Das geschenkte Mädchen

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Das geschenkte Mädchen
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Martin Arz

Das

geschenkte

Mädchen


Martin Arz schrieb zunächst als freier Autor für zahlreiche Magazine. Dann arbeitete er mehrere Jahre als PR-Berater, bevor er sich ganz den Künsten widmete: der Malerei und dem Schreiben. Seine Gemälde waren bereits auf vielen Ausstellungen im In- und Ausland zu sehen.

»Das geschenkte Mädchen« ist der erste Max-Pfeffer-Krimi. »Reine Nervensache«, der zweite Pfeffer-Krimi, liegt ebenfalls im Hirschkäfer Verlag vor. 2009 erschien »Die Knochennäherin«, Pfeffers dritter Fall, im Berliner Quer Verlag. Kriminalrat Pfeffer ermittelte außerdem im Frühjahr 2010 in Deutschlands erstem Twitter-Krimi »Der Tote vom Glockenbach«, der über Twitter publiziert wurde. Vor Max Pfeffer schickte Arz seinen abgebrühten Hobbydetektiv Felix in vier Kriminal-romanen auf Verbrecherjagd. Arz lebt und arbeitet in München.

Pfeffer-Krimis im Hirschkäfer-Verlag als E-Books und in 3-D:

• Das geschenkte Mädchen – Ein Fall für Max Pfeffer (2011)

• Reine Nervensache – Max Pfeffer ermittelt wieder (2010)

• Pechwinkel – Max Pfeffers 4. Fall (2011)

Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen

Ereignissen oder Personen wäre rein zufällig.

E-Book-Ausgabe, Juni 2012

Cover und grafische Gestaltung von Hirschkäfer Design

© Hirschkäfer Verlag, München 2012

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich

geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist

ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für

Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Verarbeitung in

elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-940839-24-4

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

HEROLD Auslieferung Service GmbH

www.herold-va.de


»Nun wollen wir in Schiffen über das Meer fahren,

da und dort ein junges Deutschland gründen,

Wir wollen es besser machen als die Spanier,

denen die neue Welt ein pfäffisches Schlächterhaus,

anders als die Engländer, denen sie ein Krämerladen wurde.

Wir wollen es deutsch und herrlich.«

Richard Wagner

(in einem Extrablatt des »Dresdner Anzeigers«, 14.6.1848)


»Tanga la njou di ma nyongise la iscru.«

(»Die Spur des Elefanten verdeckt die Spur der Zwergantilope.«)

Sprichwort der Duala, Kamerun


»Die ganze Kolonialgeschichte ist ja ein Schwindel,

aber wir brauchen sie für die Wahlen.«

Otto von Bismarck

(im September 1884 zu seinem engsten Mitarbeiter im Auswärtigen Amt)

Inhalt

Kapitel 01

Kapitel 02

Kapitel 03

Kapitel 04

Kapitel 05

Kapitel 06

Kapitel 07

Kapitel 08

Kapitel 09

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

PS

01 Damit hatte er nicht gerechnet. Gewiss, man konnte ihm alles Mögliche vorwerfen – Habgier, Gerissenheit, Besserwisserei zum Beispiel. All das hätte ihm sogar noch geschmeichelt. Aber eins hatte er sich noch nie vorhalten lassen müssen: Naivität. Nein, naiv war Sönke Westphal noch nie gewesen. Der allerletzte Funken Naivität, den er einmal in sich gehabt haben mochte, war spätestens bei seiner Rückkehr aus Kamerun erloschen. Dachte Westphal jedenfalls bis zu diesem Augenblick, in dem er langsam verblutete.

Er hätte damit rechnen müssen, verdammt noch mal. Vielleicht schon damals, als die junge Frau in seinen Laden gekommen war und ihm das Foto gezeigt hatte, das seine Habgier hatte aufflammen lassen. Leider hatte die junge Frau nichts als das Foto, also war seine Habgier schnell wieder erloschen. Doch als dann vor ein paar Wochen der Mann mit genau dem auf dem Foto abgebildeten Objekt zu ihm gekommen war, war Westphals Habgier geradezu explodiert, und er hatte alle Vorsicht über Bord geworfen.

