Die wilde Reise des unfreien Hans S.

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Die wilde Reise des unfreien Hans S.
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Martin Arz • Die wilde Reise des unfreien Hans S.

Ein historischer Roman frei nach Motiven von Johannes Schiltberger

Grafische Gestaltung von Hirschkäfer Design/Coriander P.

Cover von Coriander P. unter Verwendung des Gemäldes Pelzhändler in Kairo (1869) von Jean Leon Gerome, Privatsammlung (Art Renewal Centre), sowie einer türkischen Landkarte von Zentralasien aus dem 19. Jh.

Illustrationen (soweit nicht anders angegeben) von Coriander P.

© Hirschkäfer Verlag, München 2017

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN (eBook) 978-3-940839-54-1

eBook-Herstellung und Auslieferung:

HEROLD Auslieferung Service GmbH

www.herold-va.de

Besuchen Sie uns im Internet:

www.hirschkaefer-verlag.de

Mit Liebe gemacht.



Karte zu Schiltbergers Reisen, 1394–1427


Erklärung der historischen Ortsnamen siehe hier

Ein lustiges Abenteuer soll es werden, als der Knappe Johannes Schiltberger im zarten Alter von 14 Jahren seine Heimatstadt München verlässt und sich 1394 dem letzten Kreuzzug anschließt. »Bis ans Ende der Welt und dann immer weiter!«, scherzen er und seine Kumpels. Doch das christliche Heer wird von den Osmanen in einem blutigen Gemetzel aufgerieben, Schiltberger gerät in türkische Gefangenschaft. Fortan dient er als Militärsklave in fremden Heeren – erst bei den Osmanen, dann bei den Mongolen unter der ›Geißel Gottes‹, dem gefürchteten Schlächter Tamerlan. Hans sieht Städte, Länder und Regionen, die selbst heute noch exotisch klingen: Delhi, Samarkand, Konstantinopel, Astrachan, Kairo, Damaskus, Teheran und, und, und. Mehr noch: Schiltberger dringt als erster Europäer bis in die endlosen Weiten Sibiriens vor. Er erlebt die Hölle, aber auch den Himmel auf Erden, begegnet großen Männern wie erbärmlichen Wichten und steht manchmal staunend, manchmal zitternd vor den steinernen oder lebendigen Wundern der Welt.

Schiltberger gelang nach 33 Jahren in der ›Heidenschaft‹ die Flucht. Er kehrte 1427 nach München zurück, wo er seine Erlebnisse veröffentlichte. Martin Arz hat mit »Die wilde Reise des unfreien Hans S.« einen fulminanten Roman über den deutschen Marco Polo geschrieben. Frei nach Schiltbergers Reisebericht entführt Arz den Leser auf einen rasanten, abenteuerlichen Trip quer durch den mittelalterlichen Orient und Zentralasien.

Martin Arz, geboren 1963 in Würzburg, schrieb als freier Autor für zahlreiche Magazine und arbeitete als PR-Berater, bevor er sich ganz der Malerei und dem Schreiben widmete. Martin Arz veröffentlichte zahlreiche Krimis, allein sechs davon mit seinem Hauptprotagonisten Max Pfeffer, und mehrere Sachbücher über die Stadt, in der er lebt und arbeitet: München. »Die wilde Reise des unfreien Hans S.« ist sein erster historischer Roman.

Max-Pfeffer-Krimis im Hirschkäfer-Verlag:

 Das geschenkte Mädchen · Max Pfeffers 1. Fall

 Reine Nervensache · Max Pfeffers 2. Fall

 Die Knochennäherin · Max Pfeffers 3. Fall

 Pechwinkel · Max Pfeffers 4. Fall

 Westend 17 · Max Pfeffers 5. Fall

 Geldsack · Max Pfeffers 6. Fall


Johannes Schiltberger in der Heidelberger Handschrift (ca. 1480)

