratische Initiativen wie Volksbegehren zur Auflösung von Landtagen verleumde, während sie verfassungskonform gewählte Parteien wie die AfD totschwiegen. Dagegen werden auf den einschlägigen Kanälen der sozialen Medien GEZ-Verweigerer, die wegen Zahlungsverzug im Gefängnis sitzen, zu Märtyrern stilisiert. Als das Bundesverfassungsgericht im August 2021 die Blockade von Sachsen-Anhalt gegen die Erhöhung der Rundfunkgebühren für verfassungswidrig erklärte, kochte die Wut auf den Plattformen noch einmal hoch.

In den Foren scheint Einigkeit zu herrschen über die Art der Berichterstattung: staatsnah, tendenziös, elitehörig und ausgrenzend. Die Schlussfolgerung lautet in routinierter Verdrehung der Begriffsbedeutung, die öffentlich-rechtlichen Medien seien autoritär und antidemokratisch. Dieses Urteil ergeht zugleich auch über die Mehrheit der Printmedien, die mit journalistischer Professionalität durch Recherche und Quellenprüfung gehärtete Information publizieren. Ähnliche Entwicklungen zeichnen sich in allen westlichen Demokratien ab. Ein Narrativ bildet sich heraus, das die Ergebnisse des kritischen Journalismus weltweit als Mainstreammedien diskreditiert, die Meinungen und Gefühle im Lande steuern und die Menschen zu willfährigen Objekten der Mächtigen machen. Diese Mächtigen sind je nach ideologischer Ausrichtung und geposteter Story mal Big Pharma und Big Tech, mal die Finanzindustrie oder die Klimaforschung, mal der Staat und die Ökolobby – oder gern auch alle und alles zusammen.

1Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch im Allgemeinen nur das männliche grammatische Geschlecht verwendet. Es sind aber immer alle anderen Geschlechter mitgemeint.

1Typografische und algorithmische Vernunft

Worin gründet der Verlust an Vertrauen in die ehemals vierte Gewalt im Staate? In einer demokratischen Gesellschaft soll die Presse eigentlich die drei Säulen des Staatswesens – Legislative, Exekutive und Judikative – kritisch beleuchten und hinterfragen. Sie hat Informations-, Transparenz-, Kontroll- und Initiativfunktionen. Sicher wurden in Teilen der Medien diese Aufgaben in den letzten Jahren immer mehr vernachlässigt. Ressorts wie Reise- oder auch Unternehmensjournalismus erweisen sich als korrupt, weil sie sich zunehmend als verlängerter Arm der Public-Relations-Abteilungen verstehen. Am ehesten nehmen noch der Politik- und Kulturjournalismus ihre angestammte Funktion ernst. Doch auch das sehen Demonstranten, die mit dem Kampfslogan »Lügenpresse« grölend durch die Straßen ziehen, anders. Diese Menschen unterschiedlichster weltanschaulicher Couleur eint ihre Fundamentalopposition gegen alles, auf das sie keinen direkten Einfluss nehmen können.

Um den Prozess zu verstehen, der zur Erosion der Deutungshoheit öffentlicher Medien führte, lohnt es sich, auf der Zeitachse zurückzugehen. Und zwar zunächst bis zur Gründung von Amazon. Wenn es Zufälle gäbe, wäre es vielleicht einer, so aber – und vor allem aus heutiger Sicht – fiel die Business-Entscheidung des Investmentbankers Jeff Bezos geradezu zwangsläufig. 1995 erkor er Bücher zu dem Produkt, mit dem er seinen disruptiven Angriff auf den herkömmlichen Handel startete. Er eröffnete einen Buchladen, in dem nicht eine durch den Besitzer und die Verlagsvertreter ausgewählte kleine Anzahl von Exemplaren präsent war, sondern einfach alle Titel, die es auf dem Markt gab. Jedes Buch war nur einen einzigen Klick weit entfernt. Kaum hatte diese Idee genügend Käufer angezogen, beherzigte Amazon das Diktum der Billigketten, nach dem der Gewinn beim Einkauf gemacht wird, um mit dem Verkaufspreis die Konkurrenz zu ruinieren. Mit zunehmender Marktmacht wurden den Verlagen immer dreistere Konditionen abgenötigt. Zu fragwürdiger Berühmtheit kam dabei das Gazellenprojekt, für das Bezos seine Mitarbeiter anwies, kleine Verlage zu jagen wie ein Gepard eine kranke Gazelle. Drohungen, die Auslieferung bestimmter Titel zu verzögern oder sogar den Online-Handel mit dem gesamten Programm auszusetzen, wurden hier erfolgreich erprobt, da solche Verlage naturgemäß größere Schwierigkeiten haben, ihre Werke in den Buchhandlungen zu platzieren. Mit dem Rückenwind dieser Erfahrungen erpresste Amazon dann auch die großen Häuser. Zudem sparte das rasch wachsende Unternehmen an Lohn und Mindeststandards bei den eigenen Beschäftigten und übte Druck auf die Versanddienstleister aus. Mit denkwürdiger Besessenheit entwickelte eine Taskforce Steuerfluchtmodelle, die in einer Pro-forma-Übersiedlung des Unternehmenssitzes nach Luxemburg mündeten, wodurch laut vorsichtigen Schätzungen jährlich anderthalb Milliarden Dollar am Fiskus vorbeimanövriert wurden.