Das hatte er nun davon.

Es war naiv von ihm gewesen, so hoch zu pokern. Er hätte wissen müssen, mit wem er sich einließ. Stattdessen hatte er sich in den letzten Tagen an dem klirrend kalten Januarwetter erfreut, seinen Stuhl an das Schaufenster gerückt, damit ihn die Strahlen der Wintersonne an der Nase kitzeln konnten, und hatte in Gedanken das viele Geld gezählt, das ihm so sicher schien. Er hatte sich großartig gefühlt, wie ein kleiner König, wie man sich halt so fühlte, wenn mal eben so ein paar Millionen ins Haus standen. Wenn dann ein junges Mädchen in seinen Laden gekommen war, um eines dieser Pseudo-Nkisis zu erstehen, hatte er aus lauter Übermut ein wenig geflirtet – zumindest, wenn es hübsch war. Aber waren nicht alle Mädchen hübsch, die bei ihm etwas kauften? Und es waren immer junge Mädchen, die scharf auf die Pseudo-Nkisis waren, jene im allgemeinen Sprachgebrauch als »Nagelfetisch« bezeichneten kleinen afrikanischen Holzfiguren, die Westphal von einem Großhändler in Belgien zu einem Spottpreis bezog und für das Zigfache verhökerte. Die Ware war gut, sauber gearbeitet, mit rostigen Nägeln bestückt (laut Vertrag mind. 13, max. 16 Stück) und sogar mit einem Hauch künstlicher Patina überzogen. Trotzdem Plunder und eigentlich weit unter seiner Würde. Er verkaufte die Dinger für neununddreißig Euro, und die jungen, hübschen, flirtbereiten Mädchen, die auf alles Afrikanische standen, weil Ethnoramsch momentan so hip war, gaben gern ihr Geld dafür aus.

 

Geld, auf das er im Moment noch angewiesen war. Denn die jungen Dinger hatten kaum ein Auge für die echten Schätze, die er in seiner Galerie für afrikanische Kunst anbot. Wertvolle Kultobjekte aus allen Regionen Afrikas, die er als Koryphäe für afrikanische Plastiken mit Kennerblick zusammengetragen hatte, um sie an Sammler zu verkaufen. Natürlich hatte er einen festen Stamm von sehr betuchten Sammlern, gelegentlich kamen sogar Kustoden von Völkerkundemuseen aus ganz Europa zu ihm, wenn er ein besonders rares Stück im Angebot hatte, er wurde von Auktionshäusern um Gutachten gebeten, doch es reichte einfach nie, um den Lebensstandard zu erreichen, den sich Westphal immer erträumt hatte.

Aber seit der Mann mit dem Objekt seiner Begierde kurz vor Weihnachten in seinen Laden gekommen war, schien das alles für Westphal Makulatur. Ihm war durchaus die Komik der Tatsache bewusst, dass es ausgerechnet die Ndjamele waren, die für seinen Wohlstand sorgen würden. Er hatte sich köstlich über diesen Treppenwitz des Lebens amüsiert, während er mit nagelfetischkaufenden Girlies flirtete und in seinen Träumen im Reichtum schwelgte.

Zu früh gefreut, dachte er sich bitter, während er beide Hände gegen seinen Bauch drückte, um das herausspritzende Blut zurückzuhalten. Der Mann mit dem Stilett hatte nur eine kurze, beinahe flüchtige Handbewegung gemacht. Die Klinge war in Westphals Unterleib gedrungen und ebenso schnell wieder herausgezogen worden, als tunke man ein Buttermesser in einen Topf weicher Margarine. Von wegen Sammler! Westphal hatte sich schon gewundert, als die beiden Männer seinen Laden betreten hatten, denn sie sahen gar nicht nach wohlhabenden Kunstinteressierten aus, auch wenn sie in teures Tuch gehüllt waren und sich gewählt auszudrücken wussten. Aber bei den jungen Leuten konnte man ja nie wissen. Vermutlich, so hatte Westphal gedacht, irgendwelche Berufserben oder Börsenyuppies, die mal ein paar Zigtausend für was Exotisches ausgeben wollten. Telefonisch hatten sie sich als Sammler ausgegeben, die am Erwerb einer sitzenden Ife-Figur aus Kupfer interessiert waren. Ein absolutes Museumsstück, schwer beschädigt zwar, aber zweifelsfrei frühes vierzehntes Jahrhundert. Eine Kostbarkeit, die Westphal für einen Spottpreis den ahnungslosen Erben eines jüngst verstorbenen Sammlers abgeluchst hatte. Eine Preziose, die es gerechtfertigt hatte, dass Westphal seinen Laden zugemacht und den Besuch ins Hinterzimmer gebeten hatte, wo er die Statue zur Begutachtung schon auf einem mit schwarzem Samt bedeckten kleinen Tisch hindekoriert hatte.