Karte zu Schiltbergers Reisen

1 An der Donau

2 Das Schlachten

3 Tricktrack

4 Janitscharen

5 Schwarze Dämonen

6 Tulpen

7 Der Plan des Untoten

8 Ghul und Ghula

9 Der Weiße Hammel

10 Der falsche Eunuch

11 Flucht

12 Der Schlangenkampf

13 Die Sperberburg

14 Hamam

15 Mumienfeuer

16 Das Fest der Frauen

17 Der große Sultan

18 Das Schienbein des Riesen

19 Kaffeepause

20 Hochzeitspläne

21 Angora

22 Die Geißel Gottes

23 Der Skorpion

24 Ein Zoobesuch

25 Auf Buddhas Haupt

26 Jesus mit dem Elefantenkopf

27 Der Drache

28 Zarafa

29 Die schwarze Göttin Kali

30 Der barmherzige Monarch

31 Der Dreihundertfünfzigjährige

32 Der Garten Eden

33 Hin und her

34 Gott ist tot

35 Bauernjahre

36 Hundeschlitten

37 Das Eismonster

38 Jahrmarkt

39 Amazonen

40 Das Einhorn

41 Räuber

42 Das Goldene Vlies

43 Piraten

44 Der Kaiser

45 Der Vampir

46 München

Nachwort

Personenverzeichnis und weitere Anmerkungen

Bayezids Familie im Überblick

Tamerlans Familie im Überblick

Liste der Mamelukensultane und Khane

Historische Orte und ihre heutigen Namen

Lektüre

1 An der Donau

Ich, Johannes Schiltberger, zog von meiner Heimatstadt München, gelegen in Bayern, aus zu der Zeit, als König Sigismund in Ungarn gegen die Heidenschaft zog. Das war im Jahr 1394 nach Christi Geburt«, las Josef laut vor und ließ die Papiere sinken.

»Ausbaufähig. Ein bisschen trocken. Klingt aber ganz gut als Einstieg«, sagte Max und zupfte ein wenig auf seiner Laute. »Aber viel ist es noch nicht, Hans.«

»Natürlich nicht«, entgegnete Hans eingeschnappt. »Viel haben wir ja auch noch nicht erlebt. Das wird ein Reisebericht. Ich schreibe auf, was alles passiert, damit ich dann, zurück in München, davon berichten kann.«

Max und Josef tauschten einen abschätzigen Blick. »Willst wohl berühmt werden, Hans«, spottete Josef.

»Immerhin kann er schreiben, der Hans«, sagte Max und spielte eine kleine Melodie.

»Kann ich auch«, antwortete Josef. »Lesen und schreiben!«

»Das eine bedingt doch das andere«, sagte Hans.

»Mein Herr hält das nicht für nötig«, sang Max zu der Melodie seiner Laute. So gut er spielte, so schlecht sang er.

»Mein Herr auch nicht, aber ich habe trotzdem schreiben und lesen gelernt«, sagte Hans Schiltberger. »Er hat damals gesagt, er bringt mir das nicht bei, ich solle es aber können, wenn ich sein Knappe werden will. Also hab ich es gelernt.«

»Bei den Pfaffen?«

»Wo sonst? Mein Vater hat dafür teuer gezahlt.«

»Bei den Pfaffen kann man bloß saufen und huren lernen«, sagte Josef, und alle lachten.

Die drei Burschen lagen nackt auf einem Felsen am Donaustrand und ließen sich von der Sonne trocknen. Rings um sie herum lagerten in größeren oder kleineren Gruppen unzählige weitere Knappen. Eben rannten rund zwanzig Jungs mit wilden Anfeuerungsrufen in die Donau, stürzten sich auf eine Gruppe, die im flachen Wasser gesessen hatte, und schnell entflammte eine spielerische Wasserschlacht. Ein sauertöpfischer Pfaffe schlurfte laut schimpfend vorbei, Beichtvater eines schwäbischen Ritters und wider Willen mit auf den Kreuzzug gekommen, denn sein Herr wollte keinesfalls auf seinen persönlichen Beichtvater verzichten. »Sodom und Gomorra«, zeterte der Pfarrer. Doch mehr als »Sündenpfuhl«, »Todsünde« und irgendetwas mit »Verderbtheit der Nackten« verstanden die Burschen nicht von dem Gebrabbel. Man kannte den Geistlichen und seine Suada. Er streunte regelmäßig die Strände entlang. Doch für die Knappen war Nacktheit nichts Ungewohntes. Niemand wäre jemals in München auf die Idee gekommen, an einem heißen Sommertag angezogen in einen der vielen Stadtbäche zu springen. Bis zu einem gewissen Alter, und manchmal auch darüber hinaus, waren Buben und Mädels ganz selbstverständlich zusammen beim Baden, was die Geistlichkeit regelmäßig auf die Palme brachte und immer wieder Thema der Sonntagspredigten war. Doch der Pfarrer, der die Gottesdienste in der Peterskirche hielt, die Hans besuchte, lallte meist undeutlich. Und die wenigen Male, die er nüchtern war und sich klarer artikulieren konnte, wählte er andere Predigtthemen als die »teufflis-fisch-flissche Unssucht«. Nacktsein gehörte auch dazu, wenn Hans seinen Vater und später seinen Ritter ins Badehaus begleitete. Wo sahen die Pfaffen da nur das Problem?