Im Zuge der noch effektiveren Ausbeutung der Ware Buch waren Amazon natürlich auch die Urheberrechte ein Dorn im Auge. Vor allem die in mehreren europäischen Staaten geltende Buchpreisbindung verhindert derzeit noch, dass Amazon in diesen Fragen nach Gutdünken verfährt und gedruckte Texte mit Küchenrollen und Einwegflaschen auf eine Stufe stellt. Am liebsten würde das Unternehmen Bücher zur Ramschware deklarieren, an der niemand mehr verdient – außer natürlich Amazon selbst. In den USA bekamen Verlage, die vom Online-Händler einen Mindestpreis forderten, bereits die Härte des entfesselten Marktes in Form von Gerichtsurteilen zu spüren. Einen weiteren Angriff auf das Kulturgut Buch führte Amazon, als es die Funktion Kindle Direct Publishing zur Verfügung stellte, über die jeder ein Buch veröffentlichen kann. Wirklich jeder. In weniger als fünf Minuten. Die bislang von Verlagen geleistete thematische Kuratierung entfällt dabei ebenso wie die Betreuung durch ein Lektorat. So führte die marktbeherrschende Stellung von Amazon einerseits zur Profanisierung des Buches und andererseits zu einer neuen Form von Zensur. Sie findet nun bei dem mittlerweile zum digitalen Allesverramscher gewandelten ehemaligen Online-Buchhändler nicht aus politischen, sondern aus unternehmenspolitischen Gründen statt. Jeder Anbieter, der sich nicht an die von Amazon diktierten Spielregeln hält, hat mit Sanktionen zu rechnen. Der Schrecken der verminderten Sichtbarkeit und damit der eklatanten Umsatzeinbuße zwingt jeden Verlag in die Knie, wenn er von einem Händler an die Wand gemalt wird, über dessen virtuellen Tresen unterdessen gut ein Fünftel aller Bücher gehen.

Die im Ergebnis effizient gerittene Attacke auf das Buch ist deshalb so bezeichnend, weil es sich dabei um eine neoliberale Deregulierung des zentralen Wahrheitsmediums der westlichen Welt handelt. Denn der Buchdruck setzte Mitte des 15. Jahrhunderts einen völlig neuen Erkenntnisstandard und zugleich eine fundamentale Umstrukturierung des Weltwissens in Gang. Durch Gutenbergs Erfindung trat an die Stelle des Einzelexemplars der Handschrift die gedruckte Vielzahl der Auflage. Während ein Schreiber im mittelalterlichen Skriptorium etwa drei Jahre benötigte, um eine Bibel vollständig abzuschreiben, druckte Gutenberg dank seiner Erfindung der beweglichen Lettern von 1451 bis 1454 180 identische Exemplare. Die Disruption durch den Buchdruck erzeugte das Diktat gleichförmiger typografischer Einheiten in Standardgröße, die Standardseiten bilden, die sich ihrerseits zu Standardkapiteln ordnen und in Standardbüchern zusammengefasst sind. Der Begründer der Medientheorie, Herbert Marshall McLuhan, vermittelte eingängig, dass dieses typografische Prinzip über die Inhalte ins Auge und Hirn der Leser eindringt. Nicht von ungefähr beginnt der Mensch, seine Welt so wahrzunehmen und zu gestalten, wie es ihm das Medium des Buchdrucks vormacht: Alles wird in kleinste Einheiten zerlegt, wird klassifiziert, analysiert, mit Zahlen versehen, mit Indizes, mit Standardüberschriften und Titeln. Die menschliche Wirklichkeit wird immer mehr zum Buch, weil die mediale Erfolgstechnologie den Menschen die Welt nach dem Schema des Buchstabens geradezu zerstückeln lässt und ihm in Form des Buches demonstriert, wie sie wieder zusammengesetzt werden kann. Wahrnehmung geschieht im Gutenberg-Zeitalter nach Maßgabe der Zerlegung und Neukomposition der Welt nach dem typografischen Prinzip.

Auch der Buchdruck lehrt es: Was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen. Es genügt, des Lesens kundig zu sein, um sich in die gedruckten Worte zu vertiefen. Mitgeführt wird dabei das Wissen vom anderen, der dasselbe liest. An allen Orten, wo ein Buch der gleichen Auflage auftaucht, verkündet es den identischen Inhalt. Die mündliche Überlieferung büßt an Wert ein, sobald das Buch völlig neue Maßstäbe setzt. So verliert die Idee der Wahrheit unter dem typografischen Diktat ihren metaphysischen Nimbus und reorganisiert sich als faktengebundene Realität. Das naturwissenschaftliche Zeitalter beginnt mit einer Definition von Wahrheit, deren Wesen die Reproduzierbarkeit ist. So wie die Druckmatrize immer denselben Text ausgibt, gilt ein Experiment als Kern der neuen Wissenschaften nur dann als wahr, wenn es unabhängig von Ort, Zeit und Protagonisten exakt dasselbe Ergebnis (re)produziert.