»Darf ich?«, hatte der kleinere der beiden Männer noch höflich gefragt, bevor er die Figur vorsichtig in seine Hände genommen und mit einem staunenden Zögern über das Gewicht der Plastik hochgehoben hatte – um sie besser betrachten zu können, wie Westphal zunächst noch gedacht hatte. Komisch, auch das hatte Westphal noch gedacht, dass die Herren ihre Handschuhe nicht ausziehen, andererseits auch klar, denn bei der Eiseskälte draußen … Doch der Mann hatte die Figur nur deshalb hochgehoben, um sie Westphal besser auf den Schädel schlagen zu können. Dann war alles sehr schnell gegangen. Westphal hatte gar keine Zeit gehabt, die Sternchen zu zählen, die vor seinen Augen irrlichterten. Die Männer hatten ihm auch nicht gegönnt, bewusstlos zu werden, sondern sofort klargemacht, in wessen Auftrag sie kamen, und warum man leider in Zukunft keinerlei Wert mehr auf die Geschäftsbeziehung zu ihm legen würde. Genauer gesagt, dass niemand mehr in Zukunft mit Westphal eine Geschäftsbeziehung haben werde. Sie hatten dabei leise und wohlakzentuiert gesprochen, ganz anders als die Typen, die in Fernsehkrimis immer die Drecksarbeit erledigten. Besonders der große jüngere Mann, der so schnell und urplötzlich seine Worte mit dem Stiletteinsatz unterstrich. Der kleinere hatte immer noch die Ife-Figur in den Händen, drehte und wendete sie, stets ein Glimmen der Bewunderung in den Augen.

»Bitte«, keuchte Westphal und löste eine Hand von seinem Bauch, weil er das Blut, das von der Platzwunde am Kopf in sein linkes Auge rann, wegwischen wollte. Da das Blut aber sofort stärker aus seinem Bauch schoss und dabei dem Stilettmann auf die hochglanzpolierten Schuhe tropfte, was der mit einem verärgerten Seufzer zur Kenntnis nahm, kniff Westphal lieber sein Auge zu und presste die Hand wieder auf den Bauch. »Nehmen Sie die Figur. Nehmen Sie sie! Ich schenke Sie Ihnen, sie ist mehr Geld wert, als Ihnen Ihre Auftraggeber zahlen! Nehmen Sie sie und gehen Sie, bitte!«

»Aber Herr Doktor«, sagte der Stilettmann mit süffisantem Lächeln. »Wollen Sie uns etwa bestechen?«