»Geh in dein Zelt und wichs dir einen«, rief Josef dem brabbelnden schwäbischen Gottesmann zu. Gelächter brandete durch die Burschengruppen.

»Du …« Der Pfarrer hob drohend seinen knorrigen Zeigefinger und richtete ihn zitternd auf Josef.

»Argh!«, rief Josef, drückte sich dramatisch die Hände vor die Brust, als sei er getroffen worden und ließ sich nach hinten kippen. »Die Rache Gottes …«, keuchte er, zuckte ein paarmal mit Armen und Beinen und blieb dann wie tot liegen. Die Burschen ringsum grölten. Einige machten anstößige Gesten, der Pfarrer zog die Kapuze seiner Kutte tiefer ins Gesicht und trottete wütend brabbelnd davon.

 

Hans, Max, Josef und die anderen Knappen, mehrere Tausend an der Zahl, genossen die Tage, die wie im Flug vergingen. Vor fast zwei Wochen hatte das gewaltige Kreuzritterheer vor der Stadt Nikopolis die Zelte aufgeschlagen – seitdem herrschte Müßiggang. Die Burschen, alles Knappen bayrischer Ritter, erledigten vormittags rasch ihre Pflichten, versorgten die Pferde, rußten die Rüstungen der Herren, denn im feuchten Flusstal setzten die besonders schnell Rost an und Ruß war das einzige leicht verfügbare Mittel, um ein wenig dagegenzuhalten, fetteten die Scharniere ein, brachten die Wäsche zu den Waschfrauen und polierten die Waffen. Ihre Herren sahen die Burschen fast nie. Die amüsierten sich bei den Gauklern, in den Spiel- oder Hurenzelten.

»Wieso hast du eigentlich 1394 geschrieben?«, fragte Max. »Wir sind doch erst dieses Jahr losgezogen. Was habt ihr denn die zwei Jahre lang gemacht?«

»Was glaubst du wohl?«, antwortete Hans und setzte sich auf. Er wackelte mit den Zehen. Josef lachte, weil er die Antwort schon kannte. Er und Hans hatten sich schon auf dem Weg nach Buda angefreundet. Hans fand zwar, dass Josefs geistiger Horizont stark begrenzt war, aber wenigstens war er lustig. Max war erst nach Buda zu ihnen gestoßen. Hans mochte Max, der war nicht so laut und ungehobelt wie Josef, und abends unterhielt er sie mit lustigen Liedern, die er auf der Laute spielte. Wenn er gnädig war, ersparte er den anderen seinen »Gesang«.

»Vor zwei Jahren war ich gerade vierzehn«, sagte Hans. »Da habe ich in der Kirche die Knappenweihe erhalten …«

»Und wie lange warst du schon …«

»Seit ich acht bin«, unterbrach Hans die Frage von Max. Max nickte und sagte: »Ich auch. Gut, weiter!«

»Na, jedenfalls hat mein Herr, kaum dass ich endlich Knappe war, sofort alles gepackt und zum Aufbruch gedrängt. Da war es praktisch, dass die Päpste zum Kreuzzug aufriefen …«

»Die Päpste?«, unterbrach Josef. »Die Päpste! Depp. Es gibt doch nur einen.«

Max lachte. »Wo hast du denn die letzten Jahre gelebt? Es gibt zwei. Einen in Rom und einen in Avignon, das sollte doch jeder gute Christenmensch wissen. Schon mal vom Schisma gehört?«

»Was für ein Schisser? Verarschen kann ich mich alleine.«

»Vergiss es.«

»Und welcher ist dann der richtige?«, fragte Josef irritiert.

»Na, beide.«

»Das verstehe ich nicht.« Josef riss die Augen so weit auf, dass seine Augenbrauen fast mit dem Haaransatz verschmolzen, wie immer, wenn er überfordert war, was recht häufig passierte.

»Ist doch egal, das mit den Päpsten«, nahm Hans ungeduldig den Erzählfaden wieder auf. »Jedenfalls kam damals gerade der Aufruf zum Kreuzzug, für meinen Herrn wahrlich ein Geschenk Gottes, denn …« Hans zögerte ein wenig, um seine Geschichte spannender zu machen. »Denn mein Herr war in München und Umgebung nicht mehr so richtig wohlgelitten.«

»Ein Hurenbock, Säufer und Spieler ist er, der feine Herr Leinhart Richartinger!«, rief Josef.