Sucht man nach historischen Belegen für diese These, wird man schnell fündig. Bereits im ersten Jahrhundert nach Gutenberg beginnt das Projekt der Mathematisierung der Natur. Die fallenden Steine bekommen Indizes, die Kanonenkugeln fliegen durch den Buchstabenraum der gleichmäßigen Einheiten, und den Abläufen in der Natur werden Überschriften wie die des Fallgesetzes angeheftet. Der Buchdruck spannt eine völlig neue Wahrnehmungsfolie auf, vor deren Grundlage sich die westliche Welt in den Stand gesetzt sieht, Erfahrungen zu homogenisieren und zu rationalisieren. Die Idee der uneingeschränkten Macht über die Naturkräfte kann als Resultat dieses Prozesses gelesen werden. Dass sie sich letztlich als Hybris erweisen soll, steht auf einem anderen Blatt.

Die neue, naturwissenschaftlich geprägte Logik verfährt nach typografischer Vorlage: Wer A sagt, muss auch B sagen. Wer Naturwissenschaft und Technik will, muss sich auf und mit immer mehr Naturwissenschaft und Technik einrichten. Es gibt kein Zurück mehr, sobald die präzise Wiederholbarkeit der Zeichen der menschlichen Wahrnehmung der Welt den Takt schlägt. Nach Gutenberg bleibt keine Zeit mehr für Kontemplation: Jetzt wird die Welt vermessen, in immer kleinerem Maßstab. Maß aller Dinge ist in der beginnenden Neuzeit nicht mehr der Mensch, sondern die Typografie, die auch noch die entscheidende Technologie vorgibt, mit der die Resultate des großen Vermessungs- und Homogenisierungsvorgangs in Wohlstand verwandelt werden: das Fließband. Hier taucht das erste Werkzeug in der Geschichte auf, das dem Menschen nicht (nur) mehr dient, sondern das bedient werden will und so den forschen Takt der typografischen Einheiten in die Körper einsenkt.

Natürlich ist der erste Bestseller auf dem Markt der gedruckten Bücher die Bibel, aber bald schon wird auch der Stand der Technik auf Papier gebannt. Gutenbergs Erfindung kommt rechtzeitig in Italien an, um die kühnen Entwürfe der Renaissanceingenieure zwischen Buchdeckeln zu ordnen. Seit 1465 gibt es Druckereien in Rom, Venedig, Padua, Modena und Florenz. Die zwölfbändige Abhandlung De re militari des italienischen Schriftstellers Roberto Valturio ist das erste Sachbuch auf dem Markt. Ein Beleg dafür, wie eng die Erfolgsgeschichten von Buchdruck, Naturwissenschaft und Technik bereits von Anfang an verknüpft waren. Der technologisch-militärische Komplex hat die Botschaft des typografischen Mediums sofort verstanden.

So schlägt der Buchdruck den Takt für die Zerlegung der Dinge, auf dass sich zeige, was die Welt im Innersten zusammenhält. Gutenbergs Erfindung fungiert geradezu als ein Mutationsfaktor in der Evolution des menschlichen Geistes, die der Kulturphilosoph Jean Gebser in mehreren Etappen ablaufen sieht. Demnach waren unsere Urahnen zuerst vom magischen Bewusstsein beseelt. Es entstand gemeinsam mit dem Faustkeil als erstem Werkzeug vor etwa 1,7 Millionen Jahren und begleitete die Distanzierung der Gattung Homo von der Natur. Die nächste Stufe, das mythische Bewusstsein, entwickelte sich, als die Menschen vor etwa 12 000 Jahren sesshaft wurden und den Ackerbau für sich entdeckten. In der mythischen Welt ging es um die Entwicklung des Zeitbewusstseins und die Gewinnung der Innenwelt als Erlebnisraum. Diese Form nun wird mit der Erfindung des Buchdrucks vom rationalen Bewusstsein abgelöst, und das selbstbewusste Ich entsteht als Subjekt, das sich seiner Außenwelt – messend und zerlegend – gegenüberstellt. Verbunden damit ist die Idee der Objektivität. Die Welt wird berechnet und geordnet, von den Planetensystemen über die Meere und Länder bis hin zum Gehirn, das bald schon als Organ des Bewusstseins – oder mit den trefflichen Worten des Physiologen du Bois-Reymond – als »Bureau der Seele« konzipiert wird. Der Umbruch zeigt sich im Abendland gut im Kampf zwischen der christlichen Kirche, die ihren Aufstieg noch dem mythischen Bewusstsein verdankt, und der Naturwissenschaft als Ikone des Rationalen. Galilei wird Opfer dieser Zeitenwende. Als Protagonist des Neuen, der die Natur Gesetzen zu unterwerfen lehrt, gerät er in die Hände des Alten und kann seine Haut vor der Inquisitionsbehörde nur retten, indem er seine wissenschaftlichen Erkenntnisse widerruft.

 
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