Doktor Sönke Westphal – auf seinen Titel hatte er stets enormen Wert gelegt, hatte er ihn sich doch hart mit einem schrecklichen Jahr der Feldforschung bei den Ndjamele erarbeitet, jenem wenig erforschten kleinen Volk im mittleren Hochland Kameruns. Nach einem Jahr der Entbehrungen, des Hausens in einem ehemaligen Ziegenstall (mehr hatten ihm die Dorfältesten nicht zugestanden) und der Demütigungen, denn die Ndjamele sahen in ihm eine Art Kuriosum, einen Freak, der ihnen zur Belustigung diente – ja, tatsächlich hatte sich Sönke Westphal damals der Eindruck aufgedrängt, dass man ihn erforschte und nicht umgekehrt –, war Westphal mit der festen Überzeugung zurückgekehrt, dass diese Primitivlinge es eigentlich gar nicht verdient hatten, durch seine Arbeit Einzug in die Wissenschaft zu halten. Dabei hatte er sich so bemüht, den Eingeborenen nicht mit der Arroganz des besserwissenden Europäers gegenüberzutreten. Gewiss, die Ndjamele waren längst oberflächlich christianisiert und in die Strukturen der modernen Welt eingegliedert, doch dass ein Weißer freiwillig in einem Ziegenstall hauste, ihnen in die Kochtöpfe guckte, ihnen im stümperhaften Französisch Löcher in den Bauch fragte, zu Dingen, die für sie ganz selbstverständlich waren und keinerlei Erklärung bedurften, und dass dieser Weiße bei ihren Festen auch noch wie ein aufgescheuchtes Huhn mit Fotoapparat und Tonbandgerät herumlief, das war für sie eindeutig das Verhalten eines geistig Minderbemittelten. So hatten sie ihn auch behandelt.

Nun klang das »Doktor«, dieser mühsam erlittene Titel, aus dem Mund des Mörders wie blanker Hohn.

»Nennen Sie es, wie Sie es wollen«, stöhnte Westphal. Allmählich schwanden ihm die Kräfte. Ich verblute, wenn ich nicht schnell zu einem Arzt komme, dachte er, also verpisst euch endlich, ich habe meine Lektion gelernt. »Nur, lassen Sie mich bitte endlich in Ruhe. Bitte!«

»Winseln steht Ihnen nicht«, antwortete der Stilettmann ungerührt. Dann wandte er sich an seinen Kompagnon. »Gefällt Ihnen die Figur wirklich?«

»Sehr!«, erwiderte der Kleine. »Sehen Sie die feinen Ziselierungen hier an den Beinen. Das soll wohl ein Hosenmuster darstellen. Und schauen Sie mal, wie fein und realistisch die Gesichtszüge gearbeitet sind. Man möchte nicht meinen, dass es sich dabei um eine afrikanische Plastik handelt, die sonst doch eher einen extrem expressiven Charakter haben.«

Sie siezen sich! Mein Gott, da stehen zwei brutale Mörder und reden sich mit Sie an, dachte Westphal. Ich verblute und die beiden Bestien siezen sich, diskutieren über die unbestreitbare Qualität einer Ife-Figur und das auch noch in politisch korrekter Ausdrucksweise. Hilfe! »Hilfe!«, röchelte er laut.

»Glauben Sie, dass Sie hier jemand hört?«, fragte der Stilettmann und ließ dabei seinen Blick nicht von der Gesichtspartie der Figur. »Sehen Sie nur diese Lippen«, fuhr er dann fort. »Also, ich würde an Ihrer Stelle das großzügige Angebot von Doktor Westphal annehmen und die Figur behalten.«

»Meinen Sie?«, sagte der Kleine. »Das könnte man als Diebstahl auslegen. Nein, so schwer es mir fällt, ich lasse sie hier. Da habe ich meine Prinzipien.«

Er stellte die Figur vorsichtig auf den Tisch zurück.

Höfliche Bestien, die sich siezen und Prinzipien haben, dachte Westphal und wunderte sich über seinen Galgenhumor. Gleich würde es mit ihm vorbei sein. Abgestochen wie eine Sau. Es war gar nicht so, wie er es sich immer vorgestellt hatte. Von wegen ein Film würde vor seinem inneren Auge ablaufen und ihm sein Leben im Schnelldurchlauf präsentieren, charmant moderiert von einem ätherischen Engel. Auch kein Tunnel aus Licht weit und breit. Keine Sphärenklänge, keine Himmelschöre, nichts als das Schweigen der beiden Männer und das schnelle »platsch platsch platsch«, das sein Blut machte, wenn es auf dem Linoleumboden auftraf. Aische, seine Zugehfrau – die eigentlich gar nicht Aische hieß, sondern Fetmeh, aber weil seine erste türkische Zugehfrau Aische geheißen hatte, hatte er auch deren Nachfolgerin immer so genannt, und es hatte sie nie gestört – würde sich morgen gar nicht über die Sauerei freuen.