»So kann man es auch nennen«, stimmte Hans fröhlich zu.

»Meiner auch«, sagte Max. »Wemher Pentznauer. Für den kam der Kreuzzug gerade rechtzeitig, um sich vor der Verwandtschaft seiner Frau in Sicherheit zu bringen, nachdem er ihre Ländereien verspielt hatte. Ja, Max der Sendlinger dient einem Spieler und Hurenbock.«

»Sendling?«, fragte Hans. »Du bist aus Sendling? Oh, jetzt begreife ich.« Er schlug sich an die Stirn. »Ich hab bei deinem Namen nie … alles klar. Max der Sendlinger. Wie dumm von mir.«

»Ja. Max der Sendlinger bin ich. Und der edle Ritter Wemher Pentznauer ist mein Onkel. Aber das muss unter uns bleiben.«

»In Sendling war ich schon einmal«, sagte Hans. »Ein ödes Nest.«

»Stimmt. Ich war auch schon mal in München. Auch nicht viel los«, entgegnete Max.

»In Giesing und Schwabing war ich auch schon. Und in Pasing!« Hans wollte zeigen, dass er vor dem großen Abenteuer Kreuzzug bereits einiges von der Welt gesehen hatte.

»Giesing«, wiederholte Max der Sendlinger und ließ den Blick sehnsuchtsvoll in die Ferne schweifen. Er zupfte ein paar Töne auf der Laute. »Da hatte ich mal ein Mädchen …«

Hans und Josef sahen sich an und brachen in schallendes Gelächter aus. Mädchengeschichten. Maulhelden waren sie alle drei, was Mädchen anging. Jeder hatte eine große Klappe, und alle wussten, dass in Wahrheit nichts dahinter war.

Eine größere Gruppe von Burschen kam vorbei. Alle noch nackt. Sie trugen ihre Kleider zusammengerollt mit sich. Hier gab es noch keinen Grund, sich zu bedecken. Erst kurz bevor sie die Zelte des Begleittrosses erreichten, zogen sie sich für gewöhnlich an. Denn ab da bestand die Gefahr, dass sie Frauen begegneten. Gaudi hin oder her, ein wenig Sittsamkeit mussten angehende Ritter schon zeigen. Sie beachteten die drei Bayern nicht. Französische Knappen, die sich für etwas besseres hielten, weil sich ihre Herren für etwas Besseres hielten. Was für Lackaffen. Etwas Besseres waren sie alle. Knappen eben. Junge Kerle aus dem einfachen Landadel oder Söhne städtischer Patrizier, die eine Ausbildung zum Ritter absolvierten. Eine Aufstiegsmöglichkeit, die kein gewöhnlicher Niedriggeborener jemals in diesem von Gott genau so und nicht anders gewollten Gesellschaftssystem bekommen würde. Alle ihre Väter waren jemand in ihrem jeweiligen Mikrokosmos. Hans’ Vater beispielsweise war Münchner Bürger, relativ wohlhabend dank der Einkünfte aus einem Gutshof im Dorf Schiltberg. Hans und fast alle anderen konnten lesen und schreiben. Also bitte, französische Lackaffen, elendige. Ganz abgesehen davon hätten sie einander nicht verstanden, denn keiner beherrschte die Sprache des anderen. Nur ein großer Blonder sah kurz herüber und begegnete Hans’ Blick. Der Blonde lächelte und nickte kurz. Hans nickte zurück. Vielleicht doch nicht alle arrogant, dachte er sich. Einem so blonden Menschen war Hans noch nie begegnet, wie man sah, war er nicht nur auf dem Kopf hellblond, fast weiß wie Flachs. Aber Hans hatte sich beim Aufbruch vor Monaten schon seelisch darauf eingestellt, dass er Menschen begegnen würde, die anders sein würden, als das, was er aus seiner Heimat kannte.

