Ich bin, was ich werden könnte

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Mathias Wais

Ich bin, was ich werden könnte

Entwicklungschancen des Lebenslaufs

Anregungen für die Biographiearbeit

1. Auflage 2001 im Verlag Joh. M. Mayer, Stuttgart

5. Auflage 2020 im Info3 Verlag, Frankfurt am Main

ISBN E-Book 978-3-95779-137-5

ISBN gedruckte Version 978-3-95779-128-3

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH

Cover: Houman Schroeder, Frankfurt am Main unter Verwendung eines Motivs von Jean Cocteau

Über dieses Buch

Individualität will gelebt sein. Sie entfaltet sich in der Zeit, in der Begegnung mit anderen Menschen und sie kann immer wieder neue Lebenswirklichkeiten schaffen.

Der Autor knüpft an alltägliche Begebenheiten an und zeigt, wie anhand von Gespräch und Übung mit Ruhe und Sicherheit, dem Neuen und Anderen Raum geschaffen werden kann. Kleine Fallbeispiele lassen erkennen, wie auch in Krisenzeiten in der Enttäuschung über Unerreichtes ein Zukunftskeim zu bemerken ist, der wachsen, blühen, gedeihen will und kann. Ein Buch, gesättigt mit Lebenserfahrung, das ganz ohne theoretischen Überbau konkrete Anleitungen für die eigene Arbeit an der Biographie und Lebenswirklichkeit bietet.

Über den Autor


Mathias Wais, geboren 1948, studierte Psycholgie, Judaistik und Tibetologie in München, Tübingen und Haifa und schloss als Diplom-Psychologe ab; eine psychoanalytische Ausbildung und Forschungen schlossen sich an. Zunächst Spezialisierung auf Neuropsychologie und Therapie von Hirnverletzten. Seit 1985 Arbeitsschwerpunkt Biographik, Biographie- und Erziehungsberatung und Leitung des Dortmunder Zentrums »Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Erwachsene«; Autor von zahlreichen Sachbüchern.

„Das Wesen der Individualität ist auf Zukunft angelegt.“

Mathias Wais

Inhalt

Über den Umgang mit dem Labyrinth – ein Vorwort

Teil I

1 Das Zukunftselement in heutigen Schicksalen und die biographische Krise

2 Das individuelle Urbild

Teil II

3 Entwicklungsgesetze und ihre Bedeutung

Die Mondknoten

Das zwölfte Lebensjahr und der Zwölfer-Rhythmus

Der Fünfer- und der Zehner-Rhythmus

Zur Bedeutung der Zahlenverhältnisse

4 Die Lebensmitte und ihre Krise

5 Die Bedeutung der Jahrsiebte

6 Die vierfache Ich-Frage – Zur biographischen Bedeutung der Pubertät

7 Der Doppelgänger I

Seine Entstehung

8 Der Doppelgänger II

Seine Sprache

9 Der Doppelgänger III

Zwischen Heimat und Heimatlosigkeit

10 Geistige Wesen in der Biographie I

Das Helle und das Dunkle

11 Geistige Wesen in der Biographie II

Chronos und Kairos

12 Versuch über das Böse in der Biographie

13 Das Stauungsphänomen

14 Das Polaritätsphänomen

15 Das Verdopplungsphänomen

16 Über das schrittweise Eintreten von Ereignissen

17 Sprache des Anfangs I

Zur Signatur der Geburtssituation

18 Sprache des Anfangs II

Die Bedeutung der landschaftlichen Herkunft

19 Sprache des Anfangs III

Der erste Moment einer Begegnung

20 Verbindung und Trennung

21 Biographie heute – Der Einzelne und die Gemeinschaft

Teil III

22 Über Zufall und Sinn

23 Wege zum Sinnverständnis moderner Lebensläufe

24 Das Beratungsgespräch als Biographiehilfe

25 Der Weg der Übung

26 Vorbereitung auf die Biographiearbeit

27 Über den Umgang mit biographischer Erkenntnis

28 Zur Frage der Berechtigung der Biographiearbeit

Anmerkungen

Herangezogene Literatur

Uwe Meinardus Biographiearbeit und Psychotherapie – schwierige Verwandte oder freundliche Nachbarn?