Westphal fiel wieder die Frau ein, die ihn damals mit dem vergilbten Foto besucht hatte und seinen Rat als Fachmann wollte. So hatte der ganze Schlamassel angefangen. Er hatte ihr die Wahrheit gesagt, nachdem er sich sicher war, dass sie wirklich nur ein Foto und nichts weiter hatte. Die Frau, sie war eine rassige Schönheit, das fiel Westphal nun wieder ein, hatte ihm aufmerksam zugehört, sich ein wenig in seinem Laden umgeschaut und zielsicher eine prächtige Mutter-mit-Kind-Plastik der Ndjamele aus dem Regal genommen. Sie hatten ihn ja eigentlich nie wirklich verlassen, die Ndjamele. Denn bevor er von seiner Feldforschung zurück nach Hause gekehrt war, hatte er ihnen noch einige herrliche Figuren abgekauft, und all die Jahre immer wieder Arbeiten von ihnen bezogen, die sich gut an Sammler verkaufen ließen. Auch wenn er von den Ndjamele sonst nie etwas gehalten hatte, ihre Kunst hatte eine Qualität, die ihresgleichen suchte. Nein, hatte die rassige junge Frau damals zu ihm mit traurigem Lächeln gesagt, zweieinhalbtausend Euro, nein, das könne sie sich beim besten Willen nicht leisten. Er sah sie jetzt noch vor sich, die Frau mit ihren langen dunklen Locken, den leuchtenden braunen Augen und dem sinnlichen Mund, wie sie in ihrem leichten Sommerkleid, das ihre Figur äußerst vorteilhaft betonte, dastand und die Mutter-mit-Kind-Statue an ihren Busen drückte, als plötzlich alles ganz hell wurde. Starkes Gegenlicht umhüllte die Frau. Klasse Weib, dachte Westphal, wie macht sie den Trick mit dem Licht nur? So kommen ihre Kurven prächtig zur Geltung.

Die sinnlichen Lippen öffneten sich. »Komm«, hauchte sie verführerisch. »Komm mit mir.«

Nichts, was ich lieber täte, dachte sich Westphal, beachtete nicht mehr die Männer, die nun eine kleine Holzstatuette, die Westphal bei näherem Hinsehen sicher sehr bekannt vorgekommen wäre, in die Blutlache stellten, und trat in das Licht.

02 »Ganz schöne Sauerei, was, Chef?«, sagte Kommissar Paul Freudensprung zu seinem Vorgesetzten, rieb sich die Augen und umrundete vorsichtig die große Blutlache.

»Hmmm«, brummte Max Pfeffer und kratzte sich nachdenklich am Kinn. »Der arme Kerl ist offenbar langsam verblutet.«

»Pfeffer!«, mischte sich die schwergewichtige Rechtsmedizinerin ein, die neben der Leiche kniete und bei der Arbeit munter vor sich hin rauchte. Pfeffer war sich fast sicher, dass die Spurensicherung den Tatort eigentlich noch nicht zum Rauchen freigegeben hatte. Doch die Pathologin rauchte immer und überall, sobald die Spurensicherung erste Anzeichen von Arbeitsende gab. »Willst du jetzt meinen Job machen? Wie und woran er gestorben ist, werde ich dir schon rechtzeitig mitteilen.«

»Schon gut, Pettenkoferin. Was ist los, Paul?« Pfeffer wandte sich wieder an Freudensprung. »Du siehst heut wieder aus, als hättest du eine Megaparty hinter dir. Fasching?«

Freudensprung rieb sich erneut die verquollenen Augen. »Nix ist los, Chef«, antwortete er übel gelaunt. »Hab nur schlecht geschlafen.«

»Schon wieder?«

»Schon wieder!«

»Wenn du irgendwelche Probleme hast …«

»Jaja, schon gut.« Paul Freudensprung winkte ab und grunzte. »Alles bestens, hab eben momentan Schlafprobleme.«