»Mein Herr hat die Zeit bis zum Treffen in Buda jedenfalls bestens genutzt, um ein paar edle Jungfrauen in anderen Zuständen zurückzulassen und seine Kriegskasse fast komplett zu verspielen«, sagte Hans Schiltberger. Das stimmte zwar im Wesentlichen, Spieler, Frauenbeglücker und Säufer – in dieser Reihenfolge –, doch der Edle Leinhart Richartinger war trotz allem Hans ein guter Herr. Leinhart besaß einen unglaublichen Charme und wirkte anziehend auf Frauen. Mit seinem Charme hatte er es auf ihrem Weg immer wieder geschafft, Grafen und Edelmänner um den Finger zu wickeln. Einen so eleganten, gut aussehenden Ritter mit hervorragenden Umgangsformen beherbergte und verköstigte man gerne in seinen kleinen Landschlössern. Noch dazu war er ja auf dem gottgewollten Kreuzzug, das Abendland von den ungläubigen Barbaren zu retten! Das ging ein paar Tage oder Wochen gut, zumindest so lange, bis seine Weibergeschichten aufflogen und sie sich mehr als einmal bei Nacht und Nebel davonmachen mussten. Leinhart machte weder vor den Töchtern noch den Ehefrauen seiner Gastgeber halt. Einmal versetzte Leinhart die Gattin und zwei Töchter eines Grafen gleichzeitig in andere Umstände, weshalb sie überstürzt aufbrechen mussten.

Und Leinhart war ein guter Kämpfer. Geschickt mit dem Schwert und beim Reiten. Sein Können brachte er Hans bei. Leinharts Spezialität aber war der Tjost, das Lanzenstechen. Irgendwo gab es immer ein Turnier, und Leinhart blieb stets ungeschlagen. Weil dem siegreichen Ritter die Rüstung und das Pferd des Unterlegenen zustand, was man weiterverkaufen konnte, kam immer wieder genug Geld rein. Das und auch die kostbaren Schmuckstücke, die ihm seine Verehrerinnen mitunter überließen, finanzierte ihre Reise und vor allem Leinharts Spielsucht.

»Und jetzt sagt mir, sind das die Geschichten, die ich niederschreiben soll? Soll das mein Bericht vom großen Kreuzzug gegen die Ungläubigen sein?«

»Klingt fast wie meine Geschichte so weit«, sagte Max und legte die Laute neben sich. Er streckte sich aus.

»Ihr Glücklichen«, seufzte Josef Wolfharting. »Mein Herr ist das genaue Gegenteil. So gottesfürchtig ist der Herr Ulrich Kuchler, dass sich Gott vor ihm fürchten würde. Immer beten, beten, beten. Meine Knie sind schon seit Monaten wund …« Er sprang auf. »Ich gehe ins Wasser. Kommt jemand mit?«

»Nein«, antwortete Max träge.

»Soll ich dir was sagen?«, fragte Hans nach einer Weile. »Ich möchte ans Ende der Welt.«

»Als Knappe?« Max richtete sich auf.

»Ja, egal. Ich wollte raus aus München. Raus aus der Enge. Soll mein Bruder doch die Ländereien verwalten und in der Stadt fett werden. Was bleibt uns denn übrig, wenn unsere Väter keine Kaufleute sind, die durch die Welt ziehen? Ich will die Welt sehen. Alle Wunder, all die Geschichten, die ich immer gehört habe über Menschen mit Hundeköpfen und Einhörner und Drachen …«

»Und das Land, in dem der Pfeffer wächst.«

»Ja, genau! Da möchte ich auch hin. Ich will raus!«

»Ich will auch raus!«, rief Max begeistert. »Aber wir sind nur Knappen!«

»Na und? Immerhin hat mich mein Knappendasein schon die Donau herunter gebracht. Ich habe Wien und Buda gesehen. Und nun geht es weiter. Wir kommen ins Morgenland und ins Heilige Land. Und dann … mal schauen. Irgendwie wird es immer weitergehen. Immer weiter!«

»Hui, du bist mutig, Hans Schiltberger.«

»Nein, nicht mutig. Nur neugierig. Ich habe meiner kleinen Schwester versprochen, dass ich erst zurückkomme, wenn ich für sie ein Einhornhorn gefunden habe.«

Max lachte lauthals los. »Also nie!«

»Warum? Vielleicht gibt es Einhörner.« Hans musste bei dem absurden Gedanken selbst grinsen. »Auf jeden Fall bis ans Ende der Welt!«

»Und wenn die Welt kein Ende hat? Ich habe gehört, dass die Welt eine Kugel ist.«

»Ja, ich bin nicht ganz doof. Dann eben einmal um die Welt herum. Aber bis ans Ende der Welt klingt schöner.«

