Psychotherapie - wozu und wie?

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Psychotherapie - wozu und wie?
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Inhalt

Impressum

Vorwort

Wozu gibt es die Psychotherapie?

Der Bedarf an Psychotherapie nimmt stetig zu

Was eine moderne Psychotherapie bieten sollte

Vom Sinn psychischer Störungen - und dem sozialen Bedarf an psychischen Auffälligkeiten

Eine Psychotherapie des Graubereiches

Das Wesen von Problemen - Identitäten im Konflikt

Die Aufgaben der Identität

Ein Bild von der komplexen Psyche

Wie Probleme ihre eigenen Lösungen enthalten

Eine Psychotherapie der Identitäten

Problemformen im Graubereich

Nicht therapeutische Lösungen

Im staatlichen Auftrag - von da an ging’s bergab

Interessengruppen, die die Psychotherapie bestimmen

Das Psychotherapie-Gesetz

Behandlungsmonopole durch Richtlinien-Therapie

Die Klassifizierung durch Diagnosen

Der Gutachtenzwang

Die Dokumentationspflicht

Die Psychotherapie im Würgegriff der Ökonomie

Das Qualitätsmanagement

Die Effektivitätskontrolle

Schematisierte Psychotherapie - Leitlinien-Behandlung

Boni für Ärtze, Renditevorgabe und Kostenminderung

Die Eroberung des Graubereiches - wie die Menschen pathologisiert werden

Der Krake wächst

Psychische Modelle - fragwürdige Konstruktionen

Defizitorientierung

Therapeutische Wisserei

Wissenschaftliche Scheinobjektivität

Der Einfluss der Pharmaindustrie

Fazit zur Richtlinien-Psychotherapie

Psychotherapie ist keine modularisierte Fertigkeit, sondern eine Kunst des Verstehens

Michael Mary
Psychotherapie - Wozu und Wie?

Dieses Buch ist erstmals unter dem Titel ‘Ab auf die Couch’ 2013 im Karl Blessing Verlag erschienen. Hier handelt es sich um eine komplett bearbeitete Neufassung.

Epub: ISBN 978-3-946370-12-3

© 2021 by Verlag Henny Nordholt Yokohamastraße 10 D 20457 Hamburg Email

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Vorwort

Dieses Buch wurde ursprünglich (2013) als Ausdruck meines wachsenden Unbehagens an der Entwicklung einer staatlich kontrollierten, dem medizinischen System unterstellten Psychotherapie verfasst. Gleichzeitig habe ich darin meinen Entwurf zu einer Psychotherapie des Graubereiches - jener ganz normalen psychischen Störungen, die keinesfalls als Krankheiten aufzufassen sind - geschildert.

In dieser aktuellen Bearbeitung habe ich die Reihenfolge umgekehrt. Ich beginne mit der Frage nach dem Sinn ganz normaler psychischer Störungen und dem therapeutsichen Umgang damit, und erst anschließend widme ich mich der Kritik der Entwicklung, die die staatlich kontrollierte Psychotherapie einschlägt.

Meine Schilderungen mögen diejenigen, die sich für eine Psychotherapie entscheiden, zum Einen darin stärken, sich nicht rundweg als psychisch krank zu sehen und zum Anderen ihre Position gegenüber Therapeuten stärken, die ihnen gegenüber die von mir beschriebene ‘Wisserei’ im Umgang mit psychischen Problemen betreiben, statt ihnen auf Augenhöhe zu begegnen.

Michael Mary in 2021

Wozu gibt es die Psychotherapie?

Wozu gibt es die Psychotherapie überhaupt, oder anders gefragt: Wozu kam sie in die Welt und worin besteht ihr Auftrag? Es gibt sie ja erst seit etwa 130 Jahren, und sie hat sich ursprünglich unabhängig von der Medizin entwickelt. Das geschah nicht zufällig. Denn beide Methoden unterscheiden sich so erheblich voneinander, dass sie nicht miteinander vereinbar sind.