Max Pfeffer zuckte mit den Schultern. »Gut, zurück zur Arbeit. Wo ist die Frau, die ihn gefunden hat? Die Putzfrau, richtig?«

»Sitzt nebenan und heult«, sagte Freudensprung. »Kein Wunder, bei dem Anblick. Sie heißt Fetmeh Yilmaz, auch wenn sie dir gleich erzählen wird, dass du Aische zu ihr sagen kannst.«

 

Pfeffer umrundete die ausgeblutete Leiche und ging in das Nebenzimmer, eine kleine Teeküche. Selbst hier standen auf den Hängeschränken und den Ablagen afrikanische Plastiken unterschiedlicher Größe. Ein großer, offener Karton versperrte fast den Weg. Darin kleine Nagelfetische en masse, die auf Pfeffer richtig antik und wertvoll wirkten. Er hob einen heraus und drehte ihn in den Händen. Vielleicht ein gutes Geburtstagsgeschenk für den Kleinen, dachte Pfeffer, als er sich an der Kiste vorbeiquetschte. Neben dem neuesten Tomb-Raider-Spiel natürlich, das der sehnlichste Wunsch seines jüngeren Sohns war. Das virtuelle Busenwunder Lara Croft ballernd und tittenschwingend auf dem Computerbildschirm und ein unheimlicher Nagelfetisch auf dem Nachtkästchen. Der Kleine würde vor Freude an die Decke hüpfen.

Mit der Figur in der Hand näherte sich Pfeffer vorsichtig der Frau, die in der Ecke auf einem Stuhl zusammengekauert saß und einen Becher Kaffee mit den Händen umkrallte.

»Frau …«

»Yilmaz, Fetmeh«, unterbrach ihn die Frau mit schriller Stimme und sah zu ihm hoch. Sie mochte Ende dreißig sein, vielleicht Pfeffers Jahrgang, doch sie sah älter aus. Sie trug eine blaue Kittelschürze und ein farblich mutiges Kopftuch. Ihre Augen waren gerötet, aber trocken. Sie schluckte. »Sie können aber Aische zu mir sagen.« Ihr Deutsch war fast perfekt.

»Danke, Frau Yilmaz, ich glaube nicht.« Pfeffer ging in die Hocke, um mit der Sitzenden auf einer Augenhöhe zu sein. Psychologisch nie verkehrt. Bei Augenkontakt auf einer Höhe lügt es sich schlechter. Das mit dem In-die-Hocke-Gehen hatte er immer bei seinen beiden Söhnen gemacht, als sie ihn dabei noch nicht körperlich überragt hatten – lange her. »Frau Yilmaz, ich bin Kriminalrat Max Pfeffer von der Münchner Mordkommission.« Er hielt ihr pro forma seinen Ausweis unter die Nase. Gewohnheit. »Erzählen Sie mir bitte alles, was Sie wissen. Wann und wie haben Sie den Toten …«

»Doktor Westphal«, rief Fetmeh Yilmaz dazwischen.

»Wann und wie haben Sie Doktor Westphal gefunden. Lassen Sie bitte nichts aus.«

Sie ließ nichts aus. Pfeffer bereute beinahe, dass er sie dazu aufgefordert hatte. Nun, sie habe einen Schlüssel, weil sie meistens ganz früh zum Putzen komme, bevor der Laden aufmache. Ab und zu auch abends, nach Geschäftsschluss, gegen halb acht, denn Doktor Westphal würde selten länger als sieben seine Galerie offen haben. Je nachdem, wie es ihre anderen Putzstellen zuließen. So wie heute. Und da sei er gelegen und alles voller Blut, so entsetzlich viel Blut. Wie sie das nur je wieder wegkriegen solle! Nein, über das Geschäft und die Kunden von Doktor Westphal wisse sie nichts, gar nichts. Ja, Doktor Westphal sei nicht verheiratet gewesen. Keine Frau, keine Freundin, jedenfalls keine, von der sie wisse.