Etliche Hundert Meter weiter flussabwärts, abgeschirmt durch Tücher, die man am Ufer und im seichten Wasser als Sichtschutz gespannt hatte, setzte sich ein nobler Herr zur Abkühlung ins seichte Donauwasser. Er war wütend und verärgert. Ein Zustand, der sich seit Wochen hielt. Denn Sigismund von Luxemburg, geboren in Nürnberg, König der Ungarn und Kroaten, hatte sich das alles anders vorgestellt. Doch er wollte dankbar sein, nun standen die europäischen Verbündeten immerhin bereit, mit ihm Nikopolis von den Osmanen zurückzuerobern. Seit Jahren hatte Sigismund Boten auf Tour zu den Regenten durch Europa geschickt und um Unterstützung gebeten, gefleht, gebettelt. Die Osmanen bedrohten sein Ungarnreich! Was war daran so schwer zu verstehen?

1392 war es Sigismund immerhin schon einmal gelungen, Nikopolis, das nun in Sichtweite lag, zu befreien und der bulgarische Zar Iwan Schischman wählte die Stadt als seine Residenz – doch nur für ein Jahr. Dann kamen die Osmanen zurück, schlugen Zar Iwan, machten ihn erst zu ihrem Vasallen und richteten ihn schließlich hin. Sigismund fürchtete zu Recht, dass sein Ungarn als Nächstes fallen würde.

1394 kamen endlich die erlösende Nachrichten: Die beiden konkurrierenden Stellvertreter Christi, Papst Bonifaz IX. in Rom und Gegenpapst Benedikt XIII. in Avignon, gaben ihre jeweils allein gültigen Segen, dass ein neuer Krieg gegen die Osmanen hochoffiziell als gottgewollter Kreuzzug proklamiert werden könne. Könige und Fürsten aus allen abendländischen Regionen hätten nun gegen die Truppen Sultan Bayezids ziehen können. Doch die Könige von England und Frankreich winkten ab, sie hatten gerade eine kleine Atempause in ihrem Hundertjährigen Krieg diesseits und jenseits des Ärmelkanals und wollten lieber ihre Friedensverhandlungen vorantreiben. Richard von England plante als Friedensangebot, die Tochter Karls VI. von Frankreich zu ehelichen. Da hatte man also andere Sorgen, als Osmanen in der fernen Walachei. Immerhin, so ließ der Franzosenkönig wissen, stehe man als Hüter der europäischen Christenheit moralisch voll und ganz hinter dem Kreuzzug gegen die finsteren Pläne des Türkensultans. Und er schickte den Grafen d’Eu sowie den alten Haudegen Marschall Boucicaut auf den Balkan. Auch der blutjunge Burgunderprinz Johann Ohnefurcht sah endlich seine Chance, sich zu profilieren. Ein Krieg tat jeder Biografie gut. Die Burgunder überlegten erst, ob sie nicht doch lieber in den Krieg gegen Preußen ziehen sollten, dann entschieden sie sich für den Balkan.

 

Rund zweitausend französische Ritter, begleitet von sechstausend Bogenschützen und Tausenden Fußsoldaten, trafen sich in Dijon und zogen am 30. April 1396 los, überquerten den Rhein und bestiegen auf der Donau wartende Schiffe. Unterwegs schlossen sich ihnen Fürsten und Prinzen mit ihren Rittern aus verschiedenen deutschen Ländern an. Die Weiterfahrt verzögerte sich immer wieder, geriet manchmal für Tage ins Stocken, denn die deutschen Prinzen wollten sich nicht lumpen lassen. Wenn der Zug ihre Landesgrenzen passierte, schmissen sie mehr oder weniger üppige Feste, bei denen vereinzelt bereits Ritter auf der Strecke blieben. Besonders ausschweifend bewirtete Leopold IV. von Österreich die Kreuzfahrer, war doch Burgunderprinz Johann Ohnefurcht sein Schwager.

Während sich die kunterbunte Truppe in kleinen, höchst abwechslungsreichen Etappen von der Donau hinab zum Sammelpunkt nach Buda bringen ließ, schickten die Venezianer, die Genueser und der Johanniterorden von Rhodos ihre Leute per Schiff die Donau hinauf. Vor allem die Italiener sorgten sich dabei weniger um die europäische Christenheit als solche, sondern viel mehr um ihre Handelsvormacht im östlichen Mittelmeer und im Schwarzen Meer. Dieser dreiste Osmanenfürst Bayezid belagerte schon seit Jahren Konstantinopel, was die seefahrenden Händler gewaltig wurmte.