Der ureigene Auftrag der Psychotherapie besteht nicht in der Behandlung von Psychen, so wie ein Arzt den Körper seines Patienten behandelt, sondern in der Begleitung von Menschen durch schwierige Lebensphasen.

Dieser These nach wäre die Basis der Psychotherapie weder Medizin noch Ingenieurskunst noch Wissenschaft noch Technik, sondern ganz im Gegenteil menschliche Zuwendung. Diese Zuwendung hätte zum Ziel, eine individuelle Neuorientierung im Leben zu ermöglichen oder in einer individuell schwierigen Lage einen Sinn zu finden.

Lassen Sie mich den Unterschied zwischen therapeutischer Begleitung und ärztlicher Behandlung anhand eines kleinen Beispiels erläutern.

Eine junge Frau namens Helga, 26 Jahre alt, ist bedenklich abgemagert, keiner weiß warum. Sie läuft von Arzt zu Arzt und lässt über ein Jahr hinweg den Darm, die Schilddrüse, den Hormonhaushalt, den Magen, das Blut und alles Mögliche untersuchen, ohne dass etwas Greifbares gefunden wird. Dadurch gelangen ihre Ärzte zu der Überzeugung, die Ursache ihrer Erkrankung müsse psychisch sein. Helga, die inzwischen gerade noch 40 Kilo wiegt, wird mit der Diagnose ‚Magersucht’ an eine psychotherapeutische Klinik überwiesen. Sie nimmt dort an etlichen Therapiesitzungen teil, erscheint den Psychologen indes psychisch recht normal zu sein, kein Vergleich zu den übrigen dort befindlichen Magersüchtigen. Daher werden weitere ärztliche Untersuchungen veranlasst, unter anderem eine Computertomografie. Diese zeigt eine Entzündung im Gehirn. Nun wird Helga aus der Klinik entlassen und wieder einer medizinischen Betreuung zugeführt. Sie gesundet.

Das Beispiel macht sehr deutlich, wann eine Psychotherapie zum Einsatz kommt. Die Laborergebnisse zeigen keinen Befund und die körperliche Untersuchung ergibt kein schlüssiges Symptombild. Die Ärzte können dem lebensbedrohlichen Zustand der Patientin keine Ursache zuordnet und sind daher mit ihrem Latein am Ende. Wenn das Leid offenbar nicht körperlich verursacht ist, muss es wohl ‚psychisch’ bedingt sein, so vermuten sie, und daher sollen sich Psychotherapeuten mit der Frau befassen.

Halten wir also fest: Psychotherapeuten kommen zum Einsatz, wenn nichts medizinisch Greifbares gefunden wird und die Mittel der Ärzte versagen. Das Beispiel zeigt auch, wann Psychotherapie nicht angebracht ist. Nämlich dann, wenn eine medizinische Ursache für einen Leidenszustand feststeht.

 

Nun wird der Unterschied zwischen Medizin auf der einen und einem Psychotherapie auf der anderen Seite nachvollziehbar. Handelt es sich um einen Zustand, dem eine klare Ursache zugeordnet werden kann und für den eine eindeutige Diagnose zur Verfügung steht, dann kommen Ärzte (und Psychiater) als Behandler zum Einsatz. Handelt es sich um einen unklaren Zustand, für den man auf die Vermutung psychischer Gründe angewiesen ist, dann kommen Psychotherapeuten als Begleiter zum Einsatz.

Der Unterschied zwischen Medizin und Psychotherapie ist demnach der Unterschied zwischen einer Behandlung und einer Begleitung.

Um diesen Unterschied noch weiter zu verdeutlichen, hier ein weiteres kurzes Beispiel.

Ein 38jähriger Mann kommt in geistig verwirrtem Zustand in ein Krankenhaus und redet wirres Zeug. Wohin mit ihm? Auf die Intensivstation oder in die Psychiatrie? Entweder erfährt der Arzt, dass sein Patient gerade Drogen genommen hat, dann weist er ihn nicht in die Psychiatrie ein, sondern behandelt ihn medizinisch. Oder der Arzt erfährt, dass der Betroffene gerade Zeuge einer Gewalttat war, dann wird er ihn für traumatisiert halten und ihn einer psychotherapeutischen Betreuung zuführen.

Beide Beispiele weisen auf den wesentliche Unterschied zwischen Medizinern (und Psychiatern) auf der einen und Psychotherapeuten auf der anderen Seite hin. Dieser Unterschied besteht in den Dingen, mit denen sich die jeweiligen Spezialisten befassen. Die einen wenden sich den greifbaren Dingen zu, die anderen befassen sich mit den nicht greifbaren Dingen. Die einen befassen sich mit dem Körper, die anderen mit der Psyche.

Umgang mit vagen Vorgängen

Der Körper ist im Vergleich zur Psyche konkret und greifbar, die Psyche ist im Vergleich zum Körper vage und unbestimmt. Der Körper ist bei jedem Menschen relativ gleich aufgebaut. Deshalb kann und sollte beispielsweise Diabetes strukturiert behandelt werden. Der Arzt, der Diabetes behandelt, geht am besten nach einem festgelegten Plan vor. Zuerst stellt er fest, ob es sich um eine Typ A- oder Typ B-Diabetes handelt. Er misst den Blutzucker. Er empfiehlt gegebenenfalls einen Ernährungsplan. Er spritzt Insulin. Er führt anschließend Kontrolltests durch. Dem Mediziner ist es dabei gleichgültig, unter welchen Umständen sein Patient aufgewachsen ist, ob es ihm an Selbstbewusstsein mangelt, welchen Beruf er ausübt und ob er eine Liebesbeziehung hat oder nicht. Er braucht den Menschen nicht zu kennen, nicht einmal seinen Namen, er reicht ihm, sich mit dessen Körperteilen zu befassen.

Wer sich allerdings mit der Psyche befasst, der kann nicht auf vorgegebene Schemata und Ordnungsprinzipien zugreifen. Die Psyche der Individuen ist unterschiedlich strukturiert. Die Erfahrungen, die Erwartungen und die Weltsicht des Einzelnen sind im wahrsten Sinn des Wortes einzigartig. Deshalb kann eine Psyche nicht nach Plan A oder Plan B behandelt werden, vielmehr muss der Psychotherapeut auf die individuellen Besonderheiten seines Klienten eingehen. Dabei kommt es auf schwer greifbare Faktoren an, auf unübersichtliche Lagen, auf die konkreten Lebensumstände, auf das Beziehungsgeflecht, auf die Einstellungen des Betroffenen. Wie waren seine Eltern? Hat er Geschwister? Gibt es unverarbeitete Schicksalsereignisse? Wodurch wurde seine Krise ausgelöst? Über welche psychischen Ressourcen verfügt er? Welcher Sinn mag in der Störung liegen? Was wird er als Lösung seines Problems empfinden?

Psychotherapie tut etwas, das weder Medizin noch Psychiatrie tun können. Sie befasst sich mit den nicht verallgemeinerbaren Dingen: mit der Individualität eines Menschen, mit seinen psychischen Besonderheiten, mit jenen Merkmalen und Merkwürdigkeiten, die aus ihm erst ein Individuum machen.

Der Soziologe Peter Fuchs hat das Phänomen der Psychotherapie einer Analyse unterzogen1 und dabei nach einer Antwort auf die systemisch-soziologische Frage gesucht, mit der er gesellschaftliche Phänomene aufschlüsselt. Diese Frage lautet: „Als Lösung welchen sozialen Problems lässt sich die Psychotherapie deuten?“2 Die Antwort auf diese höchst aufschlussreiche Frage lautet: Psychotherapie löst das gesellschaftliche Problem, mit individualisierten Psychen umzugehen. Psychotherapie deckt den zunehmenden Bedarf an Fachleuten, die mit Themen und Sachverhalten umgehen können, die in kein vorgegebenes Schema passen und für die es keine vorgegebenen Lösungen gibt. Peter Fuchs bezeichnet Psychotherapeuten daher treffend als moderne „Verwalter der vagen Dinge“, einen Begriff, den er vom Philosophen Paul Valéry ausgeliehen hat.

Besser kann man es meines Erachtens kaum ausdrücken. Die Psyche ist kein fassbares Ding. Niemand hat je eine Psyche gesehen. Selbst wenn man das Gehirn eines Menschen in Scheiben schneidet oder in Moleküle zerlegt, wird man darin keine Psyche finden. Unter dem Mikroskop tauchen nur Zellen, Stoffwechselvorgänge und Synapsen auf, weder Gedanken noch Gefühle. Die Psyche verarbeitet keine chemischen Stoffe, so wie das Gehirn, die Nieren oder die Leber es tun. Sie pumpt kein Blut durch die Adern wie das Herz es tut und löst keinen Sauerstoff aus der Luft, um ihn dem Blut zuzuführen, wie die Lunge das macht.

Die Psyche hat nur eine einzige Aufgabe: Sie deutet Wahrnehmungen und versucht ihnen Sinn zu verleihen.

Die Psyche deutet Hirnereignisse und sie deutet von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Daher können verschiedene Menschen zwar das Selbe sehen, aber dennoch etwas ganz Unterschiedliches erleben. Ihnen kann dasselbe Ereignis zustoßen, aber sie verarbeiten es zu ganz unterschiedlichen Erfahrungen. Sie können den gleichen Umständen ausgesetzt sein und entwickeln dennoch völlig unterschiedliche Reaktionen darauf. Sie können die gleichen Erlebnisse gehabt haben, und diese dennoch ganz unterschiedlich erinnern.

Die geschilderte Erkenntnis dessen, was Psychotherapeuten tun, lässt Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Entwicklung der jüngeren Geschichte zu. Denn da es die Psychotherapie erst seit etwa 130 Jahren in einer modernen Form gibt und da ihre Bedeutung weiter zunimmt, muss in der neuen Zeit der Bedarf an individuellen Lösungen psychischer Probleme enorm zugenommen haben. Dass dies tatsächlich der Fall ist, zeigt ein Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die zur Entstehung der Psychotherapie geführt haben.

1 Siehe hierzu das Video Peter Fuchs über Psychotherapie

2 Siehe hierzu von Peter Fuchs Die Verwaltung der vagen Dinge, 2011 Carl-Auer-Systeme Verlag Heidelberg, Seite 28

Der Bedarf an Psychotherapie nimmt stetig zu

Wie gesagt, da sich die Psychotherapie in der heutigen Form erst seit kurzer Zeit gibt und ihr Auftrag in der Begleitung von Einzelnen liegt, muss es zu einem enormen Zuwachs an Individualität gekommen sein. Ein Blick auf die gesellschaftliche Entwicklung zeigt, dass dies tatsächlich der Fall ist und klärt, warum der Bedarf an individueller Orientierung in wechselnden Lebensumständen weiter zunimmt.

Gruppenidentität - wer man früher war

In den Jahrhunderten vor dem 19. Jahrhundert unterschied sich die Lebenswelt des Einzelnen völlig von der heutigen. Die Menschen lebten in einer ständisch strukturierten Gesellschaft. Deren übersichtliche Struktur vermittelte eine verlässliche Orientierung. Wie man sich in dem jeweiligen Stand zu verhalten hatte, was man denken, sagen und fühlen sollte, was man tun oder lassen durfte, wozu man verpflichtet war und was einem blühte, wenn man sich nicht an die Regeln hielt, all das war unzweifelhaft und jedem bekannt. Der Einzelne verfügte daher über ein einziges, relativ klar definiertes Ich, er wusste, wer er war. Er war entweder Leibeigener, Bauern, Handwerker, Bürger oder Feudaler – andere ‚Seinsmöglichkeiten’ standen nicht zur Verfügung.

Wer zu jener Zeit beispielsweise Bauer oder Bürger war, der war das immer und überall, zu jeder Tages- und Nachtzeit, mit Haut und Haaren, durch und durch. Er war das auf dem Dorfplatz, im Gerichtssaal, im Krieg oder Frieden, auf Reisen oder in der Stadt, im Bett oder am Tisch. Die Gesellschaft hatte ihm einen dem Stand, in den er hinein geboren wurde, entsprechenden Mantel umgehängt und ihm erklärt: „Das bist Du!“ Der Einzelne war mit einer festen, verlässlichen und bestimmten Identität ausgestattet. Es handelte sich dabei jedoch nicht um eine individuelle, sondern um eine Gruppenidentität. Man war „Ich, der Bauer“ oder „Ich, der Bürger“ und nicht „Ich, der Georg“ oder „Ich, die Lisa“.

Ein Bauer bestellte nicht bloß die Erde mit seinen Händen, er war nicht nur äußerlich Bauer, sondern er war es auch innerlich. Er fühlte wie ein Bauer und blieb daher von romantischen Schwärmereien verschont. Er dachte wie ein Bauer und reiste nicht durch die Welt, sondern blieb seiner Scholle verhaftet. Er hielt das für wichtig, was für einen Bauer wichtig war. Daher schrieb er keine Gedichte und spekulierte nicht mit Geld, vielmehr versuchte eine gute Partie zu heiraten und so weiter und so fort. Es war für ihn relativ einfach, seine Identität - sein bäuerliches Ich oder seine Vorstellung davon, wer er ist - zu bewahren, weil er sich nur im bäuerlichen Bereich und sonst nirgends aufhalten durfte. Auch dem Leibeigenen gegenüber war er Bauer, als Höhergestellter und ebenso dem Feudalherren gegenüber, als Untergebener. Er war ‚Ich der Bauer’ durch und durch, eine andere Identität als diese Gruppenidentität stand ihm nicht zur Verfügung.

Die übersichtliche aufgebaute ständische Gesellschaft bot kaum Spielraum für Individualität, daher waren die psychischen Probleme, die beim Einzelnen auftauchten, auch nicht im heutigen Sinne individuell. Natürlich hatten auch die Menschen jener Zeit psychische Probleme. Aber wenn, dann hatten sie diese als Leibeigener, als Bauer, als Handwerker, als Bürger oder als Feudaler. Besonders komplex waren diese Probleme nicht und sie unterschieden sich kaum von Bauer X zu Bauer Y oder von Bürger X zu Bürger Y. Deshalb genügte es, im psychischen Problemfall zu den bewährten Spezialisten für das wenige Vage1 zu gehen. Diese Spezialisten waren die Priester und Heiler, die Mystiker und die Poeten. Sie verfügten über erprobte Mittel, um eine unter damaligen Umständen verlorene Orientierung oder angegriffene Identität, um ein ins Wanken geratenes Ich, wieder auf die richtige Spur zu bringen. Sei es Gottes Wort oder ein magischer Spruch oder sie warfen Knochen oder erzählten Geschichten und schrieben Lieder und Gedichte. Half das nicht, um jemanden zurück auf seinen ihm zugewiesenen Platz zu bringen, hielt die Rechtsprechung andere, brachiale Mittel bereit, um Ausbrecher zurück in ihre Identität zu zwängen.

Individuelle Identitäten - wer man heute ist

Machen wir einen Sprung in heutige, moderne Verhältnisse, in denen sich fast alles verändert hat. Heute sind die Stände abgeschafft, die sozialen Lebensbereiche liegen horizontal nebeneinander und sind durchlässig. Zudem scheint ihre Anzahl schier unbegrenzt zu sein.

Lassen Sie mich einige dieser sozialen Bereiche aufzählen. Da wäre beispielsweise der Arbeitsbereich, der Finanzbereich, der Erziehungsbereich, der Liebesbereich, der militärisch Bereich, der sexuelle Bereich, der politische Bereich, der kirchliche Bereich, der Forschungsbereich, der Justizbereich, der Freizeitbereich, der wissenschaftliche Bereich, der Schulbereich, der Wirtschaftsbereich, der Universitätsbereich, der Freundschaftsbereich, der Kindergartenbereich, der Versicherungsbereich, der kriminelle Bereich, der Börsenbereich, der Pflegebereich, der Gesundheitsbereich, der Rentenbereich … um nur die wichtigsten zu nennen. Damit aber nicht genug. Jeder dieser Bereiche ist nochmals in unzählige Unterbereiche gegliedert. Der Bankenbereich etwa in einen Kreditbereich, einen Aktienbereich, einen Investitionsbereich, einen Anleihenbereich, einen Sparbereich, einen Obligationsbereich, einen Immobilienbereich, einen Lobbybereich und so weiter und so fort. Eine vergleichbare Aufsplitterung gilt für alle anderen Bereiche.

 

Versucht man sich ein Bild dieser überaus komplexen modernen Gesellschaft zu machen, dann setzt sich diese aus zahllosen Fragmenten zusammen. Man kann sich einen Planeten vorstellen, dessen Oberfläche von einem riesigen Puzzle aus unzähligen Teilen gebildet wird. Das Puzzle Gesellschaft besteht allerdings nicht aus kleinen Pappkarten, nicht aus totem Material, vielmehr lebt es. Ständig ist ein Bereich im Umbruch, er gliedert weitere Unterbereiche aus oder es entstehen neue Bereiche.

Diese Beweglichkeit und enorme Komplexität haben zur Folge, dass die moderne Gesellschaft unüberschaubar ist.

Niemand kann sie als Ganzes im Blick haben. Schaut man nach Norden, verändert sich schon der Süden, Osten und Westen. Beschreibt man dann, was sich im Westen verändert, ist der Norden schon nicht mehr der Gleiche. Wo man auch hinschaut, nichts lässt sich festschreiben. Was hat diese Entwicklung zu einer nie da gewesenen gesellschaftlichen Komplexität mit dem Thema Psychotherapie und dem Individuum zu tun? Sehr viel.

Der Einzelne ist heute gezwungen, sich in unterschiedlichsten Bereichen zu bewegen, wenn er an der Gesellschaft teilhaben will. Ein Individuum muss sich im Wirtschafts-, im Finanz-, im Gesundheits-, im Religions-, im Arbeits- im Liebesbereich etc. und in den dazu gehörigen unzähligen Unterbereichen zurechtfinden und verhalten können.

Heute reicht ein einziges ‚Ich’ nicht mehr aus.

Der moderne Mensch hat dazu viele unterschiedliche Identitäten - unterschiedliche Ich - kultiviert, zwischen denen er in seinem Lebensalltag ständig wechselt. Er verfügt über nichts Festes mehr, zu dem er verlässlich 'Ich' sagen könnte. Würde er versuchen, sich in der komplexen Gesellschaft auf ein einziges Ich festzulegen, bekäme er alsbald Probleme.

Machen wir den Versuch. Wie weit kommt man ‚als Bauer’ oder ‚als Feudaler’ im Bankenbereich? Keinen Schritt weit, denn dort interessiert nur Geldt. Dort ist man Käufer oder Verkäufer, sonst nichts. Wie weit kommt man ‚als Bürger’ oder ‚als Feudaler’ im Universitätsbereich? Bis zur Pforte, denn dort sind nicht Herkunft, sondern wissenschaftliche Titel und Leistungen gefragt. Kann man ‚als Handwerker’ oder ‚als Feudale’ einen Partner lieben? Natürlich nicht, heute ist man schlicht ein Liebender, der auf die innerlichen Vorgänge des Partners mit Zuwendung reagieren muss.