»Wissen Sie, Herr Kriminalrat«, sagte die Putzfrau, »man soll nie etwas Schlechtes über die Toten sagen und ich schäme mich auch dafür, aber Doktor Westphal war kein sehr guter Mann. Verstehen Sie?« Pfeffer verstand nicht. »Ein guter Mann hat eine Frau und eine Familie, für die er sorgt. Für ihn gibt es die Frau und keine andere Frau.«

»Und Herr Westphal hatte also andere Frauen? Obwohl er nicht mal eine hatte?« Pfeffer versuchte sich in die Argumentationslogik der Zugehfrau hineinzuversetzen. Klar, der Tote war ein Schürzenjäger.

»Er hatte nur andere Frauen.« Fetmeh Yilmaz richtete sich gerade auf, drückte das Kreuz durch und klemmte die Hände mit dem Becher zwischen ihre Beine. Tratschposition. »Er hat sogar mir nachgestellt, aber ich bin eine anständige Frau! Aber meine Vorgängerin, Aische, die hat hier nicht mehr arbeiten wollen, weil er sie so sehr belästigt hat. Und Aische ist sehr hübsch. Sie ist meine Nichte. Die Tochter meines zweitältesten Bruders Mehmet und die Schwester von Levent Demir. Sie wissen schon, der TV-Star.« Pfeffer wusste nicht, aber er nickte. »Da habe ich die Stelle übernommen. Meine Familie …«

»Ist Ihnen aufgefallen, ob was fehlt?«, unterbrach Pfeffer sie schnell, bevor sie auch noch ihre Familienverhältnisse detailliert vor ihm ausbreiten konnte. Sie hatte bestimmt eine große Familie mit Namen, die sich Pfeffer nicht würde merken können, selbst wenn er es gewollt hätte.

»Was fehlt?« Die Putzfrau starrte ihn verwundert an. »Oh, ich weiß, dass die Sachen hier viel wert sind. Auch wenn ich nicht verstehen kann, dass jemand für diese alten, hässlichen und schmutzigen Figuren viel Geld ausgibt.« Pfeffer nickte zustimmend und unterdrückte ein Lachen. »Ich habe Doktor Westphal ja immer angeboten die Sachen zu waschen, ich hätte sie richtig sauber bekommen. Picobello, so sagt die eine Frau immer, für die ich auch putze. Picobello sauber. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, was picobello bedeutet, aber ich hätte die schmutzigen Figuren hier richtig picobello sauber gemacht. Doch Doktor Westphal hat ständig ›Unterstehen Sie sich‹ gerufen. Aische hat immer gesagt …«

»Danke, Frau Yilmaz, Sie haben mir sehr geholfen«, verabschiedete sich Pfeffer hastig. »Wenn Ihnen vielleicht doch noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte an.« Er überreichte ihr seine Visitenkarte und ließ Fetmeh Yilmaz in seine rehbraunen Kuschelaugen fallen. Wenn es etwas an ihm gab, das bei Frauen nie seine Wirkung verfehlte, dann waren es seine dunklen, samtigen Augen. Und sein volles Haar, das, obwohl er die Vierzig noch vor sich hatte, bereits vollständig ergraut war. Sein Friseur versuchte seit Jahren, ihm eine »Auffrischung« der alten Haarfarbe unterzujubeln. Angeblich ganz natürlich. Keine Tönung, nur ein Mittel, das die Farbpigmente wieder reaktiviert. So wie es der Kanzler macht. Doch Max Pfeffer stand zu seinem Grau, das im krassen Kontrast zu seiner beinahe faltenlosen Haut stand. Der Kriminalrat war nicht ganz Einsfünfundachtzig und nicht unbedingt der Allerattraktivste, da machte er sich nichts vor. Manchmal, ziemlich selten, litt er ein wenig darunter. Im Sommer konnte er vielleicht einen gewissen Frauentyp mit knapper Kleidung beeindrucken, die seine sehr athletische Figur und vor allem seinen wirklich präsentablen Hintern betonte. Aber egal welches Wetter und wie dick die Kleidung – der Kuscheleffekt seiner dunklen Augen wirkte auf Frauen immer, und sei es nur, dass er sie verwirrte. Nur, dass Pfeffer sich so rein gar nichts aus Frauen machte.