Natürlich wollte auch Walachenfürst Mircea der Alte nicht hintanstehen und kam mit rund zehntausend Mann. Dazu gesellten sich kleinere Gruppen aus den Niederlanden, Kastilien, Polen, Bulgarien, Schottland und der Schweiz. Ein babylonisches Sprachengewirr herrschte auf den Feldern rings um Buda, wo man lagerte, zockte, soff und hurte, bis das große Abenteuer endlich losgehen sollte. Noch wartete man auf den wichtigsten Militärberater der Franzosen, Enguerrand de Coucy. Doch der musste erst noch als Trauzeuge der Ferntrauung Isabellas von Frankreich mit Richard von England beiwohnen, dann einen Umweg über Genua machen, um die Stadtoberen davon abzuhalten, Mailand zu überfallen. Endlich war auch Coucy in Ungarn eingetroffen. Es konnte also losgehen.

Die allgemeine Stimmung blieb, wie sie die ganzen Monate über war: ausgelassen. Einen detaillierten und durchdachten Schlachtplan gab es nicht. Sigismund und vor allem die gut organisierten Ritter vom Johanniterorden sprachen von Strategien. Die Franzosen zogen nur amüsiert die Augenbrauen hoch. Strategie? Was für ein weibisches Geschwätz. Es gab nur eine Strategie und die lautete: Draufhauen! Erst die Türken vom Balkan verjagen, dann Konstantinopel befreien, danach den Hellespont überqueren, um durch die Türkei und Syrien nach Palästina zu ziehen, wo man letztlich das Heilige Land – wieder einmal – befreien würde. Abschließend, da waren sich alle einig, dann auf dem Seeweg über das Mittelmeer die triumphale Rückkehr als Helden der Christenheit in die jeweiligen Heimatländer. So einfach ging das nach Meinung der französischen Ritter. Strategie! Sie tippten sich unverhohlen an die Stirn. Zwar hatte kaum einer der Männer bereits im Schlachtfeld gekämpft, aber man hatte schließlich jede Menge Turniererfahrung. Nicht wenige von ihnen hatten bedeutende Siege im Tjost, dem ritterlichen Lanzenstechen, davongetragen.

Zudem hielten fast alle Sultan Bayezid für ein verlogenes Großmaul. Hatte er irgendetwas unternommen, um die venezianische Flotte auf ihrem Weg nach Buda aufzuhalten? Hatte er nicht großspurig angekündigt, er würde im Mai nach Ungarn einmarschieren, und nun war es bereits Juli? Hatten die Kundschafter irgendwo ein großes türkisches Heer entdeckt? Nein. Nein. Und noch mal Nein. Sigismunds Warnungen verpufften. Ja, das hatte er sich alles ganz anders vorgestellt.

Die Franzosen amüsierten sich über den König der Ungarn, den Bedenkenträger, den Feigling. Diese Schlacht würde keine Schlacht werden, sondern ein Sonntagsspaziergang. Coucy, der sich zum Wortführer der Franzosen aufgeschwungen hatte, gab sich Sigismund gegenüber väterlich versöhnlich und verkündete, man werde natürlich mit ihm von Buda aufbrechen und dann den paar Türken auf dem Balkan gehörig einheizen, denn dafür sei man ja schließlich gekommen. Und im Übrigen sei Ungarn sicher.

Das Heer zog von Buda aus auf der linken Donauseite gen Nikopolis. Je tiefer man in Feindesland eindrang, desto hemmungsloser plünderten und vergewaltigten die Retter der Christenheit. Bei Orsova überquerte der Zug die Donau auf Pontons und Booten. Es dauerte acht Tage, bis alle am rechten Ufer waren.

In Vidin ergab sich Iwan Sratsimir von Bulgarien, bislang ein Vasall der Osmanen, sofort und lieferte als Zeichen der Unterwerfung flugs ein paar türkische Offiziere aus, die umgehend hingerichtet wurden. Wahrlich fast ein Sonntagsspaziergang, wie Coucy es angekündigt hatte.

Weil es gerade so gut lief, setzten sich die Franzosen vom Rest ab und eilten voran nach Oryahovo, wo sie das erste Mal auf ernsthaften türkischen Widerstand prallten. Erst Sigismunds Eintreffen brachte die Wende. Die Stadt ergab sich unter der Bedingung, dass man die Bevölkerung an Leben und Eigentum verschone. Sigismund gab sein Wort – und die Franzosen brachen es. Kaum standen die Tore offen, richteten sie ein unfassbares Massaker an, was die Stimmung zwischen Franzosen und den anderen für die restliche Unternehmung deutlich vergiftete.

Ein paar Plünderungen und Brandschatzungen später erreichten die Kreuzfahrer Nikopolis. Dank ihrer Lage zwischen Donau und schroffen Felswänden war die Stadt bestens geschützt. Wer Nikopolis kontrollierte, kontrollierte die untere Donau. Nikopolis bestand aus zwei Stadtteilen, einer hoch oben auf dem Hügel, der andere darunter, beide mit hohen Mauern bewehrt. Von Spionen und Boten längst vorgewarnt, hatte sich der osmanische Statthalter Dogan Bey bestens auf eine Belagerung vorbereitet.

Mit Belagerungsmaschinen hätten die Kreuzfahrer vielleicht den Mauern gefährlich werden können. Doch an Belagerungsmaschinen hatte niemand gedacht. Marschall Boucicaut fegte den Unmut darüber beiseite, denn Leitern seien schnell gezimmert und mutige Kreuzfahrer auf selbst gezimmerten Leitern nun wahrhaft effizienter als jedes Katapult! Die Idee des Leiternzimmerns kam nicht wirklich gut bei den Rittern an. Und so richteten sich die Truppen westlich der Stadt ihr Lager ein, und auf dem Fluss bezogen die italienischen Schiffe Stellung. Man würde die Stadt mit der Blockade zu Land und zu Wasser eben einfach aushungern.

»Komm mit«, flüsterte Josef Hans zu, der in der Sonne döste. Josef tropfte ihn voll, also richtete er sich schnell auf. Max lag noch, wie er sich ausgestreckt hatte, und schlief, die rechte Hand fest um den Hals der Laute gelegt.

»Ich hab weiter oben ein paar Wäscherinnen entdeckt«, flüsterte Josef. »Resche Weiber.« Er verdeutlichte mit beiden Händen, dass da einiges an Üppigkeit zu erwarten war. Hans ließ sich mitziehen. Sie liefen eine Weile, schließlich hatten sie die badenden Burschen weit hinter sich gelassen. Als sie sich den Weg durch ein dichtes Gestrüpp bahnten, das bis ans Wasser heranreichte, achtete Hans sorgsam darauf, nicht in Dornen zu treten. Sein Herr würde toben, wenn er sich am Fuß verletzen würde.

»Da.« Josef huschte gebückt zu einem Felsen. Hans kauerte sich neben ihn. Vorsichtig hoben sie ihre Köpfe. Im seichten Wasser standen die Waschfrauen, die Röcke hochgebunden, mit nackten Beinen. Sie sangen ein deutsches Lied und schrubbten die Wäsche auf flachen Steinen.

»Hab ich dir zu viel versprochen?«

Etliche Frauen hatten die Schnürung der Oberteile gelockert, man konnte tatsächlich recht viel Haut erkennen, und im Rhythmus ihres Schrubbens wogten die Brüste verlockend vor und zurück. Josef stöhnte auf.

»Da möchte man doch gleich …« Er sah anzüglich zu Hans hinüber, dann an ihm herunter. »Du offensichtlich auch.«

»Bin auch nur ein Kerl«, brummte Hans peinlich berührt und hielt verschämt seine Hände über seine Erektion. Was Josef, der seine Erregung ungeniert zur Schau trug, mit einem hämisch-hechelnden Lachen quittierte. Sie sahen sich nicht das erste Mal so. Die üblichen pubertären Größenvergleiche mal ausgenommen, waren die Burschen praktisch nie allein. Wer sich gerade mit sich beschäftigte, wurde einfach in Ruhe gelassen. Mochten die Pfaffen noch so von Sünde wettern und die alten Geschichten von Onan drastisch ausmalen – es waren Jungs. Und Josef vertrat sowieso die Ansicht, dass er dank seines bigotten Herrn schon so viele Rosenkränze und Ave Marias gebetet habe, dass er für den Rest seines Lebens sündigen könne.

»Wird wohl mal wieder Zeit für die alte Baba, oder?«, flüsterte Josef gackernd. Worauf Hans allerdings keine Lust hatte. Es gab etliche Knappen, die es unterwegs den Herren gleichgetan hatten, und sich mit Gewalt Mädchen in den geplünderten Dörfern holten. Das hatte Hans nie. Er fand es widerlich. Und auch sein Herr Leinhart entrüstete sich darüber. Wer Frauen mit Gewalt nehmen muss, so sein Credo, das er Hans einbläute, verdient es nicht, ein Mann genannt zu werden.