Über den Übergang mit dem Labyrinth – ein Vorwort

Eigentlich geht man durch das Leben wie durch ein Labyrinth – irgendwie kommt man schließlich durch, hinterher aber wüsste man kaum zu sagen wie. Viele Werke der Mythologie und Kunst scheinen mir diesen Sachverhalt anzusprechen. Es gibt Kunstwerke, die das Thema des Labyrinths zu einem Bild, zu einem Moment verdichten. So habe ich in dieser Hinsicht zum Beispiel Wesentliches in dem Film Orlando (nach dem Roman von Virginia Woolf) von Sally Potter erfasst.

Biographiearbeit und Biographieberatung, wie sie in den letzten Jahren aufgekommen sind, stellen leider keine Hilfe dar, besser durch das Labyrinth zu kommen. Und was hieße auch besser?Würde man mit einem Konstruktionsplan in der Hand durch das Labyrinth gehen, so gäbe es die Befreiung, die Überraschung nicht, doch wieder ein Stück weitergekommen zu sein. Diese Überraschung ist es aber, die Hoffnung gibt.

Wir wissen eigentlich kaum etwas über das Labyrinth, durch das wir – manchmal amüsiert, manchmal verzweifelt, manchmal tatkräftig, manchmal mutlos – hindurchzukommen versuchen. Das einzige, was wir wissen, ist, dass es immer weitergeht. Mit Weitergehen meine ich das Herauskommen aus Katastrophen, aus dem Scheitern, auch aus dem Glück, das – wie es Sigmund Freud formulierte – ein episodisches Phänomen ist. Die Frage ist also: Woher wissen wir, dass es immer weitergeht? Oder was liegt vor, wenn wir dieses Wissen – etwa in einer uns ausweglos erscheinenden Situation, einer zermürbenden Ehekrise oder einer inneren Einsamkeit – verlieren?

Wer konstruiert eigentlich dieses Labyrinth? Eine einfache Antwort wäre: der liebe Gott. – Aus der jahrelangen Beratungspraxis und der beratenden Begleitung von Menschen in Lebenskrisen habe ich jedoch den Eindruck gewonnen, dass der Sachverhalt in einer skandalösen Weise komplizierter ist: Wir sind es selbst, die das Labyrinth ständig, im Vollzug sozusagen, konstruieren. Unser Ich ist es. Da muss es, von unserem Alltags-Ich unbemerkt, eine Instanz in uns geben, die, unsere Vergangenheit und Zukunftsmöglichkeiten überschauend, unser Schicksal schafft. Deshalb also, weil wir es selbst schaffen, wissen wir, dass es in unserem Labyrinth immer weitergeht.

Wieso tut jenes Ich – nennen wir es, weil es ja nicht das alltägliche Ich ist, das »Höhere Ich« – das? Offenbar verfolgt es Ziele und Aufgaben und führt uns in Begegnungen, durch Schicksale, auch durch die Banalitäten des Alltags. Der erste Teil des Buches handelt von diesem Höheren Ich.

Biographiearbeit und Biographieberatung gehen ja nicht von der Frage aus: Wie hätten Sie’s denn gern? Sie können keine Tips geben, wie man etwa schneller oder mit weniger Aufwand durch das Labyrinth käme. Die Aufgabe der Biographieberatung ist eine andere. Sie kann, anhand konkreter und alltäglicher Lebensfragen und Lebenskrisen, uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass wir es selbst sind, die laufend das Labyrinth konstruieren. Sie kann damit etwas an der Haltung ändern, mit der wir durch das Labyrinth gehen; nichts dagegen an der Tatsache, dass wir durch ein Labyrinth gehen. So versucht der zweite Teil, anhand einiger biographischer Phänomene zu zeigen, nach welchen Gesichtspunkten wir unser Labyrinth konstruieren. Wenn es gelingt, so taucht im Beratungsgespräch eine Idee, eine handlungsrelevante Perspektive davon auf, dass die Konstruktion des Labyrinths sinnvoll ist, weil sie unsere ist, uns eigen ist.

 

Der dritte Teil handelt davon, wie man als Beraterin oder Berater zu einem Verständnis des individuellen Labyrinths kommt und wie man das dem nach Rat Suchenden vermittelt. Für beide, für ihn wie für den Berater, handelt es sich – um dies vorwegzunehmen – nicht um intellektuelle Akrobatik oder psychologisch analysierende Akribie, sondern um einen Übungsweg. Der Beratende, der einen individuellen Lebensgang verstehen will, geht einen inneren Übungsweg, und der Betroffene, der ein Verständnis seines Labyrinths und Gesichtspunkte dafür sucht, wie er sich aktiv handelnd, statt passiv erleidend weiterbewegen kann, muss ebenfalls einen Übungsweg gehen.

Was mein eigenes Verständnis von Lebensläufen und Lebenskrisen betrifft, so habe ich es zunächst den Menschen zu verdanken, die als Ratsuchende zur Biographieberatung kommen. Im Gespräch mit ihnen kann, wenn es gut geht, dieses Element der Überraschung auftauchen. Es entsteht dann plötzlich eine Perspektive auf die aktuelle Lebenskrise, auf den Lebenslauf selbst, die zuvor keinem der Gesprächspartner bewusst gewesen ist.

Sodann gehe ich bei meiner Arbeit von einem anthroposophischen Menschenbild aus – so wie ich es eben verstehe. Es ist nach meiner Kenntnis das modernste und differenzierteste Menschenbild, das die geistige Sphäre des Menschen einbezieht. Dabei fühle ich mich folgenden Autoren verbunden: Bei Rudolf Frieling, dem christlichen Gelehrten und Pfarrer, lerne ich die Genauigkeit der Phänomenbetrachtung, das Ernstnehmen des »Textes«, hier: der biographischen Phänomene, so wie sie sich eben darstellen. Bei Friedrich Weinreb, dem jüdischen Gelehrten und Mathematiker, lerne ich das Denken in Zwischenräumen. Weinreb hat, anknüpfend an die kabbalistische Tradition, immer wieder die Wirkung der Sphäre des Geistigen bis ins Buchstäbliche und Tägliche hinein gezeigt und verständlich gemacht, wie das Wesentliche und Eigentliche zwischen den Dingen liegt. Für das Lernen bei Frieling wie bei Weinreb wie aber auch bei allen anderen Autoren, die ich heranziehe (Viktor Frankl, Bernard Lievegoed, Hans Schauder), gilt, dass man ihre Arbeit und ihr Denken nicht einfach übernehmen kann. Man muss etwas Eigenes daraus machen. Und insofern ist das Buch, wenngleich mitgeprägt von den genannten Menschen, doch wieder subjektiv, persönlich und damit einseitig. Es gibt nur meine derzeitige Sicht der Dinge wieder, und insofern kann es sich nur um einen Werkstattbericht handeln.

Von da aus ergibt sich mir auch die Berechtigung, nicht alles hier in Frage Kommende in Vollständigkeit darstellen zu müssen. Vieles ist unvollständig. So hatte ich auch nicht das Bedürfnis, zu den einzelnen Themen jeweils alles zu referieren, was man darüber anderswo nachlesen kann. Zum Beispiel behandeln die Kapitel über den Doppelgänger nur einige Aspekte dieses Themas. Selbstverständlich ist es sinnvoll, dazu all das Umfangreiche nachzulesen, was man diesbezüglich bei Rudolf Steiner und in der sonstigen anthroposophischen und nicht-anthroposophischen Literatur nachlesen kann. Der Charakter des Werkstattberichts mag es auch akzeptabel machen, dass in diesen Beiträgen zur Biographik ausgerechnet Ausführungen über karmische Zusammenhänge fehlen. Dies liegt daran, dass für mich dieser zentrale Themenbereich in der Praxis kaum handhabbar ist. Und ein bloßes Referieren von dazu vorhandener Literatur erschien mir nicht sinnvoll.

Erwähnen möchte ich noch, dass eine weitere Quelle meiner biographischen Verständnisbemühungen die – durch keinerlei kunstwissenschaftliche Vorbildung getrübte – Auseinandersetzung mit Werken der modernen Kunst ist. In der jahrelangen Beschäftigung mit dem Werk etwa Alexej Jawlenskys, Camille Claudels, Phillip Glass’, Béla Bartóks oder Wilhelm Lembrucks habe ich, so scheint es mir, mehr über die menschliche Entwicklung und das Lebenslabyrinth gelernt als im Studium der Psychologie. Zu solcherart fruchtbaren Kunstwerken zähle ich neben dem schon erwähnten Film Orlando (die Buchvorlage von Virginia Woolf hat einen anderen Akzent als der Film) auch den Film Le Bal, der davon erzählt, wie rätselhaft gleich man sich doch über die Jahre, Jahrzehnte und über die verschiedenen Erdengänge bleibt – bei allem Weiterschreiten, bei aller Entwicklung.

Dankbar für das anhaltende Interesse der Leser und mit Unterstützung durch den Verlag Johannes Mayer, Stuttgart, bringe ich dieses Buch in einer leicht überarbeiteten und um vier Kapitel erweiterten Fassung neu heraus.

Im Januar 2001

Mathias Wais

Teil I

Coming

I am coming! I am coming!

I am coming through!

Coming across the divide to you

In this moment of unity

Feeling an ecstasy

To be here, to be now

At last I am free

Yes at last, at last

To be free of the past

And of a future that beckons me

I am coming! I am coming!

Here I am!

Neither a woman, nor a man

We are joined, we are one

With a human face

We are joined, we are one

With a human face

I am on earth

And I am in outer space

I’m being born and I am dying

Sally Potter,

Schlussgesang aus Orlando

1
Das Zukunftselement in heutigen Schicksalen und die biographische Krise

Unter welchem Gesichtspunkt wird man einen Lebenslauf sinnvollerweise betrachten? Zunächst scheint es nahezuliegen, den schon abgeschlossenen Lebenslauf etwa einer Künstlerpersönlichkeit aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts oder den sich gerade entfaltenden Lebenslauf eines Zeitgenossen unter einem historischen Gesichtspunkt anzuschauen: Wie ist alles geworden? Wie kam der Künstler zu seiner Malweise, mit welchen Stilrichtungen hatte er Berührung, mit welchen Kollegen sich auseinandergesetzt, aus welchem persönlichen Erleben hat er ein bestimmtes Thema in seinen Bildern immer wieder aufgegriffen? Oder: Wie kommt es, dass mein Nachbar nicht verheiratet ist und allein in dem großen Haus wohnt? Welche Beziehungserlebnisse haben ihn dazu gebracht? Wie war das mit seinen Eltern? Was haben sie ihm hinsichtlich der Belastbarkeit von Beziehungen vorgelebt?

So könnte man fragen. Das wäre eine historische Frageweise: Wie ist es dazu gekommen, dass es jetzt so mit meinem Leben steht? Man stellt, wenn man historisch fragt, die Frage nach der Ursache, nach der Verursachungskette. Wieso ist es so, wie es ist? Und man sucht die Ursachen in der Vergangenheit.

Es war eines der großen Verdienste der Psychoanalyse, dass sie kausale Zusammenhänge zwischen Erwachsenenleben und Kindheitserlebnissen aufzeigen konnte. Mittlerweile gehört es zum allgemeinen Bildungsgut, seelische und zwischenmenschliche Gegebenheiten kausal-logisch anzuschauen: Weil mein Vater mich damals nicht ernstgenommen hat, deshalb traue ich mir heute nichts zu. – Weil der Maler X zwei Jahre die Malschule von Y besuchte, deshalb hat er später diesen Malstil entwickelt.

Seit rund hundert Jahren scheint die historische Betrachtungsweise zunehmend nicht mehr auszureichen, um Lebensläufe zu verstehen. Diese kausal fragende, nach einer Verursachungskette fragende Sicht hat sich als richtig und wichtig herausgestellt. Aber sie kann nur begrenzt sichtbar und verstehbar machen, wie sich der moderne Mensch in seinem Lebenslauf individualisiert.

Lebensläufe waren bis in die jüngste Vergangenheit, von einigen Ausnahmen – Künstlern insbesondere – abgesehen, nur wenig individuell. Sie waren vor allem typenhaft und vorgezeichnet. Sie waren auch gar nicht dazu geeignet, in ihnen so etwas wie Individualisierung zu suchen. Und weil sie hauptsächlich typenhaft, gruppenhaft, klassen- oder ständetypisch waren, war ihr Ablauf aus der Vergangenheit bestimmt: aus den althergebrachten Werten und Traditionen. – Wieso bist du ein Schuster? – Weil mein Vater ein Lederhändler war. – Wieso hast du diesen Mann geheiratet? – Weil unsere Eltern befreundet waren und nebeneinander wohnten.

Insofern ein solcher Lebenslauf »typisch« ist und man, vor allem, »Typisches« in ihm erwartet, reicht die historische Betrachtungsweise aus. Insofern aber seit dem 20. Jahrhundert Lebensläufe immer mehr das Typische verlieren und zunehmend Individualisierung im eigenen Lebenslauf gesucht wird, braucht es noch einen weitergehenden Gesichtspunkt, wenn wir einzelne Biographien in ihrer individuellen Gestaltung verstehen und sie beratend begleiten wollen.

Biographiearbeit, Biographieberatung ist in den letzten Jahren nicht entstanden, um bessere Erklärungen für einzelne Lebensläufe zu finden, sondern aus dem Wunsch heraus, Biographien als etwas Zielgerichtetes anschauen zu können. Es wuchs das Bedürfnis nach einer Sichtweise oder Haltung, die es erlauben würde, Biographien auf ihre Sinnhaftigkeit befragen, miterleben und beratend begleiten zu können.

Dieses Bedürfnis, einen Sinn im Lebenslauf erkennen und das Leben auch nach diesem Sinnverständnis führen zu können, spitzt sich natürlich in drängender Weise zu, wenn man in eine persönliche Krise gerät, wenn man nicht mehr weiter weiß. Dann will man eben nicht bloß wissen: Wie ist es nur dazu gekommen, dass ich nun so übel dran bin? Sondern man will heraus aus dieser Krise, man will ihren Zusammenhang mit der Fortführung des eigenen Lebens sehen. Man fragt nach ihrem Sinn. Und das Bedürfnis nach einer Antwort hat enorm zugenommen.

So kommt Herr K. zur Beratung mit der Frage, was er wohl falsch gemacht habe: Ihm ist, fast fünfzigjährig, zum ersten Mal in seinem Leben gekündigt worden. Voraus ging eine eskaliernde Distanzierung seitens der – meist jüngeren – Kollegen. Er wurde »gemobbt«, immer mehr abgeschnitten vom Informationsfluss der betrieblichen Abläufe, auch vom sozialen Leben im Betrieb und schließlich mit lächerlichen Beschäftigungsaufträgen gedemütigt. Herr K. sucht in der Beratung Orientierung in einem Augenblick, da ihn sein Weg in eine Sackgasse geführt zu haben scheint und noch nicht annähernd erkennbar ist, wie es mit ihm weitergehen könnte.

Wie weit ist ihm geholfen, wenn man nun für seine Situation nach kausalen Erklärungen sucht? Vielleicht lässt sich als »Ursache« des Problems seine Herkunftsfamilie heranziehen: Herr K. wuchs in einer sogenannten Patchwork-Familie auf, von der er sich ausgegrenzt fühlte. Die leibliche Mutter, der Stiefvater und die zwei Stiefbrüder schienen ihm eine verschworene Einheit zu sein, vor der er sich klein, unbedeutend und überflüssig vorkam. – Aber inwieweit könnten solche »Erklärungen« dafür ausreichen, erkennen zu können, wie es weitergehen kann? Die wirklich handlungsrelevante Frage ist ja nicht »Wo kommt das her?« sondern »Wo will das hin?« Und: Welchen Stellenwert, welche Bedeutung hat diese Krise innerhalb des gesamten Lebenszusammenhangs? Wie steht sie in Bezug zu den anderen Lebensfeldern von Herrn K.? Welchen Sinn hat die Krise? – Sie wirft also eine Frage nach der Zukunft auf.

Viele Menschen suchen heute in einer solchen oder ähnlichen Krise Beratung. Eine Lebenspraxis, die bisher getragen hat oder jedenfalls zu ertragen war, trägt nicht mehr; Lebenszusammenhänge, eine Partnerschaft, ein berufliches Engagement, die über Jahre Sicherheit gegeben haben und wie selbstverständlich zum eigenen Leben gehörten, werden plötzlich fremd und zuwider. Man empfindet sich in ihnen nicht mehr zu Hause. Bewährte Strategien der Konfliktbewältigung greifen nicht mehr. Es reicht jetzt nicht mehr aus, nach jedem Streit mit der Ehefrau »schön essen« zu gehen, nach dem Misserfolg im Beruf »ein paar Tage« wegzufahren oder andere zu beschuldigen. Früher gemachte Erfahrungen sind nicht mehr anwendbar. Das ist die Situation der Krise. Und solchen Krisen, Einschnitten und Eskalationen gegenüber bedarf es heute solcher Fragen wie: Was will daraus werden? Wo will das hin? Was möchte da werden, das ohne diese Krise offenbar nicht werden könnte?

 

Man kann ein Kunstwerk, das Bild eines Malers auch so anschauen: Was wird sein nächstes Bild sein? Wo will er hin damit? Was sucht er, indem er dieses Bild so malt? Jedes Bild, jede Momentaufnahme eines Lebenslaufs kann als ein suchender Anfang gesehen werden – wenngleich es auch richtig ist, dass jedes Bild und jede Momentaufnahme eines Lebenslaufs auch ein Angelangt-Sein bedeutet.

Und gerade dieser vorwärts gerichteten fragenden Haltung bedürfen moderne Lebensläufe. Denn heutige Biographien spulen sich nicht mehr in vorgezeichneten Bahnen ab. Sie müssen zunehmend aktiv, gestaltend in die Hand genommen werden. Das Leben muss heute geführt werden.

Das kann aber nur mit Blick auf weiterführende Wege geschehen. Dieser Blick eröffnet die Sinnfrage und enthält ein aufrichtendes Element. Denn indem ich die zukunftsgerichtete Sinnfrage stelle, begegne ich mir schon wieder als aktiv Handelnder. Jetzt bin ich heraus aus dem passiven Erleiden der Krise. Die in die Zukunft gerichtete Frage erlaubt den Blick auf den aktiven eigenen Anteil daran, dass es weitergeht. Das ist das aufrichtende Element. Der Erklärung suchende Blick in die Vergangenheit dagegen führt zum Selbstbild des Erlitten-Habenden.

Es geht also darum, ein vorwärts gerichtetes, aufrichtendes Element aufzusuchen, wenn wir moderne Lebensläufe betrachten, und zu lernen, dieses Element anzusprechen und aufzurufen, wenn wir Biographien beratend begleiten wollen. Es kommt nicht auf den lückenlosen Zusammentrag von Lebensdaten an, sondern auf die Krisenpunkte, Wendepunkte, Entscheidungssituationen, Einschnitte, Wechsel, kurz: Übergänge in einem konkreten Lebenslauf, wenn wir verstehen wollen, worauf er hinaus will. In den Übergängen spricht sich etwas von dem aus, was erst noch werden will. In ihnen ist immer damit zu rechnen, dass sich da jemand zu sich selbst aufzurichten versucht. Da wächst einer für einen kurzen Moment über sich hinaus. Da erscheint für einen Moment ein »roter Faden«, ein Sinnzusammenhang, und man ahnt, wofür sich jemand all diese Schwierigkeiten aufhalste. Etwas von den Lebenszielen kann in solchen Übergangsmomenten sichtbar werden.

Die Krise beginnt meist mit dem Gegenteil dessen, worauf sie hinaus will. Zunächst geht alles lange Zeit gut. Dann geht es schief. Dann ist die Ohnmacht da, eine elementare Ohnmacht: Man weiß nicht mehr, wie es weitergehen soll. Es ist eine Ohnmacht vor sich selbst. Solange man sich noch – in der Krise, wenn alles schief läuft – über den Ehepartner, die Kinder, die Schwiegermutter ärgert, hat man den Punkt noch nicht erreicht, der hier als Ohnmacht angesprochen wird. Erst wenn man empfindet, dass der Kern der Krise eine Ohnmacht vor und mit sich selbst ist, dass man an sich selbst ohnmächtig ist, dass man vor sich selbst darniederliegt in einem Versäumnis, einer Schuld, einem Versagen, einer Illusion – erst dann ist eine Öffnung der Situation möglich, aus der Anschluss an die Sphäre der Aufrichtung gefunden werden kann. Und dies entsteht nicht in erster Linie durch die Erklärung, wie es nun zu dieser schlimmen Situation gekommen ist, vielmehr liegt das Weiterführende in der Einführung eines Neuen: im Anerkennen des Veraltet-Seins dessen, was bisher gegolten hat, und in der Bereitschaft zu Neuem. Wo man von sich selbst enttäuscht und vor sich selbst ohnmächtig ist, entsteht die wesentliche Frage, die weiterführt: Wer bin ich wirklich? Wer bin ich über das hinaus, was ich an mir kenne und was sich – bis zu dieser Krise – an mir bewährt hat? Wer bin ich über all die Besitztümer, Kenntnisse und Fähigkeiten hinaus, mit denen ich es doch so weit gebracht habe, mit denen ich mich so stark identifizierte, die mir aber doch in dieser Krise nichts nützen?

Das ist keine Frage, die sich mit einem psychologischen oder charakterologischen Gutachten beantworten ließe. Es ist die Frage: Was bin ich noch nicht, das ich aber sein könnte? Es ist die Frage nach der Entwicklungsmöglichkeit, der Entwicklungsnotwendigkeit. Das Individuum ist heute etwas, das sich immer noch entwickelt. Es ist nie fertig, ausgereift. Das Individuum ist etwas, das sich über seine verflossene Geschichte hinaus in der Zukunft erst noch sucht.

Ein erhöhtes Bei-Sich-Sein, wie es sich nach einem vollzogenen Entwicklungsschritt immer einstellt, entsteht aus dem Sich-Aufrichten gegen Widerstände und Hindernisse, zumeist innerer Art. Sie müssen nicht auf Anhieb als solche erkennbar sein. Sie können zum Beispiel auch die Form von Gewohnheiten haben, die in der Krise am Umdenken und neuen Handeln hindern. Auch Gefühlsprägungen aus früher Kindheit können zu Hindernissen werden, wenn nun eine unbefangene Sicht der aktuellen Lebenssituation erforderlich wäre. Widerstände gegen Entwicklungen können auch in der Selbst-Täuschung liegen: Man macht sich etwas vor über seine sozialen Fähigkeiten oder seelischen Kräfte und gelangt dadurch nicht zu einer realistischen Sicht der Dinge. Aber auch Fähigkeiten, Kompetenzen und Erfahrungen können unter Umständen Hindernisse darstellen: Man versteift sich in der Krise darauf, bisher bewährte Fähigkeiten heranzuziehen; aber sie nützen nichts mehr.

Diese Ich-Qualität, das Element der Aufrichtung anzusprechen und aufzurufen, ist dann die Aufgabe der Biographieberatung: Wohin strebst du mit dem, was dir jetzt an Fähigkeiten und Unfähigkeiten, an Sicherheiten und Unsicherheiten gegeben ist? Durch welches Handeln kannst du dich an die Aufrichtekraft anschließen?

In der Biographieberatung soll das Individuelle in seinem Zukunftscharakter angesprochen werden. Das Individuelle ist noch nie ganz da. Es auf seinem Weg zur Ganzheit beratend zu begleiten, ist Inhalt der Biographieberatung. Diese fragt nicht: »Wie hätten Sie’s denn gern?« sondern: »Wie können Sie angesichts der Ihnen jetzt gegebenen Situation sinnstiftend Ihr Leben weiterführen?« So ist Biographieberatung eine Art Entwicklungshilfe für das Individuelle und Einmalige eines Menschen. Die biographische Krise ruft nach einem aktiven Ergreifen des Schicksals, nach Schicksalsgestaltung. »Erkenne dich selbst« und »Ergreife dich selbst« – das ist heute das gleiche. Biographieberatung soll eine hinweisgebende Hilfeleistung sein auf dem meist langen und mühseligen Weg der tätigen Selbsterkenntnis.

Und es geht, ausgelöst zumeist durch Krisen oder Übergänge, um eine Selbsterkenntnis, die sich in erster Linie auf die Zukunft richtet, auf das, was ich noch nicht bin. Dieses Selbst, das sich da erkennen will oder soll, entsteht in gewisser Weise erst in dem Moment des Sich-Aufrichtens und Sich-Aufraffens. Erkennen und Gestalten sind hier eins.

So mag es auch in dem angeführten Fall weniger darum gegangen sein, durch die lebensgeschichtliche Analyse eine genaue Erklärung für die aktuellen Beziehungsverwicklungen zu finden, als vielmehr darum, den Sinn dieser Krise zu finden und daraus weiterführende Handlungsmöglichkeiten abzuleiten. Hier ging es für Herrn K. darum, Autonomie zu lernen, sich unabhängig zu machen vom Anpassungsdruck und Neid seiner Kollegen, für die nicht Erfahrung und überschauende Kompetenz zählten, sondern nur die unablässige Produktivitätssteigerung. Dass es um das Ziel der Autonomie ging, zeigte sich auch darin, dass sich zunächst das Gegenteil von Autonomie einstellte. Nicht nur finanziell, sondern auch, was seine Selbstachtung betraf, drohte Herr K. in eine lähmende Abhängigkeit von seiner Frau zu geraten. Sie war beruflich selbständig, eine selbstbewusste Frau mit vielfältigen sozialen Bezügen – und er, als jetzt Arbeitsloser, wiederum klein, unbedeutend und wie überflüssig daneben stehend. Das Thema, um das es geht, spitzt sich also noch einmal zu – wie wir überhaupt oft finden, dass das, was als Krise erlebt wird, noch gar nicht der eigentliche Umbruch ist, sondern im Gegenteil zur letzten Zuspitzung, ja zur Karikatur dessen führen kann, was schon lange anwesend war.

Herr K. konnte erst in der erneuten Zuspitzung erkennen, worauf diese Krise hinaus wollte: Sich nicht mehr da heraus zu definieren, was er für andere war, ob er ihnen wichtig war oder nicht, sondern unabhängig von anderen seine Prägungen, Erfahrungen und Fähigkeiten einzusetzen und sich in dieser Unabhängigkeit zu erkennen. – Nach einer Umschulung wurde er Unternehmensberater und war bald so gefragt, dass er es sich aussuchen konnte, welche Aufträge er annehmen wollte.

In dieser Auflösung der Krise liegt kein Patentrezept, sondern nur das für diese Individualität jetzt Sinnvolle. Für andere Individualitäten in ähnlicher Situation kann anderes sinnvoll sein. Immer aber wird die tätige Selbsterkenntnis darin bestehen, die Sprache der Krise so zu hören, dass ein Klang aus der Zukunft ertönt.

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