Demokratie unter Schock

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Demokratie unter Schock
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Martin Debes

DEMOKRATIE UNTER SCHOCK

Wie die AfD einen Ministerpräsidenten wählte


Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

2. Auflage August 2021

Satz und Layout:

Satzzentrale GbR, Marburg

Umschlagabbildung:

dpa Picture-Alliance GmbH, Bodo Schackow (Handschlag Kemmerich/Höcke);

dpa Picture-Alliance GmbH, Martin Schutt (Ramelow); Sascha Fromm/Thüringer Allgemeine (Merkel; Mohring)

Umschlaggestaltung:

Joachim Bartels, Essen

Druck und Bindung:

Majuskel Medienproduktion GmbH, Elsa-Brandström-Str. 18, 35578 Wetzlar

ISBN 978-3-8375-2431-4

eISBN 978-3-8375-2471-0

Alle Rechte vorbehalten

© Klartext Verlag, Essen 2021


Jakob Funke Medien Beteiligungs GmbH & Co. KG Jakob-Funke-Platz 1, 45127 Essen info.klartext@funkemedien.de www.klartext-verlag.de

Inhalt

PROLOG

KAPITEL 1THÜRINGER VERHÄLTNISSE

Der Aufsteiger

Die Pastorin

Der Extremist

Das linke Experiment

Gegenkandidaten

„Versöhnen statt Spalten“

Ein Widerspruch namens Ramelow

KAPITEL 2ROTES LAND

Es wird schmutzig

Schwarzer Neubeginn

Höckes Flügel

Mohrings Hoffnung

KAPITEL 3STRATEGISCHE AUFSTELLUNG

Der Schutzengel

„Sag niemals nie“

Der rote Kretschmann

Der Cowboy

Wahlkampf-Finale

KAPITEL 4OHNE MEHRHEITEN

Thüringen-Tag in Berlin

Ausfallschritt nach rechts

Ein unmoralisches Angebot

Die Lehren von Weimar

Verhärtungen

Projekt Regierung

Die zerrissene Union

KAPITEL 5ENDSPIEL

Letzter Versuch

Der Scheinkandidat

Bedenke das Ende!

In der Falle

Sieben Sekunden

KAPITEL 6MINISTERPRÄSIDENT KEMMERICH

Der perfekte Sturm

Chaos

Abschied und kein Willkommen

Geschichtsstunde

Paralysiert in Erfurt

Out of Afrika

Besuch aus Berlin

KAPITEL 7DER PAKT

Endkämpfe in Erfurt

Kapitulationen

Koalitionsausschuss

Rücktritt

Noch mehr Rücktritte

Behelfskabinett

„Martin, hol’ mir ein Glas Wein“

Bratwurst mit Kartoffelsalat

Alles auf Anfang

Im Auge des Hurrikans

Türsteher Ramelow

Verdrängte Vergangenheit

Aschermittwoch

Corona

Drei Wahlgänge

EPILOG

ZU DIESEM BUCH

ANMERKUNGEN

PROLOG

Es war um 13.28 Uhr, als zum ersten Mal an jenem trüben 5. Februar 2020 die Sonne durch die großen Glasscheiben des Plenarsaals im Erfurter Landtag gleißte. Ein Strahl fiel direkt auf den glattrasierten Kopf eines Mannes, der in marineblauem Anzug, offenem weißen Hemd und schwarzen Cowboystiefeln auf grauer Auslegware stand.

Gerade hatte eine einfache Mehrheit des Parlaments ihn, den FDP-Abgeordneten Thomas Kemmerich, dessen Landespartei mit 5,0066 Prozent ins Parlament gelangt war, zum Ministerpräsidenten des Freistaats Thüringen gewählt. Die Abstimmung war geheim. Aber jeder im Saal wusste, dass die meisten Stimmen für ihn nicht von der CDU oder gar von seiner kleinen FDP stammten – sondern von der selbsternannten Alternative für Deutschland. Die AfD-Fraktion hatte ihrem eigenen Bewerber, einem Dorfbürgermeister, keine einzige Stimme gegeben und damit das höchste Verfassungsorgan des Landes belogen und vorgeführt.

Obwohl der Betrug so offensichtlich wirkte, hatte Thomas Kemmerich die Frage, ob er die Wahl annehme, fast ohne Zögern mit „Ja“ beantwortet. Nun stand er, von der Sonne beschienen, vor einer Frau in schwarzem Kostüm. Birgit Keller, die Landtagspräsidentin, gehörte der Linken an, also jener Partei, deren Ministerpräsident Bodo Ramelow gerade abgewählt worden war. Sie soufflierte dem FDP-Mann Halbsatz für Halbsatz den Eidestext, wie er in Artikel 71 der Landesverfassung steht.

Er sprach ihr nach: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des Volkes widmen, Verfassung und Gesetze wahren, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde.“ Dann fügte Kemmerich an: „So wahr mir Gott helfe.“

Die Protokollanten notierten: „Beifall AfD, CDU, FDP.“

Damit war Thomas Kemmerich im Amt – und die aus den Trümmern der NS-Diktatur gegründete Bundesrepublik im Innersten erschüttert. Erstmals seit 1945 hatte ein Regierungsmitglied, ein Regierungschef gar, mit Hilfe von Rechtsextremen die Macht erlangt.

An der Spitze jener Thüringer AfD, die Kemmerich zum Ministerpräsidenten gemacht hatte, stand ein Mann, der seit Jahren versuchte, die Partei zu einer völkischen „Widerstandsbewegung“ zu formen. Björn Höcke hatte den rechtsnationalen „Flügel“ gegründet, eine „180-Grad-Wende der Erinnerungskultur“ gefordert, auf Demonstrationen „1000 Jahre Deutschland“ beschworen und damit gedroht, die CDU-Bundeskanzlerin Angela Merkel „in einer Zwangsjacke“ abzuführen.

 

Und er hatte die Vision eines gewaltsamen Umsturzes beschrieben. „Wenn einmal die Wendezeit gekommen ist, dann machen wir Deutschen keine halben Sachen, dann werden die Schutthalden der Moderne beseitigt“1, sagte er. „Auch wenn wir leider ein paar Volksteile verlieren werden, die zu schwach oder nicht willens sind, sich der fortschreitenden Afrikanisierung, Orientalisierung und Islamisierung zu widersetzen.“

Nach der Wahl Kemmerichs wurden Parallelen zur Weimarer Republik gezogen – und zu Thüringen im Jahr 1924. Damals hatte eine bürgerliche Regierung zum ersten Mal mit Hilfe von Rechtsextremisten eine Linkskoalition abgelöst. Wenige Jahre später konnte die NSDAP den Innenminister stellen. Die Grundlagen der Machtergreifung im Januar 1933 wurden damit auch in Thüringen und dessen damaliger Landeshauptstadt Weimar gelegt.

Nun also, ein knappes Jahrhundert später, hatte das kleine Land, in dem 2,5 Prozent der deutschen Bevölkerung leben und das 1,8 Prozent zum nationalen Bruttoinlandsprodukt beiträgt, für einen „Schock“ (Jürgen Habermas) gesorgt, dessen Wellen international wahrgenommen wurden. In einem Gastkommentar in der „New York Times“ hieß es, dass Deutschlands Post-Nazi-Tabu „zerstört“ worden sei2. Der britische Guardian schrieb von „besorgniserregenden Erinnerungen an Weimar“3.

Die innenpolitischen Auswirkungen waren massiv. Das Ziel, den ersten und einzigen linken Ministerpräsidenten Deutschlands abzulösen, hatte für einen Moment AfD, CDU und FDP insgeheim vereint. Doch erst in der Sekunde, in der Kemmerich die Wahl annahm, sanktionierte er das teils unfreiwillige Bündnis und produzierte einen der größten politischen Skandale in der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Gleichzeitig sorgte er damit aber, wie Habermas es formulierte, auch für die „Klärung einer politischen Frontlinie“4. Denn nun wurde die Grenze zwischen den beiden bürgerlichen Parteien CDU und FDP auf der einen Seite und der extremen AfD auf der anderen Seite neu und hart gezogen. Kanzlerin Merkel erklärte, dass der Vorgang „unverzeihlich“ sei und „rückgängig gemacht“ werden müsse. Nur vier Wochen später war das Ultimatum erfüllt. Am 4. März 2020 wählte der Landtag Bodo Ramelow wieder zum Ministerpräsidenten. Er wurde zum Nachfolger seines Nachfolgers.

Der Preis: Die CDU sah sich genötigt, erstmals die Linie gegenüber der SED-Nachfolgepartei Linke zu verwischen. Der so genannte Stabilitätspakt, den die Thüringer Union mit der rot-rot-grünen Minderheitskoalition drei Wochen nach der Wahl Kemmerichs schloss, führte zu einer De-facto-Tolerierung von Ramelows Regierung.

Der 5. Februar 2020 wurde zur Zäsur. Dies galt für die strategische Ausrichtung und Selbstwahrnehmung der deutschen Parteien. Und dies galt für ihre personelle Aufstellung. Mit dem angekündigten Rücktritt der CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer begann die lange, zermürbende Suche der größten deutschen Partei nach einer neuen Führung in der Nach-Merkel-Ära. Währenddessen begab sich die Thüringer Union mit dem Abgang ihres Landesund Fraktionsvorsitzenden Mike Mohring auf den schmerzhaften Weg der Selbstfindung.

Doch wie kam es zum Schock von Erfurt, zum Schock der Demokratie? War die Wahl Kemmerichs ein Komplott von AfD, CDU und FDP, ein „von langer Hand“ geplanter „Pakt mit dem Faschismus“5, wie es einige Linke, Sozialdemokraten und Grüne bis heute behaupten? Oder handelte es sich eher um einen „perfiden Trick“6 der AfD, auf den ahnungslose Christdemokraten und Liberale hereinfielen? So jedenfalls möchte es Thomas Kemmerich gerne betrachtet haben.

Es war komplizierter. Programme mischten sich mit Prinzipien, Ideale mit Ideologien, Ambitionen mit Ansprüchen. Hinzu kamen Dreistigkeit, Dickköpfigkeit und Dummheit – und der eine oder andere Zufall. Gleichzeitig lassen sich die Geschehnisse nicht ohne die handelnden Personen und deren Vorgeschichte erklären. Denn dies ist eine Fortsetzungsserie, mit mindestens zwei Prequels, die in den Jahren 2009 und 2014 spielten. Das Sequel dürfte nach der kommenden Landtagswahl folgen.

Der menschliche Faktor ist groß in diesem kleinen Land, in dem sich niemand wirklich aus dem Weg gehen kann. Die landespolitische Kaste, einschließlich aller Landesbischöfe, Hochschulrektoren, Oberbürgermeister und Landräte, passt mühelos in einen mittleren Saal, wobei sich die Mehrzahl parteiübergreifend duzt.

Im Folgenden wird versucht, die politischen und persönlichen Linien darzustellen, die zum 5. Februar 2020 führten. Dies nimmt einen gewissen Raum in Anspruch, bevor dann die eigentlichen Ereignisse um die Wahl von Thomas Kemmerich geschildert werden. Doch dieser Raum ist nötig: Vieles wird nur mit dem Wissen um die gemeinsame Vergangenheit der Beteiligten vollständig verständlich.

Ein Beispiel: Die Idee eines linken Ex-Ministerpräsidenten, seine christdemokratische Amtsvorgängerin als Platzhalterin in die Staatskanzlei zu bugsieren, wirkt ohne Kenntnis der gemeinsamen Vergangenheit der beiden geradezu bizarr. Ebenso wenig lässt sich die Implosion der Thüringer CDU ohne die in Jahrzehnten gewachsene Feindschaft der Männer an ihrer Spitze erklären.

Aber auch sonst ist von dem, was im Herbst 2019 und im Winter 2020 in Thüringen geschah, längst nicht alles erzählt. Dieses Buch leuchtet die Ereignisse auch an jenen Stellen aus, die bislang im Dunkeln oder im Halbschatten blieben. Die konspirativen Treffen, die geheimen Absprachen, die privaten Textnachrichten, die internen Protokolle, die verborgenen Motivlagen: Erst diese Informationen und Details lassen ein annähernd vollständiges Bild der Ereignisse entstehen.

In Zentrum der Handlung steht die Thüringer CDU, die seit ihrer Neugründung im Jahr 1990 nur die Position der Macht gekannt hatte. Umso tiefer war ihr Fall, als sie im Jahr 2014 erstmals in die Opposition musste. Sie betrieb Realitätsverleugnung und versäumte es, sich ernsthaft strategisch und inhaltlich neu aufzustellen. Dies trug neben objektiv widrigen Umständen dazu bei, dass die Partei nach der Landtagswahl 2019 endgültig zwischen Linke und AfD eingeklemmt wurde. Den letzten verbliebenen Bewegungsspielraum nahm ihr die Berliner Parteizentrale.

Ansonsten ist das Versagen – das sich nochmals bei der abgesagten Neuwahl im Juli 2021 zeigte – vornehmlich maskulin. Es waren vor allem Männer und ihre Alpha-Egos, die in Erfurt miteinander rangen. Bodo Ramelow, Mike Mohring, Thomas Kemmerich und Björn Höcke sind Solitäre, die immer dann, wenn es darauf ankam, vor allen anderen auf sich selbst hörten. Auch der Umstand, dass drei von ihnen – Ramelow, Höcke und Kemmerich – aus dem Westen Deutschlands stammen, verdient zumindest Erwähnung. Denn ob sie dies nun wollten oder nicht: Mit ihrer Prägung und Sozialisation hatten sie die ideologischen Rituale und politischen Kämpfe der alten Bundesrepublik in das sogenannte neue Land Thüringen gebracht.

Eine Anmerkung noch. Dieses Buch stellt keine politikwissenschaftliche Abhandlung dar, sondern den journalistischen Versuch, ein politisches Drama zu schildern. Jenseits dessen ist in Thüringen Politik selbstverständlich mehr als die Summe persönlicher Machtkämpfe. Auch hier besteht das demokratische Geschäft hauptsächlich aus harter, zuweilen ehrenamtlicher Arbeit, aus dem Ringen um den nächsten, unbefriedigenden Kompromiss und ja: aus dem Willen, es richtig zu machen.

Doch das, was nach der Landtagswahl 2019 geschah, überforderte alle Beteiligten. Es mag sein, dass die These, mit der Christopher Clark den Ausbruch des Ersten Weltkriegs erklärte, viel zu groß für das kleine Thüringen ist. Aber gefühlt passt sie zu den Geschehnissen von Erfurt: Die etablierten Parteien versuchten, eine neuartige Situation mit den alten, überkommenen Regeln zu bewältigen. Dabei stolperten sie, Schlafwandlern gleich, in eine schwere Regierungskrise. Die Einzigen, die im entscheidenden Moment hellwach wirkten, waren die Abgeordneten der AfD.

KAPITEL 1
THÜRINGER VERHÄLTNISSE

Gut vier Monate vor dem Tag, an dem Thomas Kemmerich im Landtag als Ministerpräsident vereidigt wird, sitzt der Thüringer CDU-Vorsitzende Mike Mohring auf einer großen Dachterrasse in Erfurt. Dunkelheit hat sich über die Stadt gelegt, hinter ihm beleuchten Scheinwerfer die spitzen Türme des Doms und der Kirche St. Severi. Es ist sehr spät geworden an diesem 27. Oktober 2019.

Mohring ist blass, beinahe grau im Gesicht. Einige Freunde aus seiner Landespartei stehen neben ihm, reden leise auf ihn ein. In der Nähe haben sich Mitglieder der Band aufgebaut, die für den Abend bestellt wurde. Sie tragen a cappella die Verse von Paul McCartney vor: „Blackbird fly, blackbird fly, into the light of a dark black night.“ Amsel flieg, in das Licht einer dunklen, schwarzen Nacht. „All your life, you were only waiting for this moment to be free.“ Schon dein ganzes Leben wartest du auf diesen Moment, um frei zu sein.

Der Mann, dem sie Trost singen, hat tatsächlich sein halbes Leben auf diesen einen Abend hingearbeitet, auf dieses eine Ziel, auf das Amt des Ministerpräsidenten von Thüringen. Hier, in einem schicken Neubau, der stolz „Dompalais“ genannt wird, wollte Mohring die Rückkehr seiner CDU an die Macht feiern, die sie fünf Jahre zuvor an die erste und einzige linksgeführte Regierung Deutschlands verloren hatte.

Doch nun ist er nicht frei, sondern in einer extrem komplizierten Situation gefangen. Und er muss den Medien die größte Niederlage seiner Partei in der Geschichte Thüringens erklären. Denn die Thüringer CDU, die seit 1990 immer die meisten Stimmen erhielt, ist bei der Landtagswahl an diesem Sonntag um fast 12 Prozentpunkte auf 21,7 Prozent abgestürzt. Nachdem sie schon 2014 die Regierungsmacht verlor, hat sie nun die vollständige Demütigung erlitten.

Hingegen konnte die Linke, die mit Bodo Ramelow seit fünf Jahren den Ministerpräsidenten stellt, nochmals leicht zulegen. Mit 31 Prozent ist sie erstmals stärkste Partei in einem deutschen Parlament. Gleichzeitig hat die AfD unter Björn Höcke ihre Stimmenanteile mehr als verdoppelt. Sie ist jetzt mit 23,4 Prozent die zweitstärkste Partei im Parlament – vor der CDU.

In der Summe kommen Linke und AfD auf 54,4 Prozent der Stimmen und 51 der 90 Mandate im Landtag. Gegen diese beiden Parteien kann also keine Mehrheit gebildet werden: Auch dies ist eine bislang nie dagewesene Situation in der Bundesrepublik.

Dennoch birgt die Situation für die CDU noch eine Restchance auf die Macht. Denn die Linke hat auf Kosten ihrer beiden Partner SPD und Grüne hinzugewonnen. Die Sozialdemokraten büßten ein Drittel ihrer Stimmen ein und erreichen nur noch 8,2 Prozent. Die Grünen schafften es mit 5,2 Prozent gerade so in den Landtag. Damit fehlen der Koalition, die zuvor mit knapper Mehrheit regieren konnte, plötzlich vier Stimmen im Landtag.

Allerdings ist eine bürgerliche Allianz noch weiter als das Linksbündnis von einer Mehrheit entfernt. Zwar hat es die FDP unter ihrem Landesvorsitzenden Thomas Kemmerich zurück in den Landtag geschafft. Doch jede ohne Linke oder AfD ausdenkbare Koalition, ob nun Jamaika (Schwarz-Rot-Gelb), Kenia (Schwarz-Rot-Grün) oder Simbabwe (Schwarz-Rot-Gelb-Grün), befände sich in der Minderheit.

Für Mohring persönlich gibt es nur zwei Wege, diesem Dilemma zu entkommen. Der erste wäre sein Rücktritt. Der zweite: Er muss die überkommenen Regeln neu interpretieren oder gar brechen, um eine Neuwahl des Landtags zu vermeiden. So könnte er, vielleicht, politisch überleben.

Dass er abtritt, schließt Mohring kategorisch aus. Er, der Sohn eines Maurers und einer Verkäuferin, ist nicht so weit gekommen, um jetzt aufzugeben. Er, der Mann, der erst Monate zuvor eine Krebserkrankung durchstand, wird sich nicht einfach in diese Niederlage fügen.

Der Aufsteiger

Die Politik ist Mohrings Leben, mit ihr hat er den größten Teil seiner 48 Lebensjahre verbracht. Er kennt kaum etwas anderes. Seinen Einstieg markiert der Herbst 1989, als er mit 17 das FDJ-Amt hinter sich lässt und in seiner Geburtsstadt Apolda die Demonstrationen gegen die DDR-Obrigkeit mitorganisiert. Kurz vor seinem Abitur, im Frühjahr 1990, zieht Mohring für das „Neue Forum“ in den örtlichen Kreistag ein. Nachdem der Zivildienst absolviert und das Jura-Studium in Jena begonnen ist, wechselt er 1994 in die CDU, an deren Spitze Ministerpräsident Bernhard Vogel steht. Mohring übernimmt Funktionen in der Jungen Union, wird Fraktionschef im Kreistag. Vor der Landtagswahl 1999 erkämpft er gegen den Willen der Parteispitze einen aussichtsreichen Listenplatz und zieht ins Parlament ein.

 

Es ist das Jahr, in dem die Thüringer CDU auf den Höhepunkt ihrer Macht gelangt. Sie hat bei der Wahl 51 Prozent der Stimmen erhalten und alle 44 Wahlkreise im Land gewonnen.

Es ist aber auch das Jahr, in dem die PDS mit 21,3 Prozent erstmals vor der SPD liegt. Es ist das Jahr, in dem der Jenaer Jura-Student Christian Carius als jüngster Abgeordneter ins Parlament einzieht. Es ist das Jahr, in dem der Jenaer Politikwissenschaftsstudent Mario Voigt als erster Ostdeutscher an der Spitze des Rings Christlicher Demokratischer Studenten (RCDS) steht. Und es ist das Jahr, in dem der 43-jährige Gewerkschaftsfunktionär Bodo Ramelow, der kurz zuvor in die PDS eingetreten war, Mitglied des Landtags wird.

Die erstmals mit absoluter Mehrheit regierende CDU hat besonders viele Ämter zu vergeben. Mohring ist erst 27, doch er erhält die wichtige Funktion des haushaltspolitischen Sprechers der Fraktion. Sofort profiliert er sich mit medial geschickt platzierten Sparforderungen und Reformvorschlägen. Seinen Parteifreunden, aber auch der politischen Konkurrenz wird rasch klar: Hier will einer nach ganz oben.

Für die CDU wird es eine Wahlperiode des Übergangs. Im Jahr 2000 gibt Bernhard Vogel den Parteivorsitz an Dieter Althaus ab, 2003 übernimmt der Jüngere auch die Staatskanzlei. Allerdings hat die Union damit auch ihren Zenit überschritten. Bei der Landtagswahl 2004 verliert sie unter Althaus deutlich. Nur weil Grüne und FDP an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, kann sie mit 43 Prozent ihre absolute Sitzmehrheit im Parlament knapp verteidigen. Die Linke, die erstmals mit Ramelow als Spitzenkandidat angetreten ist, wächst auf 26,1 Prozent, derweil die SPD, die mit den Protesten gegen die Hartz-Reformen zu kämpfen hat, nur noch bei 14,5 Prozent landet.

Jetzt geht Mike Mohring den entscheidenden Karriereschritt: Er wird von Althaus zum Generalsekretär der Thüringer CDU berufen. Als er vier Jahre später, 2008, auch die Führung der Landtagsfraktion übernimmt, gilt er als Nummer 2 in der Landespartei – und als natürlicher Aspirant auf die Staatskanzlei. Der Ministerpräsident sitzt inzwischen im CDU-Bundespräsidium und scheint sich für einen Kabinettsposten in Berlin zu interessieren. Mohring muss bloß noch warten.

Doch plötzlich ist alles anders. Am Neujahrstag 2009, es ist 14.43 Uhr, fährt Dieter Althaus in der österreichischen Steiermark Ski. Er biegt mit etwa 40 Kilometern pro Stunde von der Piste „Die Sonnige“ in die Abfahrt „Panorama“ ab. So jedenfalls wird es später ein Gutachten feststellen. Althaus umkurvt ein Absperrnetz und fährt ein paar Meter bergauf, womöglich, um eine Pause einzulegen. Dabei kollidiert er frontal mit einer Frau, die ihm bergab entgegenkommt. Die 41-jährige Mutter eines kleinen Kindes stirbt auf dem Weg ins Krankenhaus. Der Regierungschef, der im Unterschied zu ihr einen Skihelm trug, wird mit einem schweren Schädel-Hirn-Trauma ins künstliche Koma versetzt7.

Der tragische Unfall stürzt die Thüringer CDU, die ja immer noch allein regiert, in eine kollektive Überforderungssituation. Finanzministerin Birgit Diezel muss als Vize-Ministerpräsidentin und erste Stellvertreterin des Landesparteichefs die Geschäfte kommissarisch übernehmen. Sie und Mohring besuchen Althaus in Schwarzach im Krankenhaus. Danach verbreiten sie die Botschaft, dass der Ministerpräsident aufgewacht sei und sich auf dem raschen Weg der Besserung befinde.

Auch der Patient selbst will so schnell wie möglich wieder fit werden, körperlich und politisch. Er akzeptiert, dass ihn ein österreichisches Bezirksgericht wegen fahrlässiger Tötung zur Zahlung von 33.000 Euro verurteilt, da er auf der Piste die Regeln des Internationalen Skiverbands verletzte. Kurz darauf lässt er sich aus der Distanz einer Reha-Klinik am Bodensee zum CDU-Spitzenkandidaten für die Thüringer Landtagswahl wählen, die im Spätsommer 2009 stattfinden soll.

Der Fall Althaus gerät zu einem nicht enden wollenden Medienspektakel. Die öffentlichen und veröffentlichten Reaktionen bestehen mehrheitlich aus Unverständnis, ja Empörung. Die Führenden in der Thüringer CDU halten trotzdem stur zu ihrem Ministerpräsidenten, aus Loyalität und Freundschaft, aber auch, weil ihre Karrieren mit seiner Person verknüpft sind. Scheitert Althaus, sind auch sie gefährdet. Dieser Befund gilt insbesondere für den Nachfolgefavoriten Mohring.

Und so kehrt der Ministerpräsident schon gut drei Monate nach dem Unfall in die Staatskanzlei zurück. Sichtlich angeschlagen spricht er im April 2009 davon, „ganz der Alte“ zu sein. Aber nicht nur er verkennt die Lage. Die gesamte Landesspitze der CDU macht sich etwas vor. Sie führt mit einem Ministerpräsidenten, der rechtskräftig für den Tod einer jungen Mutter verantwortlich gemacht wird, einen merkwürdig tümelnden Wohlfühlwahlkampf. Althaus lässt sich in einer obskuren Zeitschrift sogar als Opfer der Tragödie inszenieren. Und er will keinerlei persönliche Schuld anerkennen, da er sich ja, wie er ständig wiederholt, nicht an den Unfall erinnern könne.

Die Niederlage ist unausweichlich. Bei der Wahl am 30. August 2009 verliert die CDU die absolute Mehrheit im Landtag und stürzt auf 31,2 Prozent ab. Der Machtverlust droht. Denn der einzige mögliche Partner – die SPD – verhandelt ernsthaft mit Ramelows vormaliger PDS, die inzwischen zu „Die Linke“ geworden ist, und den Grünen, die erstmals seit 15 Jahren wieder im Parlament sitzen. Die drei Parteien sind in der Dekade gemeinsamer Opposition gegen die absolut regierende Union zusammengewachsen, bei Volksbegehren, Demonstrationen und Debatten im Landtag. Jetzt kommen sie gemeinsam auf eine solide Mehrheit von 52,1 Prozent.

An diesem Umstand ändert auch der Wiedereinzug der FDP nichts. Die Partei, die wie die Grünen anderthalb Jahrzehnte in der außerparlamentarischen Opposition verbringen musste, hat dank eines fulminanten Bundestrends 7,6 Prozent erreicht. Einer der sieben liberalen Abgeordneten ist Unternehmer, er besitzt eine Friseurkette, führt in Erfurt den Kreisverband der Partei und amtiert als Präsident aller Karnevalclubs der Landeshauptstadt. Er heißt Thomas Kemmerich.

Doch für die erste rot-rot-grüne Koalition in der deutschen Geschichte gibt es eine Hürde: Es ist die Frage, wer Ministerpräsident wird. Die Sozialdemokraten hatten sich in einem Mitgliederentscheid darauf festgelegt, nicht als Juniorpartner mit der Linken zu koalieren. Jetzt wollen sie als deutlich kleinerer Partner den Ministerpräsidenten stellen – oder, falls die Linke nicht zustimmt, lieber mit der Union